Eine öffentliche Haut

Im Farbfieber Eine Gruppe von Malern aus Düsseldorf findet weltweit Partner für politische Bilder an Häusern und Mauern

Im Hof ist die Wand rot, das Tor zum Atelier gelb, hellblau ein alter Kadett, dessen Rücksitze und Kofferraum voller Pakete mit Vollton- und Abtönfarben liegen. Dem Namen Farbfieber wird schon hier Tribut gezollt. Im Atelier ist der Betonboden mit Holzplatten ausgelegt. Aha, sage ich, eine glatte Fläche zum Arbeiten - zum Tanzen, korrigiert mich Klaus Klinger. Und das mag ein zweiter Tribut an die Idee des Ganzen sein: Wandmalerei im Sinne dieser Düsseldorfer Gruppe ist komplexes Geschehen - internationale Begegnung mit Künstlern aus anderen Ländern und den Bürgern der Orte die feste Regel. Die Maler kommen oft aus Lateinamerika, auch aus Afrika und anderen Kontinenten, sie bringen garantiert das Tanzen mit, wenn es noch gefehlt haben sollte.

Wie ein Eulenspiegel

In diesem bunten Hof lagerten vor längerer Zeit einmal Fässer mit dem runden Radioaktiv-Zeichen, als die Wandmaler politische Installationen für den Karnevalszug bauen, ohne Anmeldung und Zensur. Acht oder neun Jahre lang hintereinander lauern die Akteure mit ihren Masken und Geräten an geeigneter Stelle dem Zug auf und stellten sich voran, von Hunderten Sympathisanten begleitet. Polizeiautos fahren mit quietschenden Reifen vor und versuchen, sie wegzuzerren, was jedoch an einem rheinischen Rosenmontag unmöglich ist.

Die Motive wechseln, in jenem Jahr sind es die Atommülltransporte in die sogenannten Zwischenlager. Einige Tage nach dem Karneval klingeln zwei Beamte, ein Dicker, ein Dünner, wie im Slapstick. In drohendem Ton erklären sie Klaus Klinger, der neben dem Atelier seine Wohnung hat: Sie kämen von der Unteren Wasserbehörde, ein Anruf habe sie erreicht, da seien verdächtige Fässer. Ja, entgegnet Klinger geistesgegenwärtig und ungerührt, die würden ihn auch beunruhigen. Die beiden machen sich gegenseitig klar, dass sie Geigerzähler brauchen. Bald rauscht tatsächlich ein Wagen mit Polizeibeamten und Fachleuten an, mit ihnen die ersten Lokalreporter, und es sammeln sich Anwohner. Die Leute mit dem Geigerzähler müssen nur einen Blick auf die Fässer werfen, um die Lage zu durchschauen, sie zischen vor Wut, die übrigen Anwesenden sind begeistert von der Einlage.

Während Klaus Klinger das erzählt, unaufgeregt, mit einem Lachen, das wohltuend leicht aus ihm tönt und mit dem er vielleicht oft zögernde Leute für seine Vorhaben gewinnt, wird allmählich klar, dass die Eigenschaften eines Eulenspiegel nötig sind, um dieses langfristige Projekt einer international angelegten Wandmalerei durchzuhalten. Kein Respekt vor Autoritäten, das ist erste Voraussetzung wie auch Mut zum Risiko. Die Parteinahme für die unteren Klassen der Gesellschaft ist Bedingung, ohne sie aber zu idealisieren. Weder darf die Lust am Spott erlöschen noch die Bereitschaft zum ewigen Wandern. Es bedeutet, seine Sache zu machen, irgendwo in der Welt mit den unterschiedlichsten Menschen, die sich beteiligen - und dann wieder weiterzugehen, nicht kleben zu bleiben. Wie ein Eulenspiegel.

Der Anfang der Internationalität entsteht 1987 auf einer riesigen Brandmauer in der Düsseldorfer Rochusstraße, es ist die erste Arbeit dieser Art. Thema ist der von den USA finanzierte Krieg gegen das sandinistische Nicaragua. Mit Hilfe von Solidaritätsgruppen wird der Künstler Alejandro Canales eingeladen und malt einen monumentalen Bildteppich mit Motiven aus dem Leben der Volkes, in das ein Panzer einbricht, naturalistisch gemein von Klaus Klinger hinzugefügt. Die Akteure gründen anschließend den Verein Farbfieber, der ab 1999 als Initiative Mural Global ihre Arbeiten besonders dem Leitmotiv "Agenda 21" widmet. Prinzip ist die Zusammenarbeit mit Künstlern aus einem Partnerland. 85 Wandbilder - vor allem in Deutschland, aber auch in Senegal, Namibia, Indien, USA, Kuba, Brasilien und Mexiko - sollen mit den Jahren entstehen.

Je stärker der Begriff Globalisierung in den Mittelpunkt aller Debatten rückt, desto überzeugter war und ist die Gruppe von ihrer Methode, von gleichberechtigter Zusammenarbeit und Dialog. Bei den vielen gut gemeinten Konferenzen bleiben die Leute aus Europa und Nordamerika mit ihren Vorstellungen unter sich, und diese Vorstellungen verkünden sie so laut, dass Ideen aus den ärmeren Ländern übertönt werden.

Zweiköpfige Regenschlange

In Ahaus, einer Stadt mit 20.000 Einwohnern westlich von Münster, streitet man um eines der sogenannten Zwischenlager für Atommüll. Eine Bürgerinitiative suchte Kontakt zu den Wandmalern. Sie wünscht sich, dass ein australischer Aborigine bei ihnen etwas malt. Im Internet sind sie auf Informationen über deren Kampf gegen Uranminen gestoßen, die mit ungeheuren Abfallhalden das den australischen Ureinwohnern zuerkannte Land überziehen und bei Stürmen verseuchen. Die Australier wehren sich gegen den Abbau des Urans, sie stehen am Anfang der Kette - die Ahauser mit ihrem Protest gegen die Lagerung des radioaktiven Abfalls am Ende.

Tatsächlich findet Farbfieber den Künstler Gordon Hookey, einen Aborigine, der von einer australischen Galerie vertreten wird und zwischen der urbanen Welt und seinen Angehörigen in fernen Dörfern wechselt.

Die Stadtverwaltung von Ahaus aber hat sich mit den AKW-Betreibern längst arrangiert. Zur Belohnung wird die Eisenbahnstrecke vom Bund großzügig ausgebaut, der Stadt ein Stadion und ein solargeheiztes Schwimmbad, geschenkt. Warum es sich mit den Gönnern verderben? Die Behörden glauben durch eine beharrliche Verhinderungsstrategie den Plan der Bürgerinitiative vereiteln zu können, aber schrecken auf, als ein Industrieller seine 70 Meter lange Fabrikmauer am Bahnhof zur Verfügung stellte, sie sogar abschleifen lässt und ein Gerüst stiftet. Nun kommt nur noch die Strategie des Mitmischens und Eindämmens in Frage. Ein Muster, das sich an vielen Orten wiederholt: Die Entwürfe sollen vorgezeigt und genehmigt werden, fordern die Beamten, die erstmals zum Gespräch auftauchen und Kooperationsbereitschaft vorgeben. Nein, weisen die Wandmaler das Ansinnen ab, erst am Ort werden die Bilder von den Künstlern in aller Öffentlichkeit entwickelt, ausgestellt, diskutiert. Dieses Prinzip wird auch hier nicht gebrochen. Den Stadtoberen bleibt nur noch die Nichtbeachtung.

Hookey fliegt nach Europa, voller Unsicherheit, auf was er sich eingelassen hat. Dann erfindet er gemeinsam mit Klaus Klinger die "zweiköpfige Regenschlange". An dieser Stelle des Textes wäre ein lange, aufregende Erzählung über die sprachliche und ästhetische Verständigung, über Irrtümer und Freundschaft möglich. Sie könnte vom Ringen um politische Radikalität handeln und von der Begegnung zwischen Künstlern, Helfern und Anwohnern. Denn jedes Wandbild ist ein Abenteuer.

Die Ästhetik dieser Malerei beruht auf Montage und Collage, auf einer Sprache von vertrauten Symbolen. Die Lösungen sind plakativ, seien sie realistisch oder stark stilisiert wie Verkehrszeichen. Doch es bleibt unbekannt, wie viele Passanten die Zeichen zu entziffern vermögen. Die Künstler akzeptieren, dass sie die Wirkung nicht steuern können. Während sie am Bild arbeiten, versuchen sie so viele Kontakte mit den Anwohnern zu knüpfen wie nur möglich. Sie leben in der Zeit der Arbeit, die oft bis zu acht Wochen dauert, quasi öffentlich, sie essen dort und feiern am Ende bei der Übergabe des Bildes. Wie aber wird es wahrgenommen, wenn irgendwann der Anlass des Bildes in Vergessenheit geraten ist?

Otto Schilys Ohr

Es gab einmal in einer Radiosendung einen Test: Eines der Wandbilder in Düsseldorf behandelt den zäh umkämpften, später vollendeten Abriss der am Rhein gelegenen Wohnhäuser des Stadtteils Bilk. Eine Riesenhand greift in eine Häuserzeile wie in eine Zahnreihe und bricht ein Haus heraus. Drüber schweben Fernsehturm, Landtag und weitere an dieser Stelle geplante Großbauten. Zehn Jahre später befragt eine Radioreporterin zehn Leute zu diesem Bild. Nur zwei erinnern sich an den Anlass und erklären ihr die Motive, die übrigen wissen nichts, ihnen fällt auch zum Bild kaum etwas ein.

Klinger macht die Beobachtung, dass große Scheu vor dem Sprechen über Bilder herrscht. Es fehlt an Übung, meint er, man kommuniziert kaum über Bilder, Meinungen gelten als Geschmackssache. Mit einer Aussage über Inhalte fürchtet man, sich lächerlich zu machen. Die Folge ist möglicherweise Flüchtigkeit beim Hinschauen. Als genüge es, Farben und einzelne Motive wahrzunehmen, als gäbe es keinen Zusammenhang, keinen Sinn. Klinger dazu: "Ich denke mir, unsere Botschaft ist da, aber ob sie entdeckt wird, muss für uns offen bleiben."

1979, zwei Jahre nach dem "deutschen Herbst", malen die Wandmaler am Düsseldorfer Hellweg, einer Ausfallstraße, ein Auge auf die Brandmauer eines Hauses und auf der anderen Straßenseite ebenso groß ein Ohr. Das Ohr gehört dem besessenen RAF-Fahnder Horst Herold. Die Wandbilder sind von den heftigsten Debatten begleitet, auch in der damals aktiven Mieterinitiative des Viertels. Wem ihre politische Botschaft verschlossen bleibt, sucht sich eine eigene Deutung. So sagt damals der Chef der Mieterinitiative: "Für mich symbolisieren das Auge und das Ohr, dass wir wachsam sind und uns von der Stadt nicht übers Ohr hauen lassen." Andere Anwohner sagen: "Durch die Bilder werden die Autofahrer darauf aufmerksam gemacht, dass hier Menschen wohnen und empfindliche Sinnesorgane haben, und dass sie Rücksicht nehmen sollen."

Jetzt gibt es kaum noch solche Mieterinitiativen oder Bürgergruppen. "Alles weg", sagt Klinger. Die Enttäuschung darüber hat er längst hinter sich. Herolds Ohr wurde nach 24 Jahren durch eine Schicht Wärmedämmung überdeckt und kürzlich tatsächlich neu gemalt. Die Wohnungsgesellschaft selbst erteilte den Auftrag. Diesmal ist es das Ohr von Otto Schily. Warum er heute der große Aushorcher ist, was er politisch verantwortet, erklärt die Gruppe gleich mit. Wieder hat sie die Stadt verblüfft.

Wie in den Städten eine "öffentliche Haut" von Wandmalern geschaffen wird, auch von den Graffiti-Sprayern, die aber verborgen bleiben, wie "ein melting pot der künstlerischen Bildsprachen" als politische Manifestation und Gegenpol zur Werbung entsteht, das interessiert Reinhard Spieler von der Kunstsammlung NRW, der sich in einem Aufsatz mit Klingers Arbeit auseinandersetzt. Die Tradition kommt aus dem Mexiko der zwanziger Jahre. Riviera, Siqueiros und Orozco begründeten sie: als Aufklärung für das Volk, zur Stärkung seines Selbstbewusstseins. In Deutschland beginnt alles erst in den siebziger Jahren.

Turmbau zu Babel

Im Columbus-Jahr 1992, gegen die heuchlerischen Feiern zur Entdeckung Amerikas, entstehen in 40 europäischen Städten Wandbilder. Damit ist - von Farbfieber angeregt - eine Vernetzung von Gruppen in Europa verbunden. Gelder und Sachspenden für solche Projekte kommen immer wieder von den Städten, Stiftungen, Parteien, Institutionen, Firmen, Vereinen. Vieles basiert auf ehrenamtlicher Arbeit. Künstler aus Nicaragua, Kuba, Mexiko, Kolumbien, Chile, Argentinien, Peru, Brasilien und Kanada werden nach Europa eingeladen zu den Arbeiten, die sie unter das Motto "500 Jahre Eroberung und Widerstand" stellen.

1998 gründet sich die internationale Initiative Mural Global, 1999 übernimmt die UNESCO die Schirmherrschaft über das Projekt - 2002 erhält die Gruppe vom Fonds Soziokultur den mit 10.000 Euro dotierten Preis für Innovation.

Wie das alles möglich ist? Städtepartnerschaften können genutzt werden, das Talent zum Besorgen von finanziellen Mitteln ist unabdingbar wie auch eine Öffentlichkeit, die solche Wandbilder wünscht. Es gibt diese Teile der Gesellschaft noch, sie entstehen immer wieder, auch wenn es in der entpolitisierten Atmosphäre kaum zu glauben ist. Die Medien hingegen ignorieren die Vorhaben meist, ihre Verweigerung nimmt zuweilen groteske Züge an, sie schweigen, auch wenn schon die halbe Stadt über eines der gemalten Ereignisse diskutiert und kommen oft erst, wenn die Bürgermeister auftauchen. Die öffentliche Wahrnehmung ist voller Widersprüche, so wie sich auch Anerkennung und Empörung seltsam mischen: 1989 muss der Direktor des Düsseldorfer Stadtmuseums, Wieland Koenig, eine hysterische Kampagne durchstehen, die mit einer Kündigungsdrohung einher geht, weil er die Wandmaler mit verschiedenen satirischen Exponaten in sein Museum holt.

Mit einem gewissen Trotz wollte Farbfieber in Düsseldorf, im Zentrum der eigenen Stadt, ein unübersehbares Zeichen setzen. Vor dem neuen Landtagsgebäude von NRW steht ein Parkhaus, gebaut von Mannesmann, übernommen von Vodafone. Mit den Inhabern verhandelt Klinger nacheinander über zwei Jahre. Und eines Tages kommt ein Ja: zwar dürft ihr nicht malen, aber eine Installation auf der Fassade anbringen. Neun Wochen lang arbeiten Künstler aus Brasilien, Kuba, Simbabwe und Deutschland, ein Zelt wie ein offenes Atelier steht auf der Wiese. So entsteht auf 1.000 Quadratmetern Fläche eine riesige Bildinstallation auf Holzbrettern, ein internationales Armenviertel wie ein Turmbau zu Babel. Viele Geschichten von Flucht, Überleben, Nachbarschaft sind in diesem Bild versteckt. Auch die Leute, die auf dem Terrain einst wohnten und deren Häuser abgerissen wurden, kehren zurück. Von der Stadt der Armen führt ein Weg, gepflastert mit Symbolen aus verschiedenen Kulturen, zu einer großen leuchtenden Scheibe, die ist mit Blattgold belegt.

Zu "Moral Global" liegt ein umfangreicher Katalog vor. Siehe auch: www.mural-global.org

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