Keinen Sonntag und kein Zuckerfest mehr

Istanbul Yusuf und die Straßenkinder

Yusuf Ahmet Kulca scheint alles über diese Kinder zu wissen. Manches noch aus seiner Zeit als Journalist, als er vor Jahren herumstreunenden Jungen half. Seine wichtigste Quelle aber ist die eigene Erfahrung, denn er hat selbst drei Jahre lang auf Friedhöfen, in Parks und verlassenen Gebäuden übernachtet. Das war, als er mit 18 sein Kinderheim verlassen musste, erzählt er. Da hatte er allerdings das Abitur in der Tasche, darin unterschied er sich von den meisten vagabundierenden Jugendlichen. Und er hatte ein Ziel, die Universität, so wie er schon mit zwölf den Widerstand von Heimleitern und Behörden überwand, um aufs Gymnasium zu dürfen, statt nach der Grundschule arbeiten gehen zu müssen. Es gab auch Erzieher, die ihm halfen, sagt er. Wer einen solchen Weg hinter sich hat, kann die Momente genau nennen, in denen Hilfe kam. Ohne die er gescheitert wäre. Vielleicht hat er darum Pädagogik studiert.

Yusuf schubst einige der schönen Italienerinnen ein wenig an

Mit Jugendlichen aus Istanbul ist Yusuf zum 11. Diyalog TheaterFest nach Berlin gekommen, wie auch Gruppen aus den Banlieues von Lyon, aus Jugendklubs in Rom und Berlin. Jede Gruppe hat ein Stück über das Leben auf der Straße erdacht und einstudiert. Szenen des Alleinseins, der Müdigkeit, des Hungers, dazwischen beglückende Begegnungen. Gefahr droht durch Polizei, Dealer, Betrunkene, rivalisierende Gruppen. Sich gemeinsam zu wehren, ist ein wichtiges Motiv, aber es muss nicht auf ein Happy End hinauslaufen. Vergebliches Bemühen ist ihnen allen nicht fremd.

Die Italiener haben Romeo und Julia als Tragödie unter obdachlosen Jugendlichen inszeniert. Ihr Spiel ist sicherer als das der anderen, es scheint, sie tragen die Nase hoch, und die türkischen Jugendlichen fangen an, sich von ihnen abzukapseln. Auf dem Weg zum Abendessen schubst Yusuf einige der schönen Italienerinnen ein wenig an, bringt sie zum Lachen, und als sie im türkischen Restaurant in Kreuzberg ankommen, mischen sich die Gruppen schon. Am Ende dieser zehn Tage mögen sich Türken und Italiener am meisten. Und Yusuf sagt später, einige in seiner Gruppe seien durch diese Kontakte endlich motiviert, Schreiben und Lesen zu lernen, was sie oft kaum beherrschen.

Aus den vier Stücken in verschiedenen Sprachen entsteht in Berlin eines. Das gelingt, weil es viel Aktion, Pantomime, Gesten gibt. Sie kennen alle die internationalen Codes der Straßenkinder, die ständig auf der Hut sind. Ein Franzose leitet die Proben hoch konzentriert wie ein Dirigent. Die mitgereisten Streetworker und Theaterleute fallen mit ihrer enormen Aufmerksamkeit, ihrer Hingabe, auf. Nur ein paar Tage haben sie bis zur Premiere im Theater HAU am Halleschen Ufer. Das Stück ist ein Erfolg, drei Abende hintereinander vor vollem Haus gespielt. Die Theaterinitiative Diyalog erhält für ihr Engagement den erstmals vergebenen Preis der Körber-Stiftung Berliner Tulpe.

Yusuf ist in diesen turbulenten Tagen unübersehbar, ohne sich in den Vordergrund zu drängen, ohne sich überhaupt anzustrengen. Kein Zögern gegenüber anderen Menschen, kein Ermatten. Seine hellbraune Haut, die etwas schräg liegenden Augen, die sich blähenden Nasenflügel - alles wirkt hellwach und auf eine besondere Weise blank. Er komme von weit her, aus China, von dem Volk der Uiguren, ist zu hören und steigert noch die Neugier, die er weckt.

Wenn man ihn nach den Kindern fragt, antwortet er gründlich, als habe man ein Recht auf sein Wissen, selbst wenn es Mühe kostet, es weiter zu geben. Die Kinder, um die er sich kümmert, sind in unterschiedlichen Lagen: Manche haben noch ein Zuhause, werden aber von den Eltern gezwungen, Papiertaschentücher zu verkaufen oder zu betteln. Sie müssen das Talent entwickeln, Mitleid zu wecken. Sie sind klein, zuerst kommt es ihnen wie ein Spiel vor. Nach zwei oder drei Jahren haben sie die Attraktivität der Straße kennen gelernt, auf der sie schon Geld verdienen, oft mehr als der Vater. Sie lernen Alkohol zu trinken, zu klauen, werden schnell erwachsen. Die Schule erscheint ihnen angesichts ihrer Erfahrungen banal und wird abgebrochen. Andere Kinder laufen von zu Hause weg, Konflikte mit dem Vater oder der Mutter treiben sie auf die Straße.

Deniz ist ein Mädchen, das eine solche Geschichte hinter sich hat und durch Yussufs Verein ihrem Leben eine neue Richtung gibt. Sie hat ein Gedicht geschrieben:

Sind die Worte schon in deinem Hals stecken geblieben, Mutter?/ Wolltest du einmal ausgiebig weinen und es ist dir nicht gelungen? / Wurde dir kalt in der warmen Wohnung / Sag mir nicht: geh weg, geh weg. Trotz ihrer Not solle man den bettelnden Kindern kein Geld geben, sagt Yusuf. Er will den Leuten klar machen, dass die Kinder, wenn sie auf diese Weise Geld verdienen, aufhören werden, zur Schule zu gehen. Auch die Eltern werden denken, wozu die Schule. Eine unendliche Dummheit der Ämter sei es, erst dann etwas für die Kinder zu tun, wenn sie auf der Straße gelandet sind. Für eine Lösung am Anfang - bei geschiedenen Müttern ohne Einkommen etwa - würden 100 Euro monatlich reichen, später werden 5.000 nötig: für Streetworker, Erzieher, Heime, Kantinen, Verwaltung, Kliniken. Es ist der berühmte Teufelskreis, der alle in Wut versetzt, die sich sozial engagieren.

Yusuf und seine Mitarbeiter sehen die Jungen und Mädchen, um die sie sich kümmern, jeden Tag. Es sind an die 250. Er weiß, was sie schnüffeln, weil ihnen die Halluzinationen wohl tun, weil die Hemmschwelle beim Betteln sinkt und die Wahrnehmung von Kälte, Hunger und Schmerzen abstumpft. Er kennt die Selbstverletzungen, die sie sich beibringen aus Frust und seltsamer Weise auch aus Trauer, wenn Freunde sterben. Er weiß, dass sie ihre richtigen Namen verheimlichen, weil sie mit ihren Familien nichts zu tun haben wollen. Er kennt ihre Schlafplätze, und wenn Frost bevorsteht, fordert er sie auf, Räume zu suchen, und sei es unter Treppen, in verlassenen Autos, leeren Gebäuden. Er lädt sie in sein Zentrum ein, das der von ihm mitbegründete Verein Umut cocuklari dernegi unterhält, der von Spenden und städtischen Geldern lebt.

Für Yusuf gibt es seit 13 Jahren keinen Sonntag und kein Zuckerfest mehr, denn das sind die Katastrophentage. Man müsse sich um jeden einzeln kümmern, nur das bringe Erfolg, es gäbe kein Rezept für ganze Gruppen, erklärt er. Seine Frau, eine Biologin, und die zwölfjährige Tochter finden, dass er zuweilen übertreibe, stehen aber hinter ihm. Im Verein gibt es zu den fünf fest Angestellten rund 20 freiwillige Helfer. Unter ihnen ehemalige Straßenkinder.

Die Gangs, in denen sich die herumstreunenden Kinder zusammenfinden, haben einen Leader, kleine Herrscher, die für Yusuf selten erreichbar sind. Mit ihnen kann er nur einen gegenseitigen Minimalrespekt aufbauen. Doch sie bleiben unberechenbar, und er sucht sich, wenn er direkt zu ihren Quartieren geht, eine Begleitung. In Wintermonaten kommt es vor, dass Kinder gern in seinem Zentrum übernachten würden und mit ihm ausmachen, dass er sie am Arm hinzerrt, damit sie ihrem Boss am nächsten Tag sagen können: Yusuf hat mich gezwungen. Das Schlimmste wäre für sie der Ausschluss aus der Gruppe.

Yusuf fühlte sich total verlassen und ging zur hohen Bosporusbrücke

Plötzlich gibt Yusuf zu, die Arbeit sei sehr schwierig. Die meisten Leute seien voller Aversionen gegen Straßenkinder. Die wiederum hätten nur selten Neugier auf Menschen außerhalb ihrer Welt. Sie lebten mit so vielen Traumata, dass von ihnen tatsächlich Gefahren ausgehen können: unerwartete Gewalt. Das kommt von ihm, dem freundlichen Pädagogen, als wollte er zeigen, dass er bei aller Liebe nichts romantisiert, dass es ernst ist, dass Not nicht edel ist, sondern bedrohlich.

Als Yusuf die Geschichte seiner erstaunlichen Wanderungen zu Ende erzählt, stellt sich heraus, dass er in Kaschmir geboren wurde. Dorthin waren Anfang der sechziger Jahre seine Eltern aus China geflohen. "Ja, wir sind Uiguren", sagt er, "Moslems, ein türkisches Volk im Norden Chinas, im Konflikt mit der Regierung. In Kaschmir lebten wir im Flüchtlingsheim, das die UNO betreute. Alle träumten von der Türkei, sie war das Gelobte Land für uns." Er war sieben, als die Familie endlich dorthin konnte. Aber da wollte die Mutter nicht mehr mitgehen. Der Vater kam nach abenteuerlichen Umwegen mit Yusuf und zwei kleineren Brüdern nach Istanbul. Sie fanden Platz in einer Sammelunterkunft. Dann entschieden die Behörden, der Vater könne nicht allein für die drei Jungen aufkommen. Man steckte sie ins Heim. Yusuf erzählt, wie sie an den Wochenenden auf den Vater warteten, zuerst weinten, dann grollten, sich nach der Mutter sehnten, sich als Heimkinder in schlecht genähten Schuluniformen genierten, und wie er und sein Freund nach dem Abiitur das Heim verlassen mussten, ohne zu wissen, wohin. Sie waren 18.

In jenem Moment fühlte sich Yusuf total verlassen, er ging zur hohen Bosporusbrücke und wollte sich ins Wasser stürzen. "Ein Brett lag da", erzählt er, "ich habe es runtergeworfen, wollte sehen, wie mein Körper fallen würde. Das Holz zerbrach auf der Wasseroberfläche, das sah schrecklich aus, und in der Sekunde bin ich aufgewacht und habe geweint. Ich bin zurückgegangen, direkt zu einer Klinik, ich wollte mit einem Psychologen sprechen. Da war keiner, ich bin weitergegangen, in der fünften Klinik war einer, ein alter Arzt, der hat mir zugehört. Wir haben lange geredet, er sagte, ich kann wieder kommen, aber als ich rausging, wusste ich: Es ist vorbei. Ab jetzt kann mir nichts mehr passieren. Es war der 4. September 1981."

Mit seinem Freund aus dem Heim schlug er sich von da an durch, manchmal konnten sie für zwei, drei Wochen ein Zimmer mieten, dann schliefen sie wieder draußen. Jobs zu kriegen, war leichter als heute: sie waren Brotbäcker, Lastenträger, Nachtwächter. Nach drei Jahren konnte er durch Vermittlung eines Lehrers einen Kurs zur Vorbereitung auf die von allen gefürchtete zentrale Aufnahmeprüfung für die Universität besuchen. Da fand er seine erste Freundin. Lange gab er von seiner Vergangenheit kaum etwas preis. Doch nach einem halben Jahr erzählte er ihr auf einem Spaziergang alles. Er sah, wie schockiert sie war. Am nächsten Tag ging sie auf Distanz. Einen Waisen ohne jeden familiären Rückhalt als Partner, das widersprach all ihren Vorstellungen. Solche Dinge wiederholten sich. Immer lief es negativ. Er wurde immer introvertierter.

Und dann sagt er: "Trotz allem zähle ich mich zu den Glücklichen. Wäre mir das alles nicht passiert, hätte ich nicht mein heutiges Bewusstsein."

Yusuf grüßt die Jungen wieder und wieder, fragt vielleicht: Bist du hungrig?

Als wir auf den Wegen durch die Stadt aus dem Basar auftauchen, sieht er einen Jungen, der sich verloren an der Mauer einer Moschee herumdrückt, und hält ihm die Hand hin. Der Junge ist vielleicht sieben, er lacht verlegen, schaut hoch, ist ganz Vorsicht, legt dennoch seine schmutzige kleine Hand in die von Yusuf. Der sagt ihm Guten Tag, lacht nun auch. Der Junge entspannt sich und läuft weg.

Er frage nie viel, erklärt er: Das Kind wird nicht wirklich antworten, es beobachtet dich lange, testet dich auch. Es hat Angst vor Leuten, die mit der Polizei zusammenarbeiten, vor Männern wegen sexueller Übergriffe, auch vor Journalisten, die ihr Leben durcheinander bringen. Yusuf wartet, er grüßt die Jungen wieder und wieder, fragt vielleicht: Bist du hungrig? Und kauft ein Sandwich.

Ihm fällt ein Junge ein, Ersoy, sehr misstrauisch. Er war elf, schloss sich keiner Gruppe an. Irgendwann war er von zu Hause, aus Izmir, abgehauen und hatte sich bis Istanbul durchgeschlagen. Sechs Jahre dauerte der vorsichtige Kontakt. Als Yusuf 1993 das Zentrum für obdachlose Jugendliche eröffnete, wo sie auch eine gewisse Anzahl an Nächten schlafen können, kam Ersoy als einer der ersten. Er veränderte sich schnell, lernte, jobbte. Als der Armeedienst anstand, verriet er, dass er nicht beschnitten sei und sich vor unangenehmen Situationen fürchtete. Yusuf sorgte für eine OP. Als die 20 Monate beim Militär herum waren, fand Ersoy eine Stelle beim Zoll und heiratete. Er erzählte seiner Frau nichts von seinem Leben auf der Straße, bis Yusuf irgendwann die Blockade aufbrechen konnte und ihn zum Sprechen brachte.

Die ihre Kindheit auf der Straße überstanden haben - mit vielen Narben und Beschädigungen, aber gerade noch heil -, sind nun Yusufs Freunde. Die 18jährige Deniz sagt, wenn sie Geld hätte, würde sie ein Heim aufmachen, es müsste ganz anders sein als die üblichen: "Nur wir wissen, wie das Leben auf der Straße und in Heimen ist." Sahin, 21, will sein Leben aufschreiben. Er gibt mir eines seiner Gedichte, es heißt Die Agentin:

Du und ich, wir gehen durch eine Einbahnstraße. / Du bist das Licht in dunklen Nächten und die Hoffnung auf dem Weg. / Du bist wie eine Agentin aus besseren Milieus und Kulturen. / Du meine Einzige - natürlich nur so lange, bis du den bitteren Unterschied merkst.

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