Krupp ist dicht und Mimmi ist saniert

Rheinhausen Brachland dehnt sich aus, wo noch vor zehn Jahren das Stahlwerk stand

Mit dem Zug über die Rheinbrücke, breit der Fluss, am anderen Ufer das Stahlwerk von Krupp. Man sah vom Zug aus hinein in das 35 Hektar große Gelände, darauf die beiden glänzenden Hochöfen. Die größten und neuesten weit und breit. Vor zehn Jahren lief dort der letzte Streik der Belegschaft, unterstützt von 28.000 Krupp-Arbeitern im ganzen Land. Mein Bericht darüber (Freitag, 11/1993) hatte den Titel Am Donnerstag wird der Vorstand über dich entscheiden. Es waren vier Tage bis zum anberaumten Termin. Das Unternehmen und die Landesregierung gaben vor, zwischen den Stahlwerken Hoesch - gerade erst von Krupp aufgekauft - und Rheinhausen zu wählen. Wie ihre Rechnung aussah, war nur zu erraten. Es war ein schreckliches Warten, fast in Trance. Das Urteil traf Rheinhausen. Das erste Stahlwerk, das komplett abgerissen wurde. Und nun, zehn Jahre später?

Das Unternehmen ließ es sich was kosten, sozialen Frieden zu erkaufen

Der damalige zweite Betriebsratsvorsitzende Theo Steegmann kurvt auf neuen schmalen Straßen durchs Gelände: Brache um uns wie eine durstige Steppe. Dann ein hoher Drahtzaun, dahinter aufgeschichtete Container, ein Kran auf vier Rädern rauscht zwischen ihnen hindurch. Grellweiße Linien als Ordnungssystem auf dunklem Asphalt. Ein Vater mit Kind auf den Schultern steht am Hafenbecken. Sonst niemand zu sehen.

Alles ist komplett geräumt, mit Kellern bis zu 30 Meter tief. Unmengen von Asbest entsorgt - keine Altlasten mehr im Boden, hat über 200 Millionen Euro gekostet, sagt Steegmann. Man wartet auf Industrieansiedlungen.

Einen Logport gibt es. Logistikfirmen sind der einzige Bereich, der in den letzten Jahren gewachsen ist. Ihren Riesenbedarf an Fläche können sie hier befriedigen. Die Qualität dieser Arbeitsplätze ist nicht begeisternd, zudem gibt es nur wenige. Aber immerhin, ein Wachstum. Die Verkehrsströme haben zugenommen. Die Gründe, die Krupp hatte, sich hier 1895 niederzulassen, gelten noch: günstige Nähe zur Kohle, ein dicht besiedelter Raum, Wasserstraßen. Was in den Containern ist, lässt sich nicht erraten. Es kann Kosmetik sein, Elektronik, Teile für Geräte aus aller Welt werden hier umverteilt.

Wie aber geht es inzwischen den übrig gebliebenen Kruppianern, frage ich Steegmann. "Die in anderen Betrieben untergekommen sind, bei Thyssen, Krupp, Mannesmann, die vermissen das, was sie Betriebsklima nennen. Es war überall schlechter, sie sind schlechter von den Vorgesetzten behandelt worden, wenig Kollegialität. Was sie einmal hatten - sich erarbeitet hatten an Zusammenhalt untereinander -, haben sie nicht wieder gekriegt."

Es blieb keiner auf der Strecke. Weder die Betriebsräte noch die Belegschaften von Hoesch und Rheinhausen hatten sich gegeneinander hetzen lassen. Sie machten sich klar, dass es beide treffen wird. Tatsächlich wurde auch Hoesch später reduziert. Sie verhandelten mit dem Unternehmen aus einer starken Position und setzten einen guten Sozialplan durch. Jeder arbeitsfähige Kollege wurde versetzt, mit Verdienstausgleich, niemand entlassen. Ab 52 konnten sie mit 90 Prozent ihres Nettolohns in Vorruhestand gehen. Das Unternehmen ließ es sich was kosten, den sozialen Frieden zu erkaufen. In dem Punkt war der große Druck von unten nützlich. Es ging bei der Schließung niemandem wirklich an den Kragen.

"Heute wären die Lösungen von damals nicht mehr möglich, weder rechtlich noch sozialpolitisch", glaubt Steegmann. "Peinlich fast, aber manchmal sagen die Leute: Gut dass es uns vor zehn Jahren getroffen hat und nicht heute. Aber es ging natürlich nicht nur um unsere Belegschaft, wir haben immer auch die Zukunft der Region thematisiert." Und das ist ein neues Kapitel.

Niemand von uns kann singen, aber zusammen klingen wir prima

Irmgard Chlebik hat eine Puppen-Sammlung mit Porzellanköpfen und altmodischen Gelenken, die älteste 103 Jahre. Alle, die es mitbekamen, lachten darüber, es passte zu ihr überhaupt nicht. Das sei wie ein Fieber, sagt sie. Die erste Puppe hat 500 Mark gekostet, das war ihr ganzes Vermögen auf dem Sparbuch. "Ich glaube, das ist so was gewesen, was ich gegen die Männerwelt setzen musste." Sie war die einzige Frau unter 33 Betriebsräten, von den Kolleginnen in der Kantine aufgestellt und gewählt.

Im großen Streik von 1987/88 entstand die Fraueninitiative, vor allem aus den Ehefrauen der Kollegen. Sie haben gleich verkündet: Wir beteiligen uns am Kampf, aber nicht nur mit Kaffeekochen und Brötchenschmieren. Als sie sich in der Manege, dem legendären Versammlungsort der Streikenden, gründeten, waren sie über 500. Während des siebenmonatigen Arbeitskampfs waren die Frauen jeden Tag zusammen. Irmgard Chlebik muss ihr guter Geist gewesen sein, ihr Name wird so oft genannt. Heute ist sie in Rente. Sie erzählt: "Wir Frauen haben mehr Netze gebildet als die Männer. Wir haben bald festgestellt, dass wir ja nicht allein die Betroffenen waren, es waren auch die Frauen vom Bergbau, die haben ebenfalls Initiativen gegründet, und es waren Frauen von den Schiffswerften. Von überall sind sie dann gekommen. Und jede sagte: bei uns sieht es nicht anders aus. Das waren die Anfänge von dem ganzen Abbau, der jetzt läuft. Es kam da so richtig zum Vorschein."

Einmal kam Irmgard Chlebik von einer Demonstration an der Villa Hügel in Essen in den Betrieb zurück. Der Pförtner am Tor 1 sagte zu ihr: Da wartet jemand auf dich. Es war Fasia mit ihrer Gitarre, die Sängerin und Liedermacherin aus Oberhausen, mit schwarzer Haut und Hamburger Tonfall. "Ich kannte sie nicht. Sie hat so mitfühlend zu mir gesagt: Ich habe gehört, bei euch ist Schlimmes los, die wollen euch schließen ..." In diesem Moment begann eine große Freundschaft. "Ich sagte zu ihr: Weißt du was, ich pack dich jetzt ins Auto, und dann fährst du mal mit zu der Jubiläumsfeier. An dem Tag hatte ein Kollege Jubiläum und uns eingeladen, ein Pöttgen Kaffee zu trinken. Als ich mit Fasia da rein kam, stellte ich fest, dass einige sie längst kannten. Die fragten mich: Wie kommst du denn an Fasia?"

Sie waren dann ständig unterwegs, die Frauen, Fasia Jansen, ihre Freundin Ellen Diederich. "Fasia hatte ja wunderbare Lieder, und Ellen konnte organisieren. Das Schöne war, sie hat uns die Lieder beigebracht. Manchmal haben uns die Leute angeguckt, als wenn wir ein Gesangsverein wären. Ich habe gesagt: Niemand von uns kann singen, aber zusammen klingen wir prima. Die Kollegen haben dann schon immer gefragt: Irmgard, Ihr geht doch wohl wieder mit?! Weil wir die Lieder gesungen haben, die im Arbeitskampf so bekannt geworden sind, durch Fasia und durch die Fraueninitiative, ›Keiner schiebt uns weg‹ und so, wahnsinnsviele Lieder, die die Kollegen auch mitsangen. Ohne die beiden wäre das nicht so toll gelaufen, das muss ich ehrlich sagen."

Eine riesige Grube, da tanzten unten ein paar schwarze Vögel

Später haben sie auch einmal die Villa Hügel gestürmt, nicht mehr nur davor gestanden, erzählt Irmgard. "Wir haben das alles geschaffen, so sehe ich es, wir haben das bezahlt, über Generationen hinweg, und von daher war ich immer der Meinung: Das gehört uns, nicht denen! Die Kollegen sind rein. Wenn die Türen nicht weit auf waren, musstest du aufpassen, dass nicht jemand zerdrückt wird. Aber es hat keiner was angerührt oder kaputt gemacht. So hätten sie uns ja gern gehabt. Einmal sahen wir einen Fotografen, der sagte zu einem: Heb doch mal den Stock da hoch und tu so, als, als ob du zuschlagen möchtest. Da kam Karl-Heinz vom Betriebsrat und sagte: Pass mal auf, der einzige, der hier gleich was abkriegt, bist du. Es gab nie Gewalt, und das war gut bei den vielen Aktionen und bei der Wut, die es manchmal gab."

Einmal sind die Frauen nach Longwy in Lothringen gefahren, auch eine Stahlstadt im Abbau. Kameraleute vom Fernsehen, die gerade da waren, haben Geld gesammelt, damit sie einen Bus chartern konnten. "Dann haben wir diese Stadt gesehen: eine richtige Industriestadt aus dem Frühkapitalismus. Alles gehörte einem bekannten Industriellen, der machte nichts daran. Die Arbeitslosigkeit betrug 60 Prozent. Die Jugendlichen hatten überhaupt keine Chance, da war weit und breit nichts. Und wo vorher das Stahlwerk gestanden hatte, war nur eine riesige Grube, da tanzten unten ein paar schwarze Vögel, eine Baracke lag am Rand. Als die Frauen da so standen und runter guckten, da haben sie gesagt, lieber Gott, so wird es dann bei uns auch aussehen, und da haben die geheult. Das haben die vom Fernsehen aufgenommen und gleich in den Nachrichten gebracht, und da haben die Kollegen zu Hause wieder die Klamotten hingeschmissen. Es war ein Aufstand allein durch diese Bilder entstanden. Wir haben gesagt: So darf es bei uns nicht aussehen, wir müssen weiter kämpfen."

Irmgard Chlebik schließt ihre Überlegungen von heute an: "Es ist so schade, wenn du siehst, dass sich die Kollegen gar nicht mehr wehren, wenn ein Stilllegungsbeschluss kommt. Die sagen sich: wenn das schon nichts genützt hat, was die in Rheinhausen gemacht haben, was soll denn dann noch nützen! So empfinde ich es. Heute tut die IG Metall ja nichts anderes mehr als verhandeln. Um vielleicht noch zu retten, was zu retten ist. - Solch einen Arbeitskampf wie unseren wird es nie mehr geben."

Der Mensch ist nicht raus zu kriegen aus der Produktion

"Niederlagen sind Voraussetzung für künftige Siege". Mit dem Marx-Satz überschreibt Steegmann einen Text. Für seine Biografie scheint es zu stimmen, die Erfahrungen treiben ihn weiter. So will er eine Art Filmfestival und einen Preis für Filme aus dem Arbeitermilieu in Duisburg ins Leben rufen, in Kooperation mit dem dort schon existierenden jährlichen Treffen von Dokumentarfilmern. Damit will er auch an frühere Traditionen anknüpfen. "Ich habe ein Gespür für Sachen, die laufen oder nicht laufen. Es gibt solche Filme, und es gibt eine Sehnsucht nach solchen Stoffen - gerade die Gewerkschaften müssen anbeißen. Es stimmt, die traditionellen Milieus lösen sich auf. Die Geschichten werden nicht mehr in den Familien weitergegeben. Aber sie sind nicht weg."

Im Ruhrgebiet seien wahnsinnige Ressourcen verschwendet worden, um den Traum der Ingenieure - die menschenleere Fabrik - zu verwirklichen. Davon seien die jetzt runter. "Der Mensch ist nicht raus zu kriegen aus der Produktion. Und sie können ihn nicht entmündigen und ihm zugleich mehr Verantwortung zuschanzen."

"Das Problem der Linken ist, dass sie sich Arbeiterklasse hegemonial gedacht haben, als führende Klasse, die die Gesellschaft befreien kann. Mich ärgert so, dass sie die Industriearbeiterschaft aufgegeben haben, weil sie sich vom Traum einer Avantgarde verabschieden mussten. Nun sind die Arbeiter nicht mehr interessant für sie. Nachdem sie ihre Illusion verloren haben, wenden sie sich völlig ab. Aber die Idee des Sozialismus ist nicht tot. Es ist so enttäuschend, dass sich die Linken, auch die Gewerkschaften, bis zur PDS, gerade jetzt alle ihre Krise leisten und wegtauchen."

Was aber ist heute Rheinhausen? - "Ein Stadtteil von Duisburg", antwortet Steegmann trocken. "Eine Schlafstadt. Die meisten sind hier wohnen geblieben, nehmen weite Fahrtwege in Kauf. Viele Kneipen sind zu, dafür wurden einige große Discos aufgemacht. Der Wohnwert ist gestiegen. Um die Ecke ein Baggersee, mit einer Wasserskianlage für Kinder, viel Grün, ein Pferdehof, zehn Minuten zum Rhein, gute Infrastruktur für Familien. Rheinhausen ist einer der Duisburger Stadtteile, wo die Leute weniger wegziehen als anderswo."

Dieses größte Industriegebiet Europas war in wenigen Jahrzehnten entstanden. Die Zechen und Stahlwerke wurden demontiert oder zu Kulturdenkmälern umgebaut - die Häuser hell renoviert. Schwarze Fassaden verschwinden. Das Ruhrgebiet wird so anderen deutschen Gegenden auch ähnlicher. Diejenigen, die es von früher kennen, schaudert es seltsam.

Irmgard Chlebik liest zwischendurch aus einem Buch über den Arbeitskampf in Rheinhausen vor und staunt selbst: "Wenn ich das hier so sehe, am 18. Dezember, am DGB-Aktionstag 1978, da hatten wir 25.000 Leute hier im Walzwerk. Das war schon leer und zu einer großen Halle gemacht worden, da standen die Leute dicht gedrängt."

Ihre Kolleginnen und Kollegen von einst sind meist in Rente wie sie. Sie kennen sich und gehören noch zusammen. Irmgard trifft viele Jüngere, die keine Arbeit haben, keine Ausbildung, darüber kann sie sich nicht hinweg trösten und sagt plötzlich: "Was jetzt stattfindet, ist in Wirklichkeit eine Revolution: die Arbeitergeber und diese Sorten wollen Deutschland total verändern, die wollen uns dahin bringen, dass wieder alles so gemacht wird, wie es ihnen passt. Die wollen alles abbauen, das müssen wir sehen."

Und dann gehen wir noch zum Tor 1 und zur großen getäfelten Eckkneipe Reichsadler, wo nach den Aktionen bei Mimmi Bratkartoffeln und Spiegeleier gegessen wurden. Das legendäre Tor mit Pförtnerhäusern und langgestrecktem Dachbogen aus den Fünfzigern steht noch als umgitterte Ruine. Unter Denkmalschutz. In den umliegenden niedrigen Häusern wohnen nur noch türkische Familien. Wir bestellen in diesem traurigen November ebenfalls Bratkartoffeln. Und Irmgard Chlebik lacht: "Krupp ist zu, aber Mimmi Holzweiler haben wir saniert." Und fügt in ihrem Gerechtigkeitssinn an, die Wirtin habe ja auch viel für die Streikenden getan.


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