Genauso saßen wir nebeneinander

Das graue Kloster 100 ehemalige Schüler aus Ost und West gruben in ihren Erinnerungen

Das Glas fällt um. Papiertaschentücher werden gereicht, um das Wasser vom Podiumstisch und den Manuskriptseiten zu wischen. Schüler und Lehrer etlicher Generationen des Grauen Klosters beobachten es und dürfen endlich lachen, als Hermann Simon bekennt, er sei aufgeregt, trotz der Routine, die er in den 30 Jahren seit dem Abitur erworben habe. Neben ihm Sabine Kebir als Moderatorin, vier Jahre waren beide Banknachbarn, aus eigener Wahl. 1967 beendeten sie die Schule - danach nie mehr eine Begegnung, bis zu diesem Abend. Simon ist inzwischen Direktor der Stiftung "Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum". Sabine Kebir ist Schriftstellerin geworden, die neben Romanen und Sachbüchern auch so manchen Freitag-Text verfasste. Sie erwähnt die Leuchtschrift vom Axel-Springer-Hochhaus, die sie vom Klassenzimmer aus lesen konnten, aber nicht sollten. Er weiß das nicht mehr. Gelöscht.

Wenn sich Menschen bei ihrer Wiederbegegnung nach langer Zeit verschieden erinnern, wankt der Boden, und der Zweifel an sich selbst springt ihnen ins Genick. Worauf ist Verlass, wenn nicht auf die eigene Erinnerung? War die Schulzeit eine Pein, der man mit dem Abitur entronnen ist? Oder ist sie trotz der Konflikte als glückliche Jugend gespeichert? Gibt es da Gerechtigkeit gegenüber dieser Vergangenheit? Simon sprach von der Angst der Historiker vor den Zeitzeugen. Nun sehe er sich selbst voller Irritation als einen Zeitzeugen. Vielleicht aber kommt es zu einer Annäherung an die "Gerechtigkeit" in der Summe der Erinnerungen, die viele Leute zusammentragen. Die "Klosteraner", die sich aus Anlass des 425jährigen Jubiläums ihrer Schule auf Einladung der Bundeszentrale für politische Bildung versammelten, versuchten sich darin.

Ursula Matthias besuchte das Graue Kloster von 1927 bis 1933, hat dann Chemie studiert und nach dem Krieg in der DDR gelebt. Sie sitzt gelassen auf dem Podium, spricht spontan, unzeremoniell, freut sich vielleicht selbst an ihrem präzisen Gedächtnis. Als sie in das Gymnasium kam, wurde gerade die erste Abiturientinnen-Klasse, die es am Grauen Kloster gab, verabschiedet. In seiner lateinisch gehaltenen Abiturrede wandte sich ein Schüler im Namen seiner Klasse scharf gegen die Öffnung des Gymnasiums für Mädchen. Der Rektor antwortete bestürzt: Wäre das Abitur nicht schon abgeschlossen, hätte er ihnen allen - auch bei besten Noten - die Reife abgesprochen.

Bis 1933 also. Viele im Saal beugen sich beim Zuhören vor: Wie war es an der Schule in diesen Jahren? Gab es Antisemitismus? Drang die Nazi-Ideologie in die Schule ein? Ursula Matthias versucht, die Situation zu erklären: Der Antisemitismus habe nicht so im Vordergrund gestanden, wie es heute scheint. Aber die Anti-Versailles-Propaganda rechter Parteien verfing. Ihr Abitur feierte die Klasse 1933 bei einer der drei jüdischen Mitschülerinnen. Noch war das für sie keine Besonderheit.

Der letzte jüdische Lehrer, Dr. Willy Lewinsohn, musste die Schule 1936 verlassen. 1941 wurde er deportiert, nach Minsk, wo sich seine Spur verlor. Ebenfalls in Minsk kam nur ein Jahr später ein Klosteraner ums Leben, der auf der anderen Seite stand: Wilhelm Kube, "Generalkommissar für Weißruthenien", den zwei Partisaninnen bei einem Attentat töteten. Und aus dem Jahr 1941 stammt wiederum ein Spitzelbericht des Konrektors über mutige Schüler des Grauen Klosters: "Eine kleine Gruppe von Schülern hat sich zusammengeschlossen, die eifrig die Belange der Juden vertritt. Sie feiert Heine als deutschen Dichter, ohne den die jetzige Literatur nicht zu denken wäre. Sie sind stolz darauf, dass sie ihre arische Abstammung nicht betonen und fürchten sich nicht davor, einst in einem Konzentrationslager landen zu müssen. Der anwesende Lehrer nahm das schweigend hin."

Und dann nach dem Krieg ein neuer Anfang voller Unklarheiten. Am 4. Juni 1945 schon wurde das Graue Kloster unter sowjetischer Besatzung wieder eröffnet. Als neue Stätte wurde ihm eine spartanische ehemalige Berufsschule in Berlin Mitte, Niederwallstraße, zugeteilt. Sie stand inmitten von Ruinenfeldern und hatte einen quadratischen Schulhof unter einer Brandmauer, wo die Schüler als dichter Ring in den Pausen kreisten.

Gegenüber der Schule befand sich die Redaktion des Sonntag, zu der nach einigen Zwischenstationen der "Klosteraner" Detlev Lücke gehörte. 1990 begegneten sich im Freitag dann zwei ehemalige Mitschüler nach ihren Umwegen: er und die Aturin dieses Textes.

Unterricht in Latein und Altgriechisch waren die Kennzeichen der Schule, und es wurden bestimmte Sitten weiter gepflegt wie ein Schulorchester, ein Theater, überhaupt die musische Erziehung, ein Schulemblem auf dem Hemd, eine eigene Fahne, die lateinische Abiturrede. Der langjährige Rektor, der gramgebeugte, unnahbare Altphilologe Fritz Plagemann, kämpfte um den Erhalt des humanistischen Schulzweigs und versuchte, die Tradition des Grauen Klosters in das sich ständig wandelnde Bildungssystem der DDR einzufügen.

Im Grauen Kloster gab es eine seltene Mischung der Schülerinnen und Schüler. Viele Pfarrer schickten ihre Kinder dorthin. Sie nahmen weite Wege dafür in Kauf. Auch manche Ärzte wollten ihren Kindern Latein als Voraussetzung für ein Medizinstudium sichern. Das waren Familien, in denen eine Perspektive früh in den Blick genommen, ein Lebensplan verfolgt und die Schulentwicklung ernst genommen wurde. Ein anderer Teil waren Schüler, die aus dem Kiez stammten, aus dem Arbeitermilieu, den engen Straßen und Hinterhöfen von Berlin-Mitte, die an Westberlin angrenzten, wo sich diese Schüler locker bewegten und auskannten. Sie waren die Erfahreneren in vielen Dingen des Lebens. Und dazwischen einige Kinder aus Künstlerfamilien und von Funktionären.

1954 kam die erste Klasse mit verstärktem Russisch-Unterricht an das Graue Kloster. Sie kam aus Pankow, in ihr waren etliche Kinder von deutschen Emigranten, die aus der Sowjetunion zurückgekehrt und zweisprachig waren. Es war die erste Klasse dieser Art, mit der noch viel experimentiert wurde. Als sie die Grundschule hinter sich hatte, wurde lange nach der Oberschule gesucht, in die man diesen neu zu entwickelnden R-Zweig stecken wollte. Erst während der Sommerferien erreichte die Schüler die Nachricht: ein gewisses Graues Kloster soll es sein. Dass sie als ideologischer Gegenpol dahin geschickt wurden, kam ihnen nicht in den Sinn. Aber die anderen, die Latein-Klassen, stuften sie wohl so ein.

Hier trafen sich nun also die Pfarrerskinder, die in der Jungen Gemeinde verankert waren, die realistischen Kiezkinder, die enthusiastischen Kommunistenkinder, und unter ihnen allen hatten viele genug Selbstbewusstsein, in den häufigen und heftigen Diskussionen ihre unterschiedlichen Meinungen zu vertreten. Es waren die Jahre um 1956, mit Chruschtschows Rede gegen den Stalinismus, mit Gomulka in Polen, mit dem Aufstand in Ungarn. Wir waren für all das ein Resonanzboden.

Ich habe Notizen von damals gefunden: Nach einer heftigen politischen Diskussion steht eine Gruppe von Schülern um mich herum und verlangt von mir, ich solle endlich zugeben, dass Ulbricht abtreten müsse. Ich überlege, ob sie aus ganz anderen Gründen wollen, dass Ulbricht den Platz räumt, als ich. Ist es feige, wenn ich ihnen zustimme? Mit 16 sind schließlich solche moralischen Kategorien von höchster Bedeutung. Ich habe dann der Kategorie Ehrlichkeit den Vorrang gegeben und gesagt: Ja, Ulbricht muss weg. - Zu meiner großen Überraschung gab es kein Triumphgeheul, auf das ich mich schon eingestellt hatte. Statt dessen machte ich die wunderbare Erfahrung, dass danach das Gespräch einen neuen Fluss bekam, auch über den Sinn der DDR.

In Westberlin begann das Evangelische Gymnasium in Wilmersdorf um 1956, Schüler aus der DDR aufzunehmen, die nicht zur Oberschule zugelassen worden waren. Russisch wurde als Fremdsprache akzeptiert, Altsprachen wurden ebenfalls gelehrt. So trafen sich hier manche Schüler des Grauen Klosters wieder, unter ihnen Norbert Meisner, später Senator für Wirtschaft und Finanzen in Westberlin. Er war 1958 von der Schule wegen Unangepasstheit relegiert worden. Wie die meisten Schüler aus dem Osten wohnte er in einem Heim. Sie hatten viel Stoff nachzuholen, das Taschengeld war gering, die Lebensbedingungen waren nicht einfach. Sie unterschieden sich so sehr von denen der Westberliner Mitschüler, dass Freundschaften kaum zustande kamen. Meisner erinnert sich: "Alles in allem habe ich die Jahre von 1958 bis zum Abitur zu Ostern 1962 als eine harte Zeit der Anpassung an eine andere Gesellschaft empfunden."

1957 soll eine komplette Abiturklasse aus dem Grauen Kloster in den Westen gegangen sein. Das Seltsame ist, dass sich von den Schülern, die ein Jahr später das Abi machten und natürlich auch Freunde in den oberen Klassen hatten, niemand an ein so spektakuläres Ereignis erinnert. Ist es eine Legende? Haben die Mitschülerinnen es verdrängt? Wieder die Unzuverlässigkeit der Zeitzeugen?

Walter Ulbricht griff auf jeden Fall im Juni 1958 die Schule öffentlich in einer ZK-Sitzung an: "Es gibt in Berlin eine Oberschule, das ›Graue Kloster‹, von der 27 Prozent der Schulabgänger nach Westberlin und Westdeutschland gehen. Das heißt, wir bilden tatsächlich einen Teil dieser Jugendlichen für Westdeutschland aus. Sie sprechen auch während des Unterrichts ganz offen darüber, dass sie die Absicht haben, nach Beendigung der Studienzeit nach Westdeutschland zu gehen. Unter diesen Bedingungen steht also die Frage: wie soll diese Quelle der Republikflucht verstopft werden?"

Drei Tage später brachte die Junge Welt einen Artikel "Klostergeist wird ausgetrieben". FDJ-Brigaden statteten der Schule Besuche ab und drangen bis in die Klassen vor. Der Magistrat von Groß-Berlin fasste umgehend einen Beschluss über die Umgestaltung der Schule. Schon nach einer Woche benannte der Rat des Stadtbezirks Mitte die Schule in "2. Oberschule Mitte" um. Die fertigen Zeugnisse aller Klassen wurden hastig und voller Fehler umgeschrieben auf den neuen Vordrucken. Die Hälfte der Lehrer wurde versetzt oder verließ die DDR. Rektor Plagemann musste gehen. Sein Nachfolger wurde ein Lehrer, der schon Jahre vorher aufgefallen war durch Versuche, die Besonderheiten des Grauen Klosters zu eliminieren. Den Titel übernahm 1963 die Westberliner Schule: "Evangelisches Gymnasium zum Grauen Kloster".

Und doch blieb die Schule in der Niederwallstraße am Spittelmarkt für die Schüler, Eltern und Lehrer das Graue Kloster! Wohl ohne besondere widerständige Absicht erhielten sie das Bewusstsein der spezifischen Tradition. Es wurden hier ja auch weiterhin Latein und Griechisch unterrichtet. Manche Schüler erklärten jetzt nach Jahrzehnten: Es war für sie eine anregende Schule, deren Besuch sie nicht bedauern. Andere, wie Sabine Kebir, erlebten sie in den sechziger Jahren unter misstrauischer ideologischer Dauerkontrolle stehend und somit unter einem ständigen Druck: ein Trauma. Hermann Simon möchte an diesem Abend am liebsten das Wort an seine anwesenden früheren Lehrer übergeben. Sie seien für ihn das Rätsel. Und tatsächlich erhebt sich der damals junge Griechisch-Lehrer Peter Helms und liest aus einem Dossier vor, das er 1989 in seinen Personalakten fand: Da war festgehalten, mit welchen in den Westen gegangenen Lehrern er Kontakt hielt, und es war beschrieben, wie er einer ideologischen Festlegung auswich. Kein Feind der DDR wohl, aber nicht zu fassen, und somit auch den Schreibern dieser Beurteilung ein Rätsel.

Nachdem im dreieinhalbstündigen Erzählen und Berichten immer mehr Schüler und Lehrer verschiedener Jahrgänge aufgetreten waren, meldete sich ganz zum Schluss eine Frau aus Berlin Mitte: Ihre ältere Schwester besuchte 1949 eine sogenannte Aufbauklasse am Grauen Kloster, die nach den Kriegsausfällen fürs Gymnasium vorbereitet wurde. Die Schwester kam oft weinend nach Hause, weil die arroganten Klosteraner diese Mitschüler "aus der Gosse", wie die Frau sagte, beleidigten. Auch das, meinte sie, solle nicht vergessen werden. Sie erzählte es ohne Aggression, die Tränen waren ihr wohl eingefallen, beim Zuhören.

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