"Jetzt bin ich blind geworden", sagt er. Er teilt es nach einer der letzten Augenoperationen am Telefon mit - in einem unnachahmlichen Ton, der kein verwischtes Trostwort zulässt. Kein Hinauszögern der schwer zu akzeptierenden Wahrheit, doch den Schreck mildert er zugleich: Ich sehe noch Licht und Schatten, das erleichtert mir die Orientierung in der Wohnung. In dieser wunderbaren Züricher Wohnung, wo er seit über fünfzig Jahren lebt. Früher war sie die psychoanalytische Praxis für ihn, seine Frau Goldy Matthèy und den Freund der beiden, Fritz Morgenthaler. Dann arbeiteten und wohnten hier Paul und Goldy, irgendwann war es nur noch Wohnung, dafür Treffpunkt und Unterkunft für Freunde. Jemand nannte es "unser Epizentrum". Alles ist alt und gediegen in den hohen Räumen, die Fenster, die nicht unbedingt dicht schließen, die Türklinken, Wasserhähne, Kacheln. Einige afrikanische Holzskulpturen gibt es, doch trotz der langen Reisen durch Afrika waren Paul und Goldy keine Sammler von Kultgegenständen und Götzenbildern, beteiligten sich nicht am Ausverkauf dieser Dinge. Was hier an Figuren steht - ruhig, in sich gekehrt, aber scheinbar einverstanden mit dem Ort - gehörte zu den Geschenken, die sie einst nicht ablehnen konnten und wollten. Auf dem gar nicht breiten Bett der beiden liegt eine weiße, gewebte Decke, mit dünnen schwarzen Streifen. Goldy lächelt: Ja, sie ist schön, übrigens eine Totendecke aus Äthiopien. Kurz schaut sie auf die Reaktion, die das auslösen mag und fügt an: "Uns stört es nicht." Auf diesem Bett ist sie später, 1997, gestorben, 86jährig, an zunehmender Schwäche, nach "langem und zärtlichem Abschied", wie sich ein Freund erinnert.
Ein Jahr zuvor waren sie in dem Dokumentarfilm Mit Fuchs und Katz´ auf Reisen des Schweizer Fernsehens nach ihren Lebensprinzipien ausgefragt worden. Sie antworteten freimütig wie immer, es gehörte ja immer zum großen Vergnügen am Gespräch mit ihnen, dass da plötzlich - fast ohne Anstrengung - gewohnte Tabus außer Kraft gesetzt wurden. Im Film geht es um ihr Leben voll politischen Engagements, um Freiheit, auch um sexuelle Treue, die nicht mit der lebenslangen Treue, dem inspirierten Zusammenleben eines Paars verwechselt werden dürfe, und es geht um den Tod: Fürchten sie ihn? Meiden sie das Thema? Nein, das tun sie nicht. Allerdings sagte der im Film hellwache, schlagfertige Paul, dass ihm die Vorstellung eines Lebens ohne Goldy uninteressant wäre. Und es gäbe ja auch keinen Zwang dazu, er kenne die Mittel, um sich das zu ersparen, hängte er beiläufig an. Das hörten alle Freunde, sie schwiegen, aber als Goldy starb, fühlte Paul Parin ihre Sorge, fast Angst, er könnte seinem Leben ein Ende machen. Und eines Tages sagte und schrieb er ihnen mit der ihm eigenen Offenheit, er würde von diesem Gedanken Abstand nehmen: Ihm sei klar geworden, dass man den anderen etwas antue, wenn man sich das Leben nimmt.
Als sie sich 1939 begegneten, war Goldy gerade mit zerrütteter Gesundheit aus dem Spanischen Bürgerkrieg zurückgekommen, wo sie als Freiwillige im Sanitätsdienst bei den Verteidigern der Republik gegen den Putschisten Franco war. Es war die Tat, die für sie und ihn ein Maßstab im Leben blieb. Sie begannen sich um Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland und aus besetzten Ländern zu kümmern und stießen schnell auf scheußliche Widersprüche und Selbstlügen der neutralen Schweiz, die das Land bis heute belasten. 1944 gelang es ihnen, mit vier weiteren Ärzten zu den Jugoslawischen Partisanen vorzudringen.
Jahrzehnte später schrieb er ein Buch darüber. Er war es stets, der aufschrieb, was sie zusammen zu erzählen hatten, sie las mit und brachte das Ihre ein. So hielten sie es mit ihren Texten. "Es ist Krieg und wir gehen hin" erschien 1991, im Jahr, als Jugoslawien zerfiel. Ich kam zu ihnen in ihr Berliner Hotelzimmer, um ein Interview zu machen. Wir hockten auf Sesseln und dem Bettrand, das Tonband in der Mitte, Kaffeetassen, Aschenbecher um uns. Die Heizung im Zimmer war hochgedreht, ich sah im großen Spiegel mein rotes Gesicht.
Jugoslawien zerfalle nun ähnlich wie die Sowjetunion, sagte ich, obwohl beide Staaten doch so verschieden waren. An Krieg war noch nicht gedacht. Er entgegnete darauf: "Ich glaube, es hat nicht funktionieren können, weil gleichzeitig mit dem Fortschritt ein Es-soll-so-bleiben-wie-es-ist eingeführt wurde ... Die Parteistruktur sollte bleiben, aber wo Macht, wo Herrschaft ist, ist es dem Fortschritt abträglich." Über sich erklärten sie beide im Wechsel: Sie hätten in ihrem Drang nach Freiheit nicht eine neue Geborgenheit in einer Gruppe oder einer Partei gesucht, obwohl sie die Berührung mit ihnen nicht scheuten. Für sie sei das Wichtige, dass sie sehr gute, verlässliche Freunde hätten, die mehr oder weniger gleich gesinnt seien, es ist "unser Boden, aus dem man nicht herausfallen kann ..."
Da war dieses Motiv, das ihre Ausstrahlung ausmachte: die geistige Unabhängigkeit und zugleich die enorme Bereitschaft zur Solidarität, die aufgeklärte Vernunft, die ihre Anteilnahme nicht abkühlt. Ihre Fähigkeit zur Freundschaft. Das Interesse. Neugier nennt er im FAZ-Fragebogen seine "Lieblingstugend". Die Freunde bestehen jetzt in hinreißender Weise ihre Bewährungsprobe, in diesen Jahren, die Paul Parin allein lebt und das Augenlicht verloren hat.
Was sie in den extremen Situationen bei den Partisanen erlebten, wo sie konfrontiert waren mit den alten bäuerlichen Strukturen Montenegros und mit jungen Sterbenden, brachte sie zur Psychoanalyse. Goldy sagte: "Es war die Fortsetzung der Guerilla mit anderen Mitteln." Sie sahen da einen Weg zur Emanzipation, der eigenen, aber weit über sich hinaus eine Möglichkeit für alle, mündig zu werden.
Als ihre Praxis in Zürich erfolgreich lief, geriet Afrika in ihr Blickfeld. Paul Parin, Goldy Matthèy, Fritz Morgenthaler und seine Frau Ruth wurden wahre Forschungsreisende. Sie fanden einen bis dahin unbekannten Zugang zur Kultur der Dogon und Agni in Westafrika, es war eine neue Art des Begreifens und Beschreibens, die wiederum etwas Erhellendes für westeuropäische Gesellschaften hatte. "Es war uns gelungen, die Freudsche Psychoanalyse in einigen traditionsgeleiteten Kulturen anzuwenden. Mit einer gesellschaftskritisch erweiterten Praxis und Theorie sind wir in unsere eigene Kultur zurückgekehrt", fasste er bei der Verleihung des Sigmund-Freud-Preises der Stadt Wien 1999 zusammen. Ihre neuartige Gesprächsführung begründete eine eigene Schule innerhalb der Ethnologie, die seitdem an mehreren Universitäten etabliert wurde. Parins Bücher dazu werden weit über das Fachpublikum hinaus gelesen, auch mehrfach aufgelegt, es sind Titel wie Die Weissen denken zu viel oder Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst.
Irgendwann begann er, wohl fast zur eigenen Überraschung, Erzählungen zu schreiben. Sie gelangen ihm und er setzte es fort. Ein Buch nach dem anderen erscheint seit den neunziger Jahren. Es sind Geschichten aus der Kindheit in Slowenien, aus Afrika oder über Entscheidungssituationen von Menschen, die er kannte, sie sind spannend, weil sie vom rücksichtslosen Blick des Psychologen leben und zügig erzählt sind. Er sagt dazu, er schreibe, wie er es selbst gern lesen würde.
So kennen die einen Paul Parin als Begründer der Ethnopsychoanalyse, andere als streitbaren Psychoanalytiker, auch als Publizisten in vielen Blättern und andere wiederum vor allem als Autor von Erzählungen.
Den heutigen Zustand der Psychoanalyse aber hat er einmal erbärmlich genannt: Sie habe auf ihr gesellschaftskritisches Potenzial verzichtet. In einer Rede 1999 vor Kollegen in Bologna: "Ist die Psychoanalyse unter dem Druck der Verhältnisse, in den sie geraten ist, einer sozialen Amnesie verfallen? ... Hat die Kulturheuchelei, die Freud beschrieben hat, wieder einmal über die Aufklärung gesiegt? Ist unsere Welt so aussichtslos kaputt, dass wir die Tragik menschlicher Existenz dumpf und dumm hinnehmen müssen, und es sich bald nicht mehr auszahlt zu forschen und zu analysieren?" Er berichtet, dass er in den letzten gemeinsamen Arbeiten mit Goldy angefangen habe, eine Psychoanalyse der Macht zu entwerfen, und zwar in der Hoffnung, "dass sich daraus eine brauchbare Politische Psychologie entwickeln würde". Denn unübersehbar sei es, dass seit Beginn der neunziger Jahre "unbewusste Faktoren, die die Politik mitbestimmen, immer mehr hervortreten: Eroberung und Erhaltung der Macht als einziger Antrieb". Der Verlust an sozialer Kontrolle, die Raubwirtschaft, auch die Ansammlung von Massenvernichtungswaffen habe "Menschenvernichtung derart banalisiert, dass politische Entscheidungen den wahnhaften Phantasien Geisteskranker immer ähnlicher werden: Vertreiben, Vernichten, Ausrotten." Parin meint - und wieder zeigt er sich als einer, der trotz der niederschmetternden Diagnose nach Lösungen sucht - die Psychoanalyse sei gefragt.
Unser Thema, seines und meines, blieb Jugoslawien. Die Selbstzerstörung und Aggressionen waren ihm ein Gräuel, wie eine persönliche Verletzung. Er kennt das Land so gut, mochte es, bedachte es auch mit Kritik, vor allem die Partei, hielt jedoch immer Veränderungen für möglich. Im Machtstreben von Milosevic wie in westlicher Ignoranz sieht er den Hauptanteil an Schuld. In vielen Artikeln umkreist er seither die geistige Region, die Landschaft, die Geschichte.
Aber eigentlich gab und gibt es gar nicht "ein Thema", es hat viel mehr in jenem Hotelzimmer ein Erzählstrom begonnen, der unerschöpflich scheint. Pauls Erzählen kommt mir inzwischen wie ein Adernnetz von Biografien vor, das er über den Erdball gezogen hat, denn er erinnert sich präzise an so viele Menschen, ihre verwickelten, unglaublichen Geschichten, an Orte, Namen, Daten. Und alles ist verknüpft durch Assoziationen und Berührungen der Schicksale. Die Lust an den Geschichten kommt auf in eleganten Restaurants, in Bahnhofslokalen und Wohnungen, wo ich ihn oder beide schon traf. Am meisten entfalten sie sich in der Parinschen Züricher Wohnung, da wo der See fast ins Zentrum der Stadt reicht. Immer die Kaffeetassen, Zigaretten, Cognacgläser. An Goldys Fingern hängen locker silberne Ringe mit großen Steinen, sie könnte sie abschütteln. An seinem mageren Handgelenk zwei Kupferreifen. Das ist die feine Spur der Extravaganz oder auch des Spielerischen bei ihnen. Sie sind ganz und gar freudige Aufmerksamkeit. Und allmählich übertrifft man sich selbst beim Erzählen angesichts der neugierigen, staunenden Gesichter. Bei ihm legt sich während des Zuhörens die Zunge weich und zuckend in den vorgeschobenen Unterkiefer, und er zupft am Schnurrbart.
Zum Abendessen bereitet Goldy in einem alten kleinen Grill aus verbeultem Blech Steaks. Eine Elektroplatte gibt es auch, die minimalste Kücheneinrichtung. Eine Wand ist ganz und gar mit Fotos beklebt, unablösbar, manche vergilbt, Schnappschüsse, Gesichter von Freunden, Bilder von den Afrikareisen. Dazwischen blicken Füchse und Katzen mit unergründlich grünen Augen. Das sind die Tiernamen, die sie sich gaben und die sie begleiteten. So geht es noch lang mit dem Erzählen. Nachts fahren sie mich im roten Sportwagen am See entlang, von dem Nebel über das Ufer bis auf die Straße quillt, zu meinem Quartier zurück.
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