Der Hof, an dem sie ihr Landwirtschaftspraktikum machte, lag an der Grenze zur DDR. Ein schöner Hof mit Kühen, Schweinen und Pflanzenbau. Morgens öffnete Johanna die Stalltore, sie gingen zum Osten hin, da sah sie den Berg, hinter ihm ging direkt die Sonne auf. "Das war mein Morgenberg", sagt sie. Ein Jahr lang sah sie ihn, konnte aber nie hingehen, der Grenzzaun lag dazwischen. Jetzt fährt sie täglich an diesem Berg vorbei, er heißt Rusteberg, ist ein erloschener Vulkan und erhebt sich rund über die anderen sanften Hügel.
Das Lachen der Scheringers
Das ist 22 Jahre her. Die Grenze fand sie damals nicht so gruselig wie andere, die hinfuhren, um sie zu betrachten. "Es waren für mich zwei Staaten. Die Frage, warum man über den Zaun nicht rüberdarf, habe ich mir erst viel später gestellt, als ich in Afrika plötzlich so eine Weite erlebte, so eine Freiheit, sich zu bewegen." Sie ist mit ihrer Familie in den neunziger Jahren über die nur noch imaginäre Grenze gezogen, ganz einfach, weil sie und ihr Mann "auf der anderen Seite" einen Kindergarten für ihren Sohn fanden. Allmählich begriff sie erst, wohin sie gekommen war: in das sehr spezielle Eichsfeld.
Noch auf der Schule in Bayern hatte sich Johanna entschieden, Landwirtschaft zu studieren. An der nahe liegenden Hochschule in Landshut wurde nur wenig über alternative Anbaumethoden geboten. So geriet sie bei ihrer Suche an die Gesamthochschule Kassel, in die Außenstelle Witzenhausen, wo sie internationale Landwirtschaft studieren konnte. "Das war mein Anliegen. Weg aus Deutschland, Entwicklungshilfe leisten, Menschen helfen. Das war mein Antrieb, in die Landwirtschaft zu gehen. Einen eigenen Hof wollte ich gar nicht. Ich wollte raus."
Sie kommt aus einer eher bodenständigen Familie, vom legendären Dürrnhof, den Johannas Großvater, Richard Scheringer, betrieb, ein Ort für unzählige Begegnungen sehr verschiedenartiger Menschen. Auch Freunde aus München fuhren oft Richtung Ingolstadt im überfüllten Auto von Feri Stützinger. Wenn Polizei in Sicht kam, musste jemand wegtauchen. Er fuhr wie der Henker, die Mitfahrer appellierten vergeblich an sein kommunistisches Bewusstsein. Dann, bei einer Tankstelle, nahm er den verbotenen Waldweg, und endlich kam der Dürrnhof in Sicht. Da traten Marianne und Richard Scheringer aus der Tür, es gab eine turbulente Begrüßung, die immer wieder auflebte, weil noch jemand aus der großen Familie heimkam, vom Feld, aus dem Stall, von der Arbeit in Kösching oder Ingolstadt.
Alle hatten die unverkennbare Scheringer-Stimme, ein wenig heiser, als würde sich die Stimme durch einen kleinen Widerstand hindurch pressen, um dann laut zu tönen und ins Lachen überzugehen. Lachen konnten sie alle gut, aus Wiedersehensfreude oder manchmal mit Spott über uns Städter, auch ein Lachen aus Verlegenheit gab es und ein hemmungsloses über gute Anekdoten und Erzählungen. Hier wurde gern erzählt, an langen Tischen unter Geweihen, bis tief in die Nächte.
Richard Scheringer hat in zwei autobiografischen Büchern sein Leben inmitten der Jahrhundertkonflikte beschrieben, Das große Los und Grüner Baum auf rotem Grund und sein geistiges Fundament in dem Buch Chaos und Maß abgesteckt.
Am Rande des Hofes tauchten manchmal drei kleine Mädchen aus dem Gebüsch auf, hell, nicht scheu, aber doch ganz in ihrer Welt und zugleich neugierig auf die Gäste: die Töchter des ältesten Scheringer-Sohns Hatti. Eine der Schwestern war Johanna. Immer noch sind ihre Farben hell, ist sie zurückhaltend und zugleich neugierig und aufmerksam. Auch die eigenwillige Familien-Stimme habe ich wieder bei ihr gehört.
Die Scheringers seien eher bodenständig, habe ich eben behauptet. Dabei gingen fünf der zehn Söhne und Töchter in den fünfziger und sechziger Jahren in die DDR, in Das ferne Land, wie ein Buchtitel einst lautete. Fast alle arbeiteten in der Landwirtschaft, von Thüringen bis Mecklenburg. Sie brachten die Familien-Tüchtigkeit mit, das Arbeitsethos, ihre "goldenen Hände", wie es immer schien, ihre Toleranz und ihre Neigung, sich um Menschen zu kümmern und sich bei Schwierigkeiten mit Haut und Haar zu engagieren.
Dung wollte niemand tragen
Die Enkel leben heute an vielen Orten, allein in Thüringen gibt es schon eine Art Dynastie von Scheringers in der Landwirtschaft. So herumgetrieben wie Johanna aber hat es kaum jemanden von ihnen.
Sie arbeitete sechs Monate im Kälberstall eines Kibbuz, im Jahre 1986, als es in Israel relativ ruhig war. Der Leiter des Stalls war "ein Kibbuznik von Anfang an". Der Kibbuz war sozialistisch angelegt. Das gemeinsame Leben und Arbeiten hat ihr gefallen, wobei gerade im Moment ihres Eintritts Abschied von den extremsten Regeln genommen wurde: Sie bauten neue Bungalows, um Kinder und Eltern nicht mehr zu trennen. Das gemeinschaftliche Essen blieb.
Anschließend fuhr sie nach Ägypten. "Der krasse Gegensatz von reich und arm hat bei mir die Reaktion hervorgerufen: dagegen muss man doch etwas tun. Der Impuls hat sicher dazu beigetragen, dass ich jetzt in der Politik gelandet bin. Damals war mein Ansatz ein Austausch zwischen reichen und armen Ländern." Ihr Partner trug das nicht mit, so ging darüber ihre Beziehung auseinander.
Nach der Rückkehr von diesen Reisen hat Johanna ihr Diplom gemacht und sich bemüht, Berufserfahrung zu sammeln, als Voraussetzung für den Einsatz in Afrika. Nach anderthalb Jahren wurde sie beim Deutschen Entwicklungsdienst (DED) angenommen für Ghana. Als sie zum ersten Mal nach Afrika flog und dort abends im Dunkeln auf die Gangway heraustrat, "umfasste mich die Wärme und ich hatte das Gefühl: hier gehöre ich her."
In Ghana ging es um die Förderung von Kleinbauern. In der Baumsavanne lagen ihre Hütten, im Übergang vom Wald zur Savanne. Träger war die katholische Kirche, das Geld kam von der Welthungerhilfe, der DED stellte Fachkräfte: zwei Freundinnen waren sie, die mitten im Busch lebten, trotz Malaria ihre Zeit dort auf drei Jahre verlängerten und das Konzept umbauten. Die Gegend war dünn besiedelt, die wenig fruchtbaren Felder lagen meist weit weg von den Dörfern, die Menschen trugen alles auf dem Kopf, Dung aber wollte niemand tragen. Die beiden jungen Frauen versuchten, die Ochsenanspannung einzuführen.
Die Arbeit in Ghana weckte ihren Wunsch, in die Wissenschaft zu gehen, um Farmsysteme zu erforschen. 1994 absolvierte sie im schottischen Edinburgh ein Aufbaustudium in Ressource-Management und machte den Master als Vorbereitung auf eine Promotion. Dort lernte sie ihren Mann Mike Wright kennen. Sie gingen zusammen nach Deutschland. Johanna fand in Göttingen ihren Doktorvater, schrieb eine Dissertation, die mit einer Forschungsarbeit verbunden war, und brachte den Sohn Ludwig zur Welt.
Auf der Suche nach einem Kindergarten für ihn gelangten Johanna und Mike 1996 ins Eichsfeld, in das Dorf Hohengandern. Da wussten sie noch nicht, dass sie in einer sehr speziellen Gegend angekommen waren, einer katholischen Insel im protestantischen Meer. Während der Gegenreformation war das Bauernland zum Katholizismus zurückgeholt und dem Bistum Mainz unterstellt worden. Das Gebiet war arm, viele Wanderarbeiter zogen von dort aus, die unter anderem am Kölner Dom mitbauten. Die Dörfer mit Fachwerkhäusern sind schön, das Handwerk gilt auch heute viel, die Strukturen sind stabil, aber auch mit Druck nach innen, in die Familien hinein, verbunden. Außenseiter haben es nicht leicht. Eine enge Welt bildete sich, in deren Abgeschiedenheit die Bewohner geborgen waren und sind. In der DDR war es ein widerständiges Gebiet, nach der Wende blühte das Katholische noch einmal neu auf - die CDU hatte Traumergebnisse.
Doch Städte wie Leinefelde sind jetzt trostlos, die Industrien still gelegt oder auf ein Minimum reduziert: die berühmten Kalibergwerke bei Bischofferode, eine Spinnerei mit einst 4.000 Beschäftigten, eine hochmoderne Molkerei. Das Eichsfeld liegt im Grunde in der Mitte Deutschlands, zwischen Uni-Städten wie Göttingen, Kassel, Erfurt, im Dreiländereck von Thüringen, Hessen und Niedersachsen, und ist doch immer noch abgelegen.
Da leben sie nun mitten im Dorf, Johanna aus Bayern, Mike aus England, in einem Bauernhaus, an dem sie immer bauen müssen. Die Jugendlichen riefen anfangs von der Straße aus: Mike, Mike! Der Engländer war interessant. Bei Partys sammeln sich 200 bis 300 junge Leute aus der Umgebung, sie organisieren alles selbst, haben ihre Subkultur, können ihre Ideen auch umsetzen, weil sie über Möglichkeiten verfügen: jemand kriegt den Trecker vom Onkel, der andere die Zapfanlage, Lautsprecher, Tische, irgendwie kommt alles schnell zusammen. In Hohengandern gehen um ein Uhr nachts die Straßenlichter aus, nur noch Mond und Sterne sind da. Es sind nette Leute, sagt Mike, aber sein Recht, als Brite bei der EU-Wahl mit abstimmen zu können, musste er sich mit einem Anwalt erstreiten. Er ist der Fremde, der den Einheimischen nicht unsympathisch ist.
Vor fünf Jahren wurde hier der griechische Wirt Dimitri vor seinem Lokal mit Baseballschlägern zusammengeschlagen, das war das Negativerlebnis für Johanna und Mike. Die Polizei ließ lange auf sich warten, nachher beschwichtigten die Behörden. Der Landrat schwört darauf, solchen jugendlichen Schlägern oder auch jetzt den NPD-Aktiven ins Gewissen zu reden. Er halte seine schützende Hand über die Menschen, erklärte er Johanna, und sie solle es auch tun. Im Oktober mietete die NPD für ihren Parteitag in Leinefelde eine Halle. Der Landrat empfahl den Bürgern, einfach wegzufahren, statt zu protestieren. Aber natürlich forderte er die Gastwirte nicht dazu auf, ihre Lokale zu schließen. Die Stadt funktionierte wie immer, die NPD legte in alle Briefkästen ein Dankschreiben für das Entgegenkommen. Auf Johannas Einwände gegen seine Taktik, sagte der Landrat nur: Ja, ja, die aus dem Westen zuziehen und andere Auffassungen haben! Dimitri hat sein Lokal geschlossen.
So etwas gibt man doch nicht auf
Die PDS-Versammlung, auf der Johanna als Kandidatin vorgeschlagen werden soll, macht in zwei Stunden einen ganzen Lernprozess durch. Denn es geht zuerst um die mögliche Fusion mit der WASG und um die Änderung des Namens PDS. Nacheinander treten Frauen und Männer auf und plädieren für die Rettung des Namens: der demokratische Sozialismus sei ein Programm, man habe es gegen Hohn und Spott seit 15 Jahren verteidigt und unter diesem Namen zunehmend Erfolge gehabt, so etwas gibt man doch nicht auf. Viel Applaus. Die erste bedachtsame Stimme kommt von einer Frau in Schwarz und mit sehr kurzen Haaren: Hehre Ziele und Gedanken reichen nicht. Wenn sie Veränderung ernsthaft wollen, dann ginge das nur zusammen mit den anderen. Im Westen aber, wo der Antikommunismus schließlich ein Grundkonsens sei, würde sich die PDS für die Identifikation von Linken nicht eignen. Und erstaunlicher Weise bekommt auch sie viel Applaus. Am Ende wird "Linkspartei." akzeptiert.
Johanna Scheringer-Wright sitzt vorn als Vorsitzende des Kreisverbandes und Landtagsabgeordnete in Thüringen. Seit einem Jahr ist sie es. Sie redet frei, bedächtig, aber auch zügig, weil sie ohne Floskeln formuliert. Manchmal senkt sie den Blick ins Konzept, dann entsteht eine Sekunde Schweigen. Sie entwickelt ihre Argumente selbst, kopiert nichts Fremdes. Ihre potentielle Kandidatur für den Bundestag sieht sie als Arbeit an, will sich im Wahlkampfteam engagieren.
Johanna wird von dieser Versammlung als Kandidatin vorgeschlagen, aber Wahlvertreter aus drei solchen Kreisverbänden müssen sie letztlich nominieren. "Die Ereignisse überschlagen sich", meint sie, "ich muss nicht in den Bundestag, aber es soll in jedem Wahlkreis ein Gesicht die neue Partei repräsentieren." Den neoliberalen Tanker zu stoppen, sei die Aufgabe, vielleicht sei es möglich, doch nur bei einer Sammlung der Gegenkräfte. Sie und Mike kennen die Folgen des neoliberalen Umbaus aus England gut, dort ist das alles zu besichtigen. Es ist ein Modell, das mit Zeitverschiebung nun auch hier angestrebt wird. Die deutsche Gesellschaft halten sie allerdings für resistenter.
P.S. In der Landtagssitzung Tage später wird ihr Antrag auf gentechnikfreie Zonen in Thüringen abgelehnt. Sie hatte sich gewünscht, dass er an einen Ausschuss zur Beratung weitergegeben würde. Die CDU bügelt in allen Landesparlamenten ähnliche Anträge ab. Die Gentechnik sei unausgereift, ist Johannas Argument, die Wirkungen lägen im Dunkeln. Johanna ist heftig gegen diesen voreiligen Einsatz gentechnisch veränderten Saatguts. Sie wäre auch, sagt sie, der PDS nicht beigetreten, hätten da im Programm unklare Formulierungen gestanden. Man setze diese Technik trotz ungenügender Kenntnisse durch, weil sie bestimmten Industriezweigen große Profite bringe.
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