Nur mit Gewalt beherrschbar

Haiti Im Westen wird ein Bild des Karibikstaates gezeichnet, bei dem das Chaos wie der Horror von Anarchie nicht fehlen dürfen und die Historie vielfach ausgeblendet wird

Joe hieß der Mann aus Haiti, es war ein falscher Name, seinen eigentlichen gab er nicht preis. Er war geflüchtet, ich traf ihn 1971 in Bulgarien. In Port-au-Prince war ihm in den Rücken geschossen worden, vor den Augen seiner Familie. Die hatte in einer Reihe stehen müssen, Vater, Mutter, zahlreiche Geschwister. Halbgeschwister waren sie. Joe war das uneheliche Kind des Vaters, der den Sohn, als er ins Schulalter kam, zu sich holte. Seine Mutter war sehr jung und arm, über sie sprach er mir gegenüber wie von einer Schwester.

In Joes Erzählungen ging es in der großen Familie beim Vater und unter seinen eigenen Freunden warmherzig und großzügig zu. Das Leben war auf seiner Seite, auf der Seite seiner Leute. Nur nicht auf der Seite seines Landes voller Not. Joe schloss sich dem Widerstand an aus Mitgefühl und wegen seines Gerechtigkeitssinns. Es muss eine Phase in den sechziger Jahren gegeben haben, in der allen in Haiti die Befreiung vom Duvalier-Regime nah schien. Aber der Diktator François Duvalier konnte dem zuvorkommen, er bekam wieder die Oberhand, der Widerstand wurde zerschlagen.

Ideale und Hoffnungen

Die letzte Erinnerung an die Familie war, dass ein Offizier der Frau seines Vaters ins Gesicht schlug, als sie eine Bewegung zu Joes Verteidigung machte. Diese Erinnerung schmerzte ihn wieder und wieder. Damals wachte er in einem Keller zwischen Leichen aus der Bewusstlosigkeit auf. Als die Militärs entdeckten, dass er noch lebte, war der Mordrausch verraucht, und sie warfen ihn in eine überfüllte Zelle. Wie es seinen Genossen gelang, ihn nach zwei Jahren herauszuholen und außer Landes zu bringen, weiß ich nicht mehr. Seine Familie hat er nicht noch einmal sehen können. In den sozialistischen Ländern Osteuropas wurden seine Verletzungen ausgeheilt, er wurde weiter gereicht, konnte studieren, er war dafür dankbar. Aber er war traurig. Er war in Europa fehl am Platz. Später nahm Kanada ihn auf. Schon wieder etwas näher an Haiti.

Solche Lebensläufe wiederholen sich an vielen Orten der Welt. Dennoch greife ich ihn hier auf, denn ich fand bei Noam Chomsky den Satz: Für jene, „die das Privileg hatten, mit den Menschen dieses gepeinigten Landes in Berührung zu kommen“, sei es „unvermeidlich“, die Ursachen der andauernden Misere in Haiti verstehen zu wollen. Ein Privileg nennt Chomsky diese Berührung, weil sie die politische Schläfrigkeit verscheuchen kann, mit der man meist auf die Welt blickt, ohne sie zu verstehen. Man kann aufwachen. Er meint den wachen Blick auf die USA und deren Verantwortung für haitianisches Elend. Das ist für Chomsky Emanzipation. Auch Europa – in erster Linie Frankreich – hat seine Anteile an der Ausbeutung des Karibikstaates.

Am tiefsten werden Haitianer gekränkt mit Sätzen wie „die frühe Befreiung von der Sklaverei hat ihnen nicht viel gebracht“. Oder: „Haiti ist bald in Korruption und Gewalt versunken.“ So wird auch jetzt in unzähligen Varianten von der Karibikinsel gesprochen. Die Geschichte Haitis aber ist eine von mutigen Menschen, die sich immer wieder erhoben – die Geschichte von Idealen, Hoffnung und Pathos, von Klassengegensätzen und Rivalitäten, immer überschattet von extremen Eingriffen von außen: nach der Entdeckung durch Kolumbus, als wenig später europäische Eroberer die Einwohner auslöschten und die Insel Hispaniola mit afrikanischen Sklaven neu bevölkerten. Seit die Franzosen eine der gewinnbringendsten Kolonien aus ihr machten, riss die Gewaltkette nicht.

Ferne Geschichte nah

Als sich die Sklaven im Geiste der Französischen Revolution befreiten, weckten sie bei den alten Mächte die enorme, mit Aggression aufgeladene Furcht vor „Ansteckung“, die – wie Noam Chomsky schreibt – bei jedem Fall von Selbstbefreiung aufkomme, auch gegenüber den Nordamerikanern, als die sich unabhängig machten.

Europäer sind vielleicht geneigt, diese zwei Jahrhunderte der Knebelung Haitis als abgeschlossene Historie zu betrachten. Als etwas nicht mehr Wirksames. So kamen 1825 Kriegsschiffe, die Haiti dazu erpressten, enorme Entschädigungen an Frankreich zu zahlen – bis 1947.

1915 bis 1934 gab es die direkte militärische Besetzung durch die USA. Ferne Geschichte für den nicht „berührten“ Leser. Haitianer haben ein anderes Zeitempfinden. Ihnen ist das alles nah, sie kennen die Aufständischen wie Verwandte, die Getöteten und Geflüchteten wie ihre Gefährten. Sie kennen auch die Mörderbanden, die verkommenen Werkzeuge der Eliten. François Duvalier, der grausame, so genannte Papa Doc, hat den Voodoo-Aberglauben ausgenutzt und das Gerücht in Umlauf gebracht, er verfüge über geheime Kräfte, um alle zu sehen, die sich gegen ihn verschwören, wo immer sie sich versammeln. Und da die Empörer fortlaufend entdeckt und getötet wurden, schien den terrorisierten Menschen, es könnte etwas an dem Gerücht sein. Auch davon erzählte Joe. Die Macht aber hatte der Antikommunist Duvalier – der Antipode zu Fidel Castro – von den USA geliehen.

Die USA – unsere Verbündeten, unser Westen, unsere Kultur, unsere Mitverantwortung! Mit ihrer mächtigen Unterstützung im Rücken konnte nach dem Tod des Diktators Duvalier im Jahr 1971 auch noch sein fetter, missratener Sohn am Ruder bleiben. 1990 brachte eine Volksbewegung den Priester Aristide an die Regierung. Bush senior antwortete als Präsident, indem er die US-Hilfe von den offiziellen Institutionen abzog und sie auf die abgeschlagenen Eliten, die alten Freunde, umlenken ließ. Um nur ein einziges Beispiel aus jüngerer Zeit für die Obstruktion von außen zu nennen.

Waren es zwei oder drei Tage nach dem Erdbeben, bis die Stichwörter Plünderung und Chaos ins Spiel gebracht wurden? Bis wir mit besorgten Mienen von drohenden Gewaltausbrüchen zu hören bekamen? Das erste Foto, das ich von dem beschworenen Chaos sah, zeigte junge Männer, die an den schräg zusammengebrochenen Betonwänden eines Supermarkts hochgeklettert waren und von innen Kartons entgegennahmen. Davor hielten Uniformierte unentschlossen ihre Gewehre hoch. Ähnlich war es im überschwemmten New Orleans.

Ist es etwa nicht zwingend, sich in einer so außergewöhnlichen Notlage wenigstens aus verlassenen Supermärkten zu versorgen? Die gepanzerten Autos, Hubschrauber, Soldaten in Tarnuniformen und dazu die Imagination einer nur mit Gewalt kontrollierbaren Masse trennen uns von den hungernden, durstigen, obdachlosen, verletzten Haitianern. Wie erleben es amerikanische GIs, wenn sie Lebensmittelpakete aus Helikoptern werfen und sehen, wie unter ihnen die Leute rennen, sich auf die Pakete stürzen? Welche Bilder bleiben davon? Dieses System trennt. Eine Frau mit Kind sitzt am Straßenrand, schaut den Rennenden nach und sagt: „Das ist schlecht, dass sie nicht landen. Das macht die Leute verrückt.“

Mehr über den Einsatz der US-Armee schreibt der Amerikaner Michel Chossudovsky unter globalresearch.ca oderhttp://tinyurl.com/y96j5z4

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