Sie wird zur Geschäftsführung gerufen. "Wir möchten Ihnen etwas mitteilen, es ist nicht erfreulich, aber wir haben vor, einige Standorte zu schließen." Niemand werde entlassen, doch die Betroffenen müssten künftig umziehen oder pendeln. Das ist ein Schlag vor den Kopf der Gesamtbetriebsratsvorsitzenden. Sie ist erst drei Monate im Amt.
Zu ihrer Firma Sparkasseninformatik (SI) gehören zu diesem Zeitpunkt 3400 Beschäftigte, meist Informatiker, die in sieben Standorten für die Sparkassen die Software erstellen. Heike Stiels ahnt noch nicht, dass sie mit einem Teil von ihnen einen Streik durchstehen wird, der sie alle verändern wird. Es sind 19 Wochen vom April bis September 2007.
Aber zuerst fährt sie wie betäubt nach Hause. Wie soll sie auftreten? In ihrem "Standort" Duisburg/Köln mit seinen 800 Mitarbeitern ist sie schon seit langem im Betriebsrat, jetzt aber hat sie eine neue Rolle. Sie ist auch in der Gewerkschaft, als eine von wenigen. Die IT-Spezialisten, mit denen sie im Rechenzentrum der Sparkassen arbeitet, haben nie gedacht, dass sie nach Gewerkschaften rufen und streiken würden - hochqualifizierte Individualisten mit dem Bewusstsein, zu den Leistungsträgern des Landes zu gehören. Sie sind auch bereit, viel zu leisten. Nächte und Wochenenden sind kein Thema. Sich für die Firma stark zu engagieren, gehört dazu.
Im Gesamtbetriebsrat sitzen von jedem Standort zwei Vertreter - aus Münster, Duisburg-Köln, Frankfurt, Karlsruhe, Mainz, Stuttgart, München. Heike Stiels weiß, zuerst wird jede oder jeder ans eigene Nest denken. Gemeinsam aufzutreten, haben sie selten geübt. Schon bei den Fusionen der vergangenen Jahre konnte ein Betriebsrat im Brustton der Überzeugung sagen: "Solidarität kann doch nicht sein, dass wir bei uns Opfer bringen, weil ihr am anderen Standort Probleme habt. Ich muss die Interessen der Kollegen hier vertreten." Die Standorte und ihre Animositäten ließen sich gegeneinander ausspielen.
Sie ist ratlos, auch wenn sie eine echte Ruhrgebietspflanze ist, der soziale Kämpfe nicht fremd sind. Als Kind wohnte sie mit ihrer Mutter in Oberhausen, in der Bergarbeiterwohnung der Großeltern, in einem kleinen Zimmer an der Küche. Jetzt lebt sie in Essen. "Wollen wir zum Abendessen nach Oberhausen fahren?", bietet sie an. Die Orte liegen nah beieinander. Ihre Mutter hatte mit 18 geheiratet, mit 19 die Tochter geboren und sich mit 20 scheiden lassen. Aber Heike war wohlbehütet, es ging bei den Großeltern nicht kleinlich zu, bei aller Enge. Der Großvater gehörte zu den Spartakisten. Das erfuhr Heike aber erst, als sie 15 oder 16 war, in der 68er Zeit, als diese verdrängten Geschichten aus den Arbeiterkämpfen nach dem Ersten Weltkrieg wieder ausgegraben wurden. Da war sie auf ihn stolz. Die Mutter gab ihren Beruf als Verkäuferin auf und ging in die Fabrik, wo sie mehr verdiente, damit Heike die Schule besuchen und studieren konnte. Beide sind gute Freunde, auch heute. Heike wurde Programmiererin. In einer modernen Siedlung mit freundschaftlichen Nachbarn hat sie ein Haus, ihre zwei Kinder leben in der Nähe und haben noch Zimmer bei ihr. Sie hat zwei Ehen hinter sich, einen neuen Partner, den sie an den Wochenenden trifft. Dafür fahren beide abwechselnd weite Strecken, sie im dunkelroten, alten Mercedes.
Was kann sie als Gesamtbetriebsratsvorsitzende gegen den Plan setzen, Standorte ganz zu schließen? Angefangen hat alles mit einem Gutachten der Unternehmensberatung Booz Allen Hamilton und folgendem Szenario: Wenn die SI die Standorte Köln-Duisburg, Mainz und Karlsruhe schließt, werden von den 3.400 Mitarbeitern 700 von sich aus gehen. Die Zauberformel "Personalkosten sparen ohne Entlassungen" leuchtet vor der Geschäftsführung auf. Heike Stiels ist dabei, als im Aufsichtsrat das Gutachten vorgestellt wird. Ihr fällt sofort der Denkfehler auf: "Es werden doch nicht die gehen, die Sie vielleicht loswerden wollen. Es gehen diejenigen, die wieder einen Job finden, und das sind meistens die Keyplayer. Sie werden quasi die Falschen gehen lassen, das macht doch keinen Sinn!" Die Betriebsräte holen ein Gegengutachten ein. Sie haben gute Argumente: In Karlsruhe besitzt die Firma Immobilien, die erst verkauft werden müssen, in Duisburg gibt es langfristige Mietverträge, die erst aufgelöst werden müssen. Die Computer-Arbeit kann man von allen Orten aus machen, es ist egal, wo die Leute sitzen, man muss sie nicht herumschieben.
Der Aufsichtsrat behandelt das Papier gar nicht. Unter vier Augen sagen einzelne, dass sie es vernünftig fänden. Das Gegengutachten in den Belegschaften zu verteilen, wird den Betriebsräten untersagt. Der Vorstand tritt von nun an ungehemmt als "Herr im Hause" auf.
Am Anfang verlässt sich Heike Stiels auf das Prinzip Offenheit. So ist ihr Wesen, so auch ihr Credo im Betriebsrat. Sie informiert fortlaufend die Mitarbeiter, formuliert im Betriebsrat ihre Forderungen, drängt auf eine Strategie, die alle verstehen. Sie bereist verschiedene Standorte und überzeugt die jeweiligen Betriebsräte. Und da stellt sich heraus, dass sie in dieser zugespitzten Lage einigend wirken kann, nur sie. Die Welt der Betriebsräte ist nicht idyllisch, es gibt Rivalitäten, Cliquen, Kämpfe um Pfründe, regionalen Egoismus.
Währenddessen wird sie bei den 3.400 Beschäftigten immer populärer. Sie weckt Sympathie, weil sie kein Blatt vor den Mund nimmt. Sie sagt es. Man vertraut ihr. Man mag ihren Charme ohne Koketterie. Sie ist keine Trickserin, aber durchschaut die Tricks. Sie verblüfft immer wieder damit, wie sie die ständig wechselnde Lage klar erkennt und neue Schritte denkt. Das hatte sie von sich selbst kaum gewusst.
Die Betriebsräte wenden sich an die Bürgermeister, sie gehen zur Regierung Nordrhein-Westfalens, hoffen auf politischen Beistand. Als nichts hilft, trommeln sie die Leute in Köln-Duisburg zu einer Betriebsversammlung zusammen. An die 400 sind im Saal. Überraschend rufen sie nach den Gewerkschaften, das Wort Streik fällt. Am Ende der turbulenten Versammlung kommt die Frage: "Seid ihr bereit, zu streiken?" Alle bis auf eine Abteilungsleiterin stimmen dafür.
"Ich konnte die Kollegen kaum wiedererkennen", erzählt Heike Stiels. "Es sind viele in die Gewerkschaft eingetreten. 60 Prozent bei uns, in Karlsruhe ähnlich, in Mainz 90." Für die Gewerkschaft, die anfangs zögerlich ist, weil sie hier kaum Mitglieder hat, gibt es nun kein Zurück mehr. Verdi organisiert den Streik.
Diese Hightech-Spezialisten haben lange gezögert, aber als sie in den Streik treten, sind sie phantasievoll und hartnäckig. Ihr Werdegang ist nicht gleich, da sind Banker oder Sozialwissenschaftler, die sich weitergeschult haben, Doktoren der Germanistik und Diplominformatiker. Sie stehen vorm Tor, sind Streikhelfer, verteilen Flugblätter, sammeln Unterschriften, alles, was bei solchen Aktionen anfällt. Im Internet wird jeder Streiktag reflektiert. Sie ziehen durch die Innenstädte zu den Sparkassen, jeden Tag zu einer anderen, die Sparkassenangestellten kommen auf die Straße. Sie veranstalten Spiele mit den Passanten, erfinden Lieder. Heike Stiels ist immer mit dem Megafon dabei. Ihre kräftige Stimme mit einem Unterton von Ruhrplatt ist überall zu hören.
Früher nannte Geschäftsführer Neumann sie freundlich Schwester Teresa. Sie wehrte sich dagegen, nur als Mildtätige gezeichnet zu werden. Im Streik sagt Neumann: "Mit Ihnen rede ich nicht mehr, Sie sind ein Agitator. Sagen Sie nicht, dass es nicht stimmt, ich habe Sie selber gesehen. Da unten haben Sie auf dem Lkw gestanden und zu den Leuten gesprochen." Sie lacht. "Ja, habe ich geantwortet, ich habe einfach eine Rede gehalten."
An jenem Tag sammelten sie sich am Firmensitz in Frankfurt. Davor eine vierspurige Straße, über die eine Fußgängerbrücke führt. "Über diese Brücke sind die Leute gekommen", erzählt Heike Stiels, "sie haben sich vor dem Gebäude aufgestellt, es waren 600, schon eine ganze Menge. Der damalige Personalchef stand auf der Brücke und hat zugesehen. Ich habe in meiner Rede zum Schluss gesagt: Wir können in den Spiegel gucken, aber der Herr da oben auf der Brücke, der kann das nicht! Das habe ich gesagt. Das war natürlich recht demagogisch, damit habe ich erreicht, dass die Leute alle gepfiffen haben, und der Personaler ist schnell verschwunden."
Während des Streiks laufen die Verhandlungen um einen Tarifsozialplan. Tagelang, am Wochenende, in den Nächten. Zwischendurch muss sie den Streikenden, die draußen warten, etwas sagen. Dann fährt sie zu den neuen Verdi-Betriebsgruppen, von Frankfurt nach Köln, mit zwei, drei Stunden Schlaf. Die Geschäftsführung zieht vor Gericht gegen Verdi - und verliert. Sie schickt trotzdem zu allen Aktionen Leute, die die Namen der Beteiligten aufschreiben. Die Nicht-Streikenden sind gereizt, weil sie die Arbeit der anderen mitmachen.
Als der Streik zu Ende ist, gibt es den ersten Tarifsozialplan in der Branche und eine Reihe von Erleichterungen, auch eine anständige Abfindung für jene, die kündigen. Doch die Standorte zu erhalten, gelingt nicht, nur in Köln mit 100 Beschäftigten, begrenzt auf vier ein Viertel Jahre. Weitere Schließungen wird es jedoch nicht geben. Noch einmal so einen Kampf will sich die Geschäftsführung nicht zumuten, das ist erkennbar.
Von den Streikenden kommt kein Ton des Bereuens. "Das sind Menschen, die machen nicht andere für sich verantwortlich", sagt Heike Stiels über ihre Kollegen. "Sie brauchen lange, bis sie aktiv werden, halten auch Distanz, aber wenn sie sich bereit erklären, dann geschieht das in ihrem Kopf und sie schieben nicht andere vor. Es war ihr Entschluss. Die sagen nicht zum Betriebsrat, ihr habt uns reingeritten. Sie haben nicht nur gestreikt, um ihren Standort zu erhalten, sondern auch für ihre Würde. Einige haben die Firma verlassen, weil sie meinen, sie können sich nicht mehr mit ihr identifizieren. Ja, manche waren unheimlich enttäuscht über den Ausgang, andere sagen, wir haben viel erreicht. Wenn wir mehr gewesen wären, hätten wir noch mehr erreicht."
Ab 2011 aber sind "Einschnitte" angekündigt - eine Reduzierung der Beschäftigtenzahl. Bis zu diesem Jahr 2011 liegt noch eine vertragliche Beschäftigungsgarantie vor, auch im Falle von Schließungen. Der Vertrag ist ein Zugeständnis an die Betriebsräte aus der Boom-Zeit der Informationstechnologie - sie war lange das Neue, überwältigend Moderne, die Zukunft. Bis die IT-Blase, wie es nachträglich heißt, um die Jahrtausendwende platzte. Noch immer wird in der Branche gut verdient, Arbeit lässt sich finden, nur für Ältere wird es schwieriger. Die Mitarbeiter fragen nun, was machen wir ab 2011, wenn die Vereinbarungen auslaufen und die Arbeitsplätze nicht mehr garantiert sind? Sie wollen nicht mehr passiv bleiben.
Ein Jahr später: Statt 700 haben 300 gekündigt. Die verlassenen Gebäude sind bisher nicht verkauft und stehen leer. Für Millionen wurde in Fellbach und Münster neu gebaut. Heike Stiels fährt nun täglich in ihrem breiten roten Auto 100 Kilometer nach Münster, wie fast 400 ihrer Kollegen aus Duisburg. Ihre Betriebsratsämter hat sie durch die Schließung ihres Betriebes sofort verloren. Das sind die Regeln des Betriebsverfassungsgesetzes. Denn den Betrieb, der sie gewählt und in den Gesamtbetriebsrat delegiert hatte, gibt es nun nicht mehr. In ihrem Flur zu Hause lehnen Bilder aus ihrem früheren Büro. Sie überlegt, eine Wand zwischen Küche und Zimmer herauszubrechen. Mehr Licht. Für den Betriebsrat wird sie sich in Münster wieder zur Wahl stellen.
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