Durch verschlammtes Gebiet muss man hindurch, um zu den festeren Gründen der Ost-West-Animositäten vorzudringen. Alle lieben ihre Vorurteile, ihre Klischees, ihre Sprüche. Man bekommt sie ohne viel Nachfragen zu hören, und sie wirken: Man bescheinigt sich "arrogant" - "träge" - "geldgierig" - "provinziell" - "berechnend" oder "unterwürfig" zu sein. Die Vorurteile sitzen fest, sie kränken und erbauen. Auch die Medien können mit ihnen bestens umgehen. Niemand gibt eigene Ressentiments gern auf. Sie dienen der Orientierung, sind der Strohhalm im Fluss, an dessen Rändern im Sog der Vereinigung alles Mögliche ins Rutschen kam, auch die Selbstbilder der Westdeutschen, deren Identität sich nicht zuletzt in Abgrenzung von der DDR gebildet hatte. Bei den Ostdeutschen gab es schließlich eine ungeheure Bereitschaft, sich auf das Neue einzulassen und zugleich etwas Eigenes einzubringen. Das ging ins Leere und wurde kaum abgerufen.
Von der Wende und der DDR wissen nur noch wenige etwas, stellt Marianne Birthler vorwurfsvoll fest. Ihre Behörde will eine Aufklärungskampagne initiieren - nicht über die emanzipativen Seiten der DDR und die dort entstandene Bürgerbewegung, sondern über die negativen Züge des verschwundenen Staates. Angeblich geraten sie in Vergessenheit. Welche Sorge! Ja, idyllische, verklärte Erinnerungen kommen vor, werden auch weitergegeben. Aber richten die wirklich Schaden an? Stören sie etwa die demokratische Entwicklung? Darf man solche Bilder nicht einmal genauer betrachten, müssen sie eliminiert werden?
Die DDR lebte ähnlich wie die BRD von einer angepassten, teilweise entpolitisierten Bevölkerungsmehrheit, aber immer auch von ihren Idealisten, die den Sozialismus wirklich wollten, der als Idee lange vor der DDR existierte und nicht mit ihr verschwand. Wahrscheinlich irritiert gerade das. Denn auch die kapitalistische Bundesrepublik möchte ihre überzeugten Verfechter und Anhänger haben. Sie kommt entgegen ihrem Selbstbild nicht ohne bekennende Ideologen aus.
Aber es geht gar nicht nur um Ideologien, Enttäuschungen, auch nicht um Mentalitäten, die angeblich oder wirklich nicht zum westlichen System passen. Wer das verminte Terrain der Emotionen und Schuldzuweisungen hinter sich bringt, wird staunen, wie viel sich tatsächlich verändert hat. Vieles davon geschieht aufgrund weltweiter Entwicklungen. Überall suchen die herrschenden Eliten nach Erklärungen, um soziale Erosionen, um die Kriege einer angeblich neuen Weltordnung, um die Verarmung großer Bevölkerungsschichten und Regionen zu begründen. In Deutschland sorgt die Einheit für einen besonderen Akzent. So banal es klingen mag, das alte Rezept des "divide et impera" funktioniert auch hier wieder. Wie war das noch? Die Ostdeutschen sind verrückt und anmaßend: Sie streiken für die 35-Stunden-Woche, dabei haben sie doch gar nicht die Produktivität wie wir im Westen. Also blieben sie im Sommer 2003 in ihren Streiks ziemlich allein. Und kein Jahr später dürfen auch in Westdeutschland viele wieder 40 Stunden und mehr arbeiten, ohne Lohnausgleich. Die Gewerkschaften wirkten im Osten unentschlossen und verkleinerten so ihre eigene Handlungsfähigkeit. Welche Dummheit war da im Spiel, die ewige große Dummheit der Entsolidarisierung. Nur ein Beispiel von vielen.
Wir sollten die Unterschiede akzeptieren, rät der Bundespräsident. Doch seit 1989 wurden die Unterschiede der Werte und der Erfahrungen konsequent übergangen, damit sie vergessen waren, bevor sie erkennbar werden konnten. Nun kommen sie als soziales Gefälle auf uns zurück. Das Deutsche Reich hatte das arme Ostelbien - die Bundesrepublik findet sich ab mit einem Armutsgebiet Ost. Zwar ohne Junker, aber als Reservoir für Arbeitskräfte, als Reiseziel, als reine, naturgegebene Landschaft. Manchmal auch als politischer Joker, als unberechenbare Größe. Arme Gebiete scheinen unverzichtbar, und wir gewöhnen uns. Das Ost-West-Gefälle wird außerdem durch das Nord-Süd-Gefälle ergänzt. Auch das eignet sich bestens als Drohung, um anspruchsvolle Arbeiter und Angestellte zur Raison zu bringen. All dies hat zur Zeit den Effekt, dass es keinen nennenswerten Aufruhr gibt, wenn das Lebensniveau auch im Westen gedrückt wird.
Was kann dagegen getan werden? Etwas, das "von unten" ausgeht, von Schulen, Gewerkschaften, Vereinen, Zeitungen - etwas, das aus der Gesellschaft kommt? Was könnte dieses "Etwas" sein? Einfach das Versiegen von Neid und falschen Schuldzuweisungen? Wie schön wäre ein Anerkennen von Unterschieden, verbunden mit dem Interesse für andere Vorstellungen.
Ein wenig Aufklärung - statt der Ressentiments - würde nicht schaden: Milliarden seien geflossen ohne Dank? Ja, beim "Aufbau Ost" wurden Milliarden bewegt, aber die großen Aufträge für Firmen und ihre Beschäftigten ließen das Geld größtenteils in den Westen zurückfließen. Die verblichene DDR schenkte der BRD anfangs ein Konjunkturhoch. Den Beschäftigten im Osten blieben kurzfristige Verträge, oft nur, um ihre Betriebe abzureißen. Oder sie hielten sich mit diversen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen über Wasser, mit denen für ein Dezennium diese seltsame Stille im Osten erkauft wurde.
Als hätte man es dort erprobt. Aus dem Ruhrgebiet kommt die WAZ ("Deutschlands größte Regionalzeitung") mit der Schlagzeile "10.000 Ein-Euro-Jobs im Revier geplant!" Langzeitarbeitslose können in der Wohlfahrtspflege, im Handwerk, in Ordnungsdiensten und sozialen Netzwerken eingesetzt werden. "Eine rundum gute Idee", heißt es dazu. Wer nach diesem Angebot greift und am Ende eines Achtstundenstags acht Euro extra zur Sozialhilfe nach Hause trägt, wonach wird der fragen: Nach dem Hüben und Drüben? Oder dem Hier und Heute?
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