Es gibt keine historische Gerechtigkeit, die sich von allein, durch zeitliche und emotionale Distanz, einstellen würde. Erst einmal steht immer die Geschichtsschreibung der Sieger im Raum. Gegeninformationen können durchaus Wirkung zeigen, unabweislich den offiziellen Darstellungen widersprechen, sie sogar kippen. Das Vietnam-Tribunal hat 1968 eine vorherrschende, offizielle Begründungskette zerrissen und ein neues Bewusstsein des Unrechts geschaffen. In ähnlicher Weise wollen nun Gegner des NATO-Krieges in Europa und den USA seine Umstände untersuchen und die Ergebnisse dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag übergeben. In Deutschland koordiniert diese Arbeit die "Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V." in Berlin (erreichbar über gbmev@t-online.de)
Die neue "Sprache des Krieges" hat sich seit März 1999, dem Beginn der Bombardements, hierzulande etabliert. Sie ist nicht auf Anhieb kenntlich, da sie - wie Georg Seeßlen schreibt - "ungefähr zu gleichen Teilen aus dem Wörterbuch des Unmenschen und aus dem Brevier des Gutmenschen stammt". Im Ton der überzeugten "Unschuld" spult beispielsweise der Staatssekretär Walter Kolbow, dessen Büro in Skopje für die Koordinierung der deutschen Hilfsmaßnahmen zuständig ist, die offiziellen Formeln ab (Berliner Zeitung vom 8.12.99): "So verwundert es nicht, dass Milosevic und die Belgrader Führung versuchten, ihren großserbischen Wahn mit einem ethnisch Âsauberen Kosovo zu krönen - Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht - Das Völkerrecht lässt in schweren humanitären Notlagen, wie zum Beispiel Völkermord, als Ultima Ratio ein militärisches Eingreifen ohne Mandat der Vereinten Nationen zu - Es bot sich keine Alternative - Wir konnten nicht länger tatenlos zusehen - Wir haben uns richtig entschieden - Damit wurde der Weg für politische Lösungen im Kosovo frei..."
Inzwischen ist der Kosovo wirklich fast ethnisch "sauber", und das geschah letztlich unter NATO-Präsenz und -Beobachtung. Die UN nahmen sogar amtlich das Ziel einer multiethnischen Gesellschaft im Kosovo zurück. Man hat ganz banal und bequem den Vorgang zugelassen, der vorher als Kriegsgrund gegen Serbien galt. Dafür baut die NATO im Protektorat Kosovo bei Gnjilane eine neue große Militärbasis, die das italienische Aviano ersetzen wird.
Das Tribunal gegen den NATO-Krieg wird von Experten auf den einschlägigen Gebieten und engagierten Helfern vorbereitet, die aus den verschiedenen Ländern und Zusammenhängen kommen. In mehreren Ländern fanden bereits erste Hearings statt, auch in Berlin. Das bestehende Recht werde Ausgangspunkt für die Beurteilung des NATO-Kriegs sein, also vor allem die Verletzungen des Völkerrechts sind die Punkte, die recherchiert werden. Erich Buchholz, Professor und Anwalt aus Berlin, geht dabei von der Architektur einer internationalen Kriegsvermeidungspolitik aus, wie sie 1928, als in Paris beinahe die gesamte Staatenwelt den Krieg als Mittel der Politik ächtete, erarbeitet wurde. Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs sind das Potsdamer Abkommen 1945, die Nürnberger Prinzipien vom Dezember 1946, die UN-Charta und das Gewaltverbot der UN hinzugekommen, auch das Statut des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag von 1998. - Ein ständiges Bemühen, das trotz des Kalten Krieges nie aufgegeben wurde. Bis zum März 1999.
Auch die Wende, die mit dem Kosovo-Krieg allgemein in der Militärpolitik westlicher Staaten eingeleitet wurde, soll ein Thema sein. In Deutschland befasst sich damit Tobias Pflüger, Politikwissenschaftler aus Tübingen. Schon die Selbstmandatierung, die die NATO im Rahmen ihrer neuen Strategie durchgesetzt hat, entspricht einer Verletzung des Völkerrechts; auch die Erweiterung des Artikels fünf des NATO-Statuts, der Einsätze nur im Verteidigungsfall vorsah, auf "Krisenreaktionseinsatz". Zugleich ist der Beginn einer Umstrukturierung der NATO-Armeen in "warfighting forces" zu beobachten, eine Professionalisierung also, die auch für die Bundeswehr gilt, die ihre 53.000 Mann der "Krisenreaktionskräfte" sofort aufstockte auf 60.000, während die Gesamtzahl der Bundeswehrangehörigen reduziert wurde.
Die Ziele der Bombardements waren bekanntlich unter den NATO-Partnern ausgehandelt worden, je nach ihrer Bedeutung für die Staatsmacht Jugoslawiens. Damit befasst sich Admiral i.R. Elmar Schmähling, der sein Konzept auf dem Berliner Hearing vortrug. So seien Brücken zwar allgemein als strategische Ziele anerkannt, aber unter dem "Gebot der Verhältnismäßigkeit". Die Zerstörung der weit vom Kosovo entfernten Brücken in Novi Sad, deren Trümmer zugleich die Donauschifffahrt noch auf lange Zeit lahmlegen, bedeutet eine langfristige Schädigung der ökonomischen Infrastruktur des Landes. Schmähling geht von "Normen der Kriegführung" aus, die verletzt wurden, mit "Vorsatz und erheblicher krimineller Energie". Kollateralschäden seien international definiert: als unbedeutende, unvermeidliche Nebenschäden. Ein Zug auf einer Brücke fällt nicht unter diese Kategorie.
Sind die NATO-Staaten in den Krieg "hineingeschliddert", oder war er geplant? Die Unterscheidung würde der Differenz zwischen Totschlag im Affekt und Mord aus Heimtücke entsprechen, meint der ehemalige Botschafter der DDR in Jugoslawien, Ralph Hartmann. Er will nachweisen, dass schon lange vor 1998/99 der "Militärschlag" in Bosnien gefordert worden war. Die Chronologie der Ereignisse seit Herbst 1998 würde die Zielstrebigkeit belegen, mit der der Krieg anvisiert wurde. In der Zerschlagung Jugoslawiens sieht Hartmann einen Präzedenzfall für das kommende Jahrhundert, der vor allem an die Adresse Russlands gerichtet sei. Ziel aber sei letztlich der Krieg selbst.
Können die Demagogie der Politiker, die Willfährigkeit der Medien, die Serbien zum dämonischen Feind machten und mögliche Verhandlungslösungen im Kosovo kaum beachteten, vor Gericht behandelt werden? Wieviele Lügen, die nie zurückgenommen wurden, begleiteten die mehr als zweieinhalbmonatigen Bombardements? So das Gerücht vom Stadion in Prishtina als KZ. Oder die Höllenvision von Serben, die auf dem Grill Föten rösteten: Scharping fachte mit solchen Bildern ein Entsetzen an, das Kritik erstickte. Kann darüber juristisch geurteilt werden?
Inzwischen liegt der Entwurf eines Statuts für das europäische Tribunal vor, in welchem das Procedere im Einklang mit dem Völkerrecht beschrieben und die Art von Verbrechen definiert sind, die verhandelt werden sollen. Ein Kuratorium wird darüber im Januar beschließen und die Ernennung von Richtern und Anklägern beginnen. Zur Finanzierung des Tribunals wendet sich der Vorbereitungskreis an Parlamente und Sponsoren, es wird eine parlamentarische und außerparlamentarische Basis angestrebt. In vier Arbeitskreisen können sich weitere Interessenten an den Vorbereitungen beteiligen.
Aus den USA melden sich verblüffender Weise die kompromisslosesten Gegner und Ankläger des NATO-Krieges. Ramsey Clark, ehemaliger US-amerikanischer Justizminister, betont, dass dieser Krieg vor allem von den USA gewollt und betrieben wurde. Clark hat sich im März und Mai des Jahres in Serbien aufgehalten und somit "von unten" gesehen, wie das Land allmählich paralysiert wurde. Dazu hätten die USA inzwischen eine Technologie entwickelt, die als ständige Bedrohung wirke. Die USA müssten zu diesem Zweck keinen Fuß ins andere Land setzen und keine eigenen Verluste kalkulieren. Dass Kriege, die um Rohstoffe und Territorien geführt werden, inzwischen geächtet seien, finde er wunderbar, aber dass eine einfache "Umwidmung", eine neuartige Begründung, alle Skepsis hinwegfegen konnte, das sei jammervoll, erklärt Ramsey Clark bei seinen Auftritten zur Vorbereitung des Tribunals. Er und seine Mitstreiter konzentrieren die Anklage auf die US-Regierung und den General und NATO-Oberkommandieren Wesley Clark. Ziel der Friedensbewegung muss die Auflösung der Nato sein, denn das Militärbündnis sei nicht reformierbar. Für den Mai 2000 ist die erste Runde des Tribunals angesetzt. Sie wird voraussichtlich in Deutschland stattfinden, das sich so beeilte, mit dem Kosovo-Krieg die Idee und die reale Möglichkeit zu begraben, grundsätzlich keinen Krieg mehr zu führen.
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