Kurz aufjaulen vor Empörung über die israelische Politik gegenüber den Palästinensern und sich im nächsten Augenblick auf den Mund hauen, mit dem Unbehagen oder gar Schamgefühl, solche Verurteilung stünde niemandem von außen zu, vor allem nicht Deutschen. Sich krümmen bei Bildern von den Mordschauplätzen - aus Mitleid mit den zufälligen Opfern und aus Grauen vor der Todesbereitschaft der jungen Selbstmordattentäter. Und eine Nacht später am Bildschirm stumm zusehen, wie Palästinenserinnen über die Trümmer ihrer Wohnhäuser steigen, die eben als Strafe von Panzern der Israelis in kühler Aktion zum Einsturz gebracht wurden. Heimlich der unheimlichen Angst nachspüren, dass die Anschläge eines Tages auch hier Alltag werden könnten. Immer verwirren Emotionen das Denken, wenn es um Urteile über Kriege geht, aber selten ist diese Mischung so lähmend wie beim Nahost-Konflikt, der seit Jahrzehnten vor aller Augen ausgetragen wird.
Klarheit gewinnen ist am ehesten möglich, wenn man Israelis wie Michael Warschawski zuhört und erlebt, wie eindeutig er seine Anti-Sharon-Haltung erklärt, ohne jede rhetorische Pflichtübung zum Verständnis für israelische Ängste, ohne Rückversicherungen.
Jeder hat das Recht, in seinem Garten eine Mauer gegen die Nachbarn zu bauen
Warschawski lebt seit 1965 in Jerusalem, wohin er mit 16 Jahren aus Straßburg, aus der Familie des dortigen Groß-Rabbiners, gegangen war, um den Talmud und die Thora zu studieren. Er kennt alles aus eigener Erfahrung: Militär, den Krieg von 1967, Kibbuzim, besetzte Gebiete, Kriegsdienstverweigerung, Haftstrafen, das politische Personal des Landes, natürlich die jüdische Religion, die Diaspora, die Geschichte der Juden und die der Araber auch.
Er gab 1971-1984 die Monatszeitschrift Mazpen (Kompass) heraus, gründete dann das Alternative Informationszentrum (AIC) in Jerusalem, dessen Direktor er lange war und das er heute im Welt-Sozialforum vertritt. Seine Frau ist Anwältin und hat viele Palästinenser vor Gericht vertreten. In diesen Tagen befindet er sich auf Lese-Reise mit seiner gerade bei Nautilus auf Deutsch erschienenen Autobiografie An der Grenze. In Berlin hat ihn die Rosa-Luxemburg-Stiftung eingeladen. Nach der Ermordung von Scheich Yassin kürzt er seine Lesungen, um Diskussionen Raum zu geben.
Jeder habe das Recht, in seinem Garten eine Mauer gegen die Nachbarn zu bauen, sagt Warschawski, auch wenn er es selbst für eine große Dummheit halte, denn Nachbarn zu haben, sei gut. Aber die Mauer im Garten des Nachbarn hochzuziehen und den Wasserhahn auf der eigenen Seite zu lassen, das sei Aggression. Schlüsselwort der israelischen Politik bleibe Separation, die der Zionismus zu seiner Losung gemacht hat. Trennung der Völker.
Warschawski zeichnet einen tiefen Gegensatz zwischen der jüdischen Tradition und dem Zionismus. Der habe akzeptiert, dass Homogenität der Normalzustand für einen Staat sei: ein Volk, eine Religion, eine Sprache. Nationale Minderheiten tauchen in diesem Konzept vom Ende des 19. Jahrhunderts als "Problem" auf, das zu lösen sei. Dafür findet in Israel jedes Jahr eine hochrangige Tagung von politischen, ökonomischen und militärischen Strategen statt. Die letzte war auf das "demografische Problem" fokussiert. Die Zionisten betrachten die hohe Geburtenrate der Palästinenser als eine "Bombe". So empfahl die Konferenz, eine unüberwindliche Grenze zu errichten, eine hohe Mauer zwischen den Völkern.
Eine neue israelische Identität werde eine jüdische, keine zionistische sein, davon ist Warschawski überzeugt. Sie bedeute die Rückbesinnung auf ein Erbe, das der Zionismus abgelehnt hat. Die Diaspora-Juden hätten in zwei Jahrtausenden eine eigene Art des In-der-Welt-Seins entwickelt und eine tiefe Verbindung mit der westlichen und arabischen Kulturen hervorgebracht. Das lehnten die Gründerväter Israels ab, sie hassten die Diaspora und wollten aus den Eingewanderten etwas Anderes machen.
Am Tag von Warschawskis Lesung erscheint ein Interview mit dem israelischen Militärhistoriker Martin van Creveld (*), das wie nebenbei das eigentliche Ziel Sharons, die Palästinenser in einen Krieg zu ziehen und zu vertreiben, enthüllt. Zugleich wird auch die Mentalität sichtbar, die sich in Israel bei denen herausbildet, die in der Nähe der Macht sind. Creveld führt anfangs Distanz vor, als sei er leidenschaftsloser Beobachter und beginnt mit Kritik an der Ermordung Yassins. Aber es geht ihm nur um den Zeitpunkt, nicht den Akt: "Man hätte sich solche Maßnahmen bis zum endgültigen Abzug aus Gaza aufsparen sollen." Die Mauer nennt er sinnvoll, schon die Berliner Mauer habe den Beweis geliefert, "dass Mauern im Allgemeinen funktionieren", äußert er ohne Eifer. Die DDR sei doch zuletzt an der Mauer gescheitert, wird ihm entgegen gehalten. "Wir haben keine andere Wahl: Mauer oder Untergang", sagt Creveld dann doch mit Pathos. Aber wenn sich die Palästinenser Raketen besorgen und über die Mauer schießen? Darauf kommt entwaffnend offen die Antwort: "Das kann ich nur hoffen." Und er erläutert der verblüfften Interviewerin, dann "können wir mit unseren Mitteln zurückschlagen. Und diese Mittel sind enorm".
Dem ehemaligen Premier Ehud Barak, möchte Warschawski eine Goldmedaille für Rassismus verleihen. Als er von einer amerikanischen Zeitung gefragt wurde, was Israel für ihn sei, antwortete er: Eine Villa im Herzen des Dschungels. Barak meinte nicht Villenbewohner, die gegen Hüttenbewohner kämpfen. Sie könnten immerhin eines Tages Frieden schließen. Mit einem Dschungel aber geht das nie. Er ist die ewige Bedrohung, und die Antwort ist ein permanenter Präventivkrieg der Villa gegen die muslimische Welt.
Was für eine Villa ist Israel? fragt er. 27 Prozent der Kinder leben unter der Armutsgrenze, das sind Zahlen der Nationalen Versicherungsagentur. Eine Villa mit einem Keller, wo die Hälfte der Bewohner lebt! Das einzige Mal, da Warschawski scharf und laut wird.
Viele junge Israelis verlassen das Land, die Söhne der Siedler bleiben
Die Grenze, um die es heute geht, habe einen zweiten Aspekt, der im absoluten Gegensatz zu dem Prinzip der Trennung stehe. Warschawski nennt es die räumliche Dimension: Israel vermeidet es bisher, seine eigenen Grenzen festzulegen. Kein Vertrag fixiert sie. Zwischen den Menschen wird eine harte Grenzlinie gezogen, andererseits gibt es keine Grenze. Der Raum soll offen bleiben.
Wegen dieses Doppelcharakters der Grenze müssten Anhänger des Friedens, so Warschawski, sowohl Grenzgänger als auch - zuweilen - Grenzwächter sein. Sie müssten die Grenze überwinden und Tore öffnen, aber sie müssten auch das eigene Militär hindern, in die besetzten Gebiete einzumarschieren. Viele junge Leute aus dem gebildeten, urbanen Mittelstand verließen das Land, bedauert Warschawski. Sie waren das Rückgrat einer moderaten Friedensbewegung. Jetzt gehen sie weg - die Söhne der Siedler bleiben.
Zum Schluss erreicht ihn aus dem Saal die Frage, was er von der Trauerminute am Anfang des Abends halte, die nur den Opfern der israelischen Politik gegolten hätte. Tumult im Raum: das sei nicht wahr, es ging um die Opfer auf beiden Seiten. Nachdem das irgendwie geklärt ist, fährt der Fragende fort: Ob es stimme, dass sich Warschawski weigere, die Palästinenser zu kritisieren? Den regt die Frage auf: Sie sei keine Überraschung, sagt er ein wenig müde. Diese Frage komme immer. Sie habe nichts mit dem zu tun, was hier gesagt wurde. Sie sei vorher fertig im Kopf. Aber er wolle antworten: Kritisieren dürfe man alles, es sei oft eine Pflicht. Aber der Kontext müsse stimmen. Wenn ein Palästinenser den Terrorismus kritisiert, habe das unendlich viel mehr Bedeutung, als wenn Deutsche oder er als Israeli das tun. Es zähle, wer spricht, wann gesprochen wird und mit wem. "Wenn ich den Mord an Scheich Yassin kritisiere und sofort die Frage höre: Aber was sagst du zum Terror der Hamas, dann antworte ich nichts in dem Augenblick. Denn jetzt spreche ich über Yassin. Über den Terrorismus werde ich morgen sprechen. Jeder Terrorismus, jeder gewaltsame Akt gegen die Zivilbevölkerung - ob von Individuen oder von einer Armee ausgeführt - ist inakzeptabel vom ethischen, vom politischen Standpunkt aus. Als Bürger eines Staates, der Terror permanent als politisches Mittel einsetzt, habe ich 95 Prozent meiner Zeit zu nutzen, den Terrorismus meiner Regierung, meiner Armee, vielleicht meiner Nachbarn, möglicher Weise sogar meiner Kinder zu verurteilen. Und zu fünf Prozent drücke ich meine negative Meinung über den Terrorismus der Palästinenser aus, die Opfer meines Staates sind."
(*) s. Berliner Zeitung vom 26. 3. 2004
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