Nun haben wir viele Diktatoren

Irak Kleine Berichte von der großen Zerstörung

Da liegt zwischen Papieren ein vergessener Zettel, vor acht Jahren bekritzelt: "Bagdad und die irakischen Wüsten werden die zweite Nacht mit Raketen belegt. Neueste Waffen wie aus SF-Filmen suchen ihr Ziel. Tagsüber werden per Flugzeug und Satelliten die Ergebnisse analysiert und die neuen Ziele bestimmt - vermeintliche oder wirkliche biologische Waffenlager. Das soll vier Nächte so gehen, bis der Ramadan beginnt." Nach einer missratenen Feier hatte ich zu Hause im Fernsehen die kurz aufflackernden Bilder von "chirurgisch präzisen Einsätzen" gesehen. Wegen des Kontrasts habe ich es wohl festgehalten und in eine Mappe über die neuen Kriege gesteckt.

Die Stimmungslage war ähnlich wie heute: eine Art ohnmächtigen Abscheus - Unsicherheit über verlogene oder stimmige Informationen - Mitleid mit den Betroffenen. "Die Menschen gehen nicht in Bunker, weil 1991 eine Rakete ihren Weg durch alle Mauern gefunden hatte und 3.000 Menschen verglühten", habe ich noch notiert. Ein kaum wahrgenommener amerikanischer Dauerkrieg begleitet ab 1991 ein Dutzend Jahre lang das extreme Embargo, das den Irak - das bestentwickelte arabische Land - immer tiefer ins Elend stürzte.

Als vor vier Jahren unter George Bush der endgültige Militärschlag gegen Saddam Hussein vor aller Augen durchgeplant wird, bereiten sich Iraker, die im deutschen Exil leben, auf ihre Rückkehr vor. Sie packen, telefonieren, treffen nahe Verwandte in Jordanien oder auf kurdischem Gebiet, das seit 1991 nicht mehr unter Saddams Kontrolle steht. Viele sind über 20 Jahre lang draußen. Sie stecken in einem Dilemma: Eine Befreiung durch die USA mittels Krieg ist das Letzte, was sie wünschen, und doch beginnen sie, Ja zu sagen. Das Regime scheint von innen nicht überwindbar zu sein. Sie fürchten um ihre Familien, aber sehen keinen anderen Ausweg als den militärischen. Dabei hoffen sie auf die Zielgenauigkeit amerikanischer Waffen und beruhigen sich mit dem Zutrauen in die "gesunden Kräfte" im Inneren.

Als sie aus dem Irak fliehen mussten, verließen sie trotz des Terrors ein aufgeklärtes, modernes Land. Sie erinnern sich an viele gut ausgebildete Männer und Frauen, frei von islamistischem Druck, und sind sicher, dass sie nur darauf warten, die Belange des Irak in ihre Hände zu nehmen.

Damals stellten sich auch Khayon und seine Frau Kawthar sehnsüchtig die Wiederbegegnungen mit ihren Leuten und Heimatorten vor. Ihre hier geborenen Kinder träumten davon, auf dem Dach, unter einem schwarzen Himmel, einzuschlafen und die Sterne zu sehen, die dort viel mehr seien als über Berlin. Als sie schließlich wie viele andere Familien hinfuhren, wurden es ungeheuerliche Reisen der Wiederbegegnungen, doch sie mussten erkennen, dass es für sie mit ihren Kindern dort keinen Platz, keine Perspektive gab.

Khayon möchte nicht gern darüber reden. Auch andere Iraker weichen Fragen nach ihren Erlebnissen aus, die sie seither in ihrer Heimat hatten. Dass die Menschen jetzt nicht mehr in einer Atmosphäre der Angst leben wie unter Saddam, betonen sie alle. Über die neue Angst muss man nicht viel sagen, alle Welt kennt sie aus den täglichen Medienberichten. Die Enttäuschung ist zu tief und macht stumm, ihr scheint fast etwas Beschämendes anzuhaften.

"Ich bin ein Looser", sagt Khayon. Die beiden Kinder drehen sich zu ihm um: "Was ist ein Looser?" Der achtjährige Samer murmelt: "Das ist so etwas wie ein Verlierer, stimmt´s?" - Khayon bestätigt es. Die Kinder rufen: "Du bist kein Looser, Papa!"

Khayon lächelt mild. "Doch, doch", sagt er sanft. "Ihr beiden seid wunderbar, aber sonst - hier bin ich ein Mensch zweiter Ordnung, hier konnte ich nie in meinem Beruf arbeiten, und meine Ideen von einem sozialistischen Irak sind kaputt gegangen."

Khayon hat Pharmazie studiert, flüchtete 1979 in die Vereinigten Arabischen Emirate, blieb als Apotheker zwölf Jahre dort. Beim Golfkrieg Anfang 1991 wurden alle Iraker verdächtigt, verhaftet, ausgewiesen, er kam über mehrere Grenzen irgendwann nach Deutschland und wurde als politischer Flüchtling anerkannt. Seine Frau kam später aus Basra nach.

Die Kinder sollen erzählen, schlägt Khayon vor, um nicht weiter bedrängt zu werden, sie waren 2004 mit im Irak. Die elfjährige Hadil, blitzgescheit, die schlagfertigste in der Familie - darum möchte sie Moderatorin werden, und alle trauen es ihr zu - holt gleich das Mikro heran und erzählt: "Wir sind nach Syrien geflogen und haben ein Taxi genommen in eine Stadt, wo wir schlafen wollten, da war eine irakische Freundin aus Berlin. Wir haben ein Hühnchen gegessen und noch nachts ein Eis gekauft. Am nächsten Tag sind wir mit einem Bus an die Grenze gefahren, wir haben lange gewartet, da war es voll langweilig, ein Hund kam zu uns, und dann sind wir über den Fluss mit einem Boot gefahren, weil es keine Brücke gibt. Ich hatte eine Mütze mit einem Reißverschluss, die ist ins Wasser geflogen." - Das war der Euphrat, fügt die Mutter hinzu, die dabei sitzt und Datteln entkernt.

Samer, der achtjährige Bruder, ist ein leiser Junge, lange Wimpern verschatten seine Augen. Ihm fällt ein: "Da ist ein Polizist gekommen, der hat gesagt, aha, ihr seid aus Berlin, da habt ihr doch bestimmt ein kleines Geschenk für mich mitgebracht" - und Hadil setzt fort - "wenn ihr nichts habt, muss ich eure Taschen durchsuchen, vielleicht habt ihr Waffen. Natürlich hatten wir keine. Dann haben wir ihm einen Deospray geschenkt, das war eigentlich für unsere Verwandten."

Aus dem kurdischen Norden ist die Familie mit einem Sammeltaxi nach Bagdad gefahren. "Die Taxis sind weiß-orange, eine Hälfte weiß, eine orange", sagt Samer und Hadil weiß noch: "In Bagdad war Schießen und Gewalt, und der Taxifahrer hat gesagt, wir sollen da nicht übernachten, sondern weiterfahren nach Qud. Es war ganz dunkel, als wir ankamen. Papa fand sein Haus nicht."

In seiner Heimatstadt Qud traf Khayon nach 24 Jahren Geschwister, Onkel und Tanten. Sein Vater war in den neunziger Jahren, seine Mutter erst Monate vor dem Besuch gestorben. Sie fuhren zu den Gräbern auf dem riesigen schiitischen Friedhof in Nedjev.

Die Kinder wechseln sich am Tonband ab, streiten um Erinnerungen, es sind lauter Einzelbilder von Brotfladen am Ofenrand, Kätzchen, einem Ochsenschädel an der Straße, Kissenschlachten auf den flachen Dächern. Beim Abhören ihrer Erzählungen scheint ein wirklicher Irak hervorzutreten mit den Alltagsdingen, dem Zusammenhalt der Familien, der dichten, nachbarschaftlichen Kommunikation, auch den Gefahren. "Als wir von Qud nach Basra gefahren sind", erzählt Hadil, "da kamen plötzlich viele Menschen, und meine Mutter hat sich erschrocken und schnell ein Kopftuch genommen, sie dachte, vielleicht töten sie uns oder so was." Kawthar erklärt, dass sie im Monat der schiitischen Pilgerzüge reisten und ihnen Männer mit grünen Fahnen entgegenstürmten, auch welche mit Waffen.

Und weiter erzählen die Kinder im Wechsel: "In Basra war ein Schaf im Hof, das hat uns immer freundlich angemökt. Und eines Tages sollte es geschlachtet werden, für Papa und uns, sie zeigen damit die Freude über den Besuch, das ist so. Als sie es gemacht haben, ist Papa mit uns weggegangen. Aber wir haben noch gesehen, wie das Blut unter der Tür rausgeflossen ist. Wir waren so traurig und haben nichts davon gegessen." Aber dann fällt Hadil ein: "Auf dem Dach gab es Tauben. Eine weiße haben sie mir geschenkt, sie ist dort geblieben, aber es ist meine Taube."

"Man kann nicht mehr mit den Kindern hinfahren", sagt Kawthar traurig. "Auch vor zwei Jahren hatte ich viel Angst, habe ihnen gesagt, sie dürfen draußen nicht Deutsch sprechen, denn die Banden stehlen solche Kinder und verlangen Lösegeld."

Kawthars Bruder Ali Ismail ist gerade von einer Reise aus dem Irak zurückgekehrt, er wird erwartet, als wäre er auf einer besonderen Mission gewesen. Endlich erscheint er, hochgewachsen, selbstbewusst, und ich begreife das Besondere: Er wird demnächst nach Kurdistan gehen, das als amerikanische Schutzzone vom Embargo nicht betroffen war und eine Infrastruktur aufbauen konnte. Im Grunde zeigt der Unterschied zum übrigen Irak, was dem Land fortlaufend angetan wird. Ali Ismail ist promovierter Spezialist für Wasserwirtschaft und Fischzucht. Kurdisch spricht er nicht, aber niemand habe ihn dort unfreundlich aufgenommen, erzählt er. Die Leute hätten ihm zuliebe arabisch gesprochen. Tatendrang geht von ihm aus. "Wenn man von der Heimat, vom Aufbau spricht, soll man sich, wenn irgend möglich, beteiligen. Ich werde auch Einfluss ausüben können, meine Gedanken, meine fachlichen Kenntnisse weitergeben." Das bräuchten sie dringend, hätten die Leute ihm erklärt. Kurdistan ist eine wasserreiche Region, Ali Ismail verhandelt über ein Zentrum für Wasserökologie und Fischerei, deutsche Institute wollen es unterstützen, warten auf grünes Licht, und das werde dann nicht nur für Kurdistan gelten, sondern für den ganzen Irak.

Er erzählt auch von seinen Besuchen in Basra: "Die soziale Lage, die politischen Konflikte - alles ist dunkel. Das einzig Schöne - ich bin dort unter meinen Geschwistern und alten Freunden. Aber es ist schwierig für sie. Und meine Freunde sehen aus wie 70, dabei sind wir alle um die 50. Früher waren sie offen und lustig - jetzt sind sie traurig, manchmal nicht ehrlich, alle haben Angst vor allem. Die Frauen - es ist nicht nur der Schleier, der ist vielleicht nur Symbol - aber sie werden immer mehr zurückgedrängt. Man findet nie fröhliche Frauen auf der Straße, alles schwarz."

Könnte der Irak zerfallen? Vor 2003 haben Khayon und seine Freunde diese Möglichkeit ausgeschlossen. Ali Ismail glaubt jetzt, dass die Gefahr besteht. Früher hätte man das Land nie nach Sunniten, Schiiten, Kurden, Arabern und Assyrern sortiert. Diese neuen Szenen, die von den Besatzungsmächten "mitgespielt" würden, seien fremd und gefährlich. Er setzt bedächtig fort: "Die schiitischen Parteien verfolgen zur Zeit egoistische Ziele, die Provinz Basra ist reich, Schiiten sind die Mehrheit im Irak, die Amerikaner wollen sie für sich gewinnen. Aber die Menschen leben in vielen Gegenden gemischt, eine Aufteilung wäre eine neue Katastrophe." In einigen Stadtvierteln Bagdads ist sie in gewalttätiger Weise im Gange. Der Irak brauche Zeit, ein eigenes Modell zu finden - Föderalismus wäre eine Lösung. Zuerst aber müsse das Land zur Ruhe kommen. Wenn die Amerikaner jetzt abzögen, glaubt Ali Ismail, würde der offene Krieg ausbrechen.

Eine Hoffnung seien die jungen Leute, meinen Khayon und Ali Ismail, denn der Glaube an die "starken gesunden Kräfte im Land" ist ihnen abhanden gekommen. Aber solange bewaffnete Milizen und korrupte Mullahs herrschen, würden die jungen Leute darüber nachdenken, wie sie ins Ausland entkommen können. Sie gerieten in den stillen, nicht abreißenden Fluss, den Exodus, der den Irak ausbluten lasse.

Nun hält sich auch Khayon nicht mehr zurück, beugt sich vor und spricht Sätze, als hätten sie in ihm die ganze Zeit bereit gelegen: "Die Leute wissen leider nicht, was sie mit der Freiheit machen können. Sie wollen überleben und folgen den religiösen Führern. Es gibt noch Gruppen und Parteien, die nicht islamisch sind, aber sie sind schwach. Vielleicht wird mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen etwas Neues entstehen. Die Kommunistische Partei, früher eine Volkspartei, von Saddam fast zerstört, hat einige Abgeordnete, stellt einen Minister. Die Nationale Demokratische Partei ist klein. Die beiden kurdischen Parteien, die nicht religiös ausgerichtet sind, interessieren sich nur für die eigene Region. Die islamischen Parteien ziehen alles auf sich. Die Mullahs haben kein Interesse daran, dass die Leute lesen und wissen. Sie sollen glauben und gehorchen. Das Blut, das jetzt im Irak fließt, ist ihre Schuld. Sie wollen Krieg, nicht Frieden. Im Frieden werden die Menschen normal und erkennen die Dinge. Saddam war ein Diktator, jetzt haben wir viele neue, kleine Diktatoren", sagt finster Khayon. Und die Familie schweigt.

Es ist der letzte Tag des Ramadan. Ab halb sieben gibt es Abendbrot. Kawthar hat gefastet, sie gibt jedem eine Dattel, wir trinken Joghurt mit Wasser und Salz. Für sie scheint an den Ritualen die Treue zur Sitte das Wichtige, es läuft ohne religiöse Bekundungen ab. Sie ist eine schöne Frau, die Jeans sitzt knapp, barfuß geht sie mit leichtem Schritt durch die Wohnung, legt auf den Boden des Wohnzimmers Küchentücher, stellt eine Schüssel Teig hin, Kuchenbleche, Dattelmus, das sie aus den entkernten Datteln gedrückt hat, Kokosraspeln. Die Kinder hocken sich mit ihr hin, geduldig kneten und füllen sie kleine Gebäcke für die vier Festtage, die bevorstehen. Sie machen es wie in Basra.


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