Eine erste Versammlung gegen militärische Vergeltung in München sechs Tage nach dem Anschlag ist mit 200 Besuchern überfüllt. An diesem Abend reißt die Reihe der Leute nicht mehr ab, die sich um Interpretation des Ereignisses mit den unterschiedlichsten Ansätzen bemühen. Viele drängen auch auf Taten in der Öffentlichkeit.
Auf dem Podium dieser Veranstaltung sitzt der Ägypter Magdi Gohary, seit 44 Jahren in Deutschland, von Beruf Chemotechniker, engagiert als Betriebsrat in einem Chemiekonzern und in gewerkschaftlicher Arbeit. Als Kenner der Nahost-Konflikte hat er Vorträge gehalten und Artikel geschrieben. Wir hatten, als ich in München studierte, gemeinsame arabische Freunde, von denen etliche Sozialisten waren. Sie schienen mir damals ohne die üblichen politischen Berührungsängste gegenüber Ost oder West zu sein, sie hatten ihr eigenes Thema: die Armut, die Entwicklung, die Alphabetisierung ihrer Länder, der palästinensische Kampf. Irgendwann sind sie in ihre verschiedenen Ländern zurückgekehrt, die Palästinenser nach Kuweit und Jordanien. Wo sind sie heute? Waren überhaupt die sozialistischen Bewegungen in der arabischen Welt stark, wie es mir schien, zumindest bis in die siebziger Jahre hinein? Stimmt es, dass die fundamentalistischen Strukturen auch gegen sie aufgebaut wurden?
Ja, es gab die sozialistischen Bewegungen und kommunistischen Parteien, bestätigt Magdi Gohary, neben zwei weiteren großen Strömungen, den nationalen Bewegungen mit verschiedenen Anteilen an sozialistischen Ideen und der religiösen Bewegung, der Moslembruderschaft. Die Zäsur war im Grunde der Siebenundsechziger Krieg: Israel zerschlug die Armeen von drei Staaten. Danach habe sich das Kräfteverhältnis zwischen den verschiedenen politischen Strömungen verschoben. Es habe eine Umorientierung in Richtung Gläubigkeit begonnen, zuerst ganz unorganisiert. Die Menschen erklärten zum Teil die arabische Niederlage mit dem Verlust an Glauben: die Engel hätten nicht auf ihrer Seite gestanden.
Nach Nassers Tod aber begann Ägyptens Präsident Sadat, die Bindung an den Ostblock zu kappen, sich den USA, auch Israel anzunähern und eine Wirtschaftspolitik der Öffnung und Privatisierung zu betreiben. Die Nasser-Traditionen wurden vernichtet. Im Zuge dieser Entwicklung finanzierte Sadat unter anderem religiöse Gruppen an der Kairoer Universität, weil die ägyptischen Studenten gegen seinen Kurs opponierten. Das Makabre: zehn Jahre später wurde er von diesen islamistischen Studenten ermordet. Den Geist, den er aus der Flasche gelassen hatte, konnte er nicht wieder zurückschicken. Das ist wie eine Regel, nach der sich die islamistische Bewegung in den letzten beiden Jahrzehnten ausbreitete. Magdi Gohary erzählt, dass er zwar in Deutschland bisher nie eine Moschee betreten, aber doch erfahren habe, dass während der Kriege im früheren Jugoslawien in hiesigen Moscheen Kämpfer rekrutiert wurden, die nach Bosnien gingen. Auch hier galt das bekannte Schema: Als es opportun war, gegen die Serben zu kämpfen, drückten die Behörden die Augen zu, um nun den islamischen Gemeinden aufs Höchste zu misstrauen.
In Ägypten begann nach Sadats Ermordung 1981 ein blutiger und grausam geführter Kampf zwischen Sicherheitskräften und Islamisten. Viele junge Männer aus Ägypten - dem größten arabischen Land - flohen und füllten bin Ladens Reihen. Magdi will klar machen, dass sich der islamistische Terror lange nur gegen die eigenen korrupten und morschen Regimes richtete. Erst als sie erfahren mussten, dass diese dank ihrer amerikanischen Stütze nicht zu stürzen waren, kamen die USA in den Fokus.
Meist haben die Regimes parallel zur Verfolgung der Islamisten die religiösen Bewegungen stark gefördert, um den Radikalen der Boden zu entziehen. Die kontrollierte Religiosität als Staatsideologie beförderte einen politischen Irrationalismus. Doch zugleich haben die Menschen ihren PC, das Internet. Der Widerspruch zwischen ihrer inneren Einstellung und der begehrten westlichen Moderne, die sich für sie in der Technik manifestiere, blieb unversöhnt, meint Magdi.
Er rechnet mit einer schlimmen Perspektive für die islamisch-arabischen Länder. Der Nahe Osten befinde sich in einem so deformierten Zustand, dass man auch nicht sagen könne, Hände weg und keine Einmischung mehr. Er wünscht sich einen konstruktiven Einfluss von außen. Ägypten und Israel seien schließlich die größten Geldempfänger der USA im Nahen Osten. Beide Staaten würden im Grunde von den USA leben. Die derzeitigen arabischen Regimes balancieren zwischen den religiösen Massen, die sie versuchen, ruhig zu halten, den Islamisten, die sie fast unmenschlich bekämpfen, und den Warenströmen, die sie aus dem Westen importieren möchten.
Man müsse den Boden neu beackern - so Magdi - mit Respekt vor den religiösen Gefühlen der Menschen, aber zugleich die aufgeklärten Teile der Gesellschaft ermutigen. Immer noch, trotz ihrer Dezimierung durch Verfolgung, Resignation, auch Desorientierung, würde es die säkularisierten Kräfte geben, eingeschüchtert und ohne Medien, fast ohne Stimme in der Öffentlichkeit, ohne Strukturen. Aber sie seien sehr wohl da, sie müsse man endlich unterstützen.
Deutsche dürften sich nicht einfach begnügen mit den Nelken am Brandenburger Tor, mit dem Reden von Faschismus, von den amerikanischen Befreiern, sagt Magdi am Ende. Nicht die ganze Menschheit habe diese Erfahrung. Die US-Amerikaner selbst aber hätten vielleicht erstmals ihre Verwundbarkeit erfahren, und das mache sie mit dem ganzen Rest der Welt gleich. Diese Rauchwolken in Manhattan und Menschen in oberen Etagen, die nicht mehr herauskamen - davon bleibe niemand unberührt. Es kann sein, denkt Magdi Gohary und fasst damit eine positive Folge der Schrecklichkeiten ins Auge, dass sich mit diesem Schock jetzt die Amerikaner unter die geschundenen Völker dieser Welt einreihen und sie begreifen.
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