Alles ist noch da. Die Freude am Wiedererkennen ist im Grunde ebenso schön wie das Entdecken von Neuem, nur wird sie viel seltener gepriesen. Doch es ist auch manches hinzugekommen, und etwas davon würde sich am liebsten verbergen: die Spur des vergangenen Krieges, der natürlich gar nicht vergangen ist. So wechseln Beglückendes und Bestürzendes auf der Reise unentwegt. In den absichtslosen Notizen, die krakelig auf den Busfahrten und auf den Felsen am Meer entstanden, ist das plötzlich wieder sichtbar.
Man sollte über beides sprechen. Meist wird bezweifelt, dass es möglich ist, sich zu freuen und zugleich mit anderen zu trauern oder überhaupt an Krieg zu denken. Die Abwehr gegen ein Wissen, das die Idylle stören könnte, ist unglaublich schnell mobilisiert. Das gilt gar nicht nur für Touristen, auch die Einheimischen möchten nicht erinnert werden. Mir scheint, dieser Selbstschutz ist eine Anstrengung, die ähnlich viel Kraft verbraucht, wie man aufbringen müsste, um für den Schmerz durchlässig zu bleiben. Und man bedenke: es ist eine Anstrengung ohne Belohnung, ohne Erkenntnis.
Über die Gleise
Ljubljana. Der Flughafenbus hat schon Fahrt, aber er hält noch einmal, und ich darf einsteigen. Ein leises Gedudel aus dem Radio. Der Fahrer und ein Gast plaudern, der eine slowenisch, der andere serbokroatisch mit slowenischen Einsprengeln. Sie sind keine Bekannten, das ist zu merken, mal reden, mal schweigen sie, sie strengen sich nicht an bei ihrem Gespräch. So ein leicht dahinfließendes Reden wird von nun an die ganze Reise bis an die Adria der Begleitton sein. Nie war mir das früher so aufgefallen: Redeland.
Am hübschen Hauptbahnhof Ljubljana, der nur zum Teil saniert ist, ignorieren die Leute die Unterführung und laufen direkt über die Gleise, zwischen denen rissige Bretter liegen. Die Lässigkeit, auch die Regelverletzungen vermehren die gute Laune: endlich wieder angekommen. Im Zug nach Zagreb sitzt mir gegenüber eine slowenische Künstlerin, die heute ihr Geld als Reiseführerin für amerikanische Touristen verdient. Sie seien alt, freundlich und würden ununterbrochen von ihrem alltäglichen Lebenskreis erzählen. Sie langweilt sich mit ihnen. Und dann sagt sie: "Wir leben wieder, als wäre kein Krieg gewesen. Ob Slowenen, Serben, Kroaten - das ist egal, wie haben überall Freunde und reden nicht über Vergangenes. Das Leben geht weiter. Aber ich glaube, für die, die Verluste hatten, muss das schrecklich sein." Und düster hängt sie an: "Vielleicht werden die Traumata eines Tages wieder aufsteigen, wer weiß."
In Zagreb ist das Habsburger Flair noch da, auch die Lust der Leute, sich im Zentrum zu treffen, in kleinen Gruppen auf dem breiten Jelacic-Platz zu stehen und zu plaudern. Ein Wolkenbruch jagt alle unter die Dächer, zwei Frauen mittleren Alters, etwas krass geschminkt, Haare gebleicht, die ich schon unter die leicht zickigen Zagreberinnen eingeordnet habe, holen mich gutmütig an ihren vor dem Regen geschützten Tisch. Schnell kommt es zur üblichen, ungehemmten Ausfragerei: Wo ich lebe, seit wann, verheiratet mit einem Deutschen oder mit einem "von uns"? Kinder, Beruf? Zum Schluss das neidlose Lob, es mit Deutschland gut getroffen zu haben. Und dann holt die eine, die ein sieben Zentimeter großes goldenes Kreuz an einer Kette um den Hals trägt, zur Selbstreflexion aus: "Wir vom Balkan sind seltsame, komplizierte Leute. Wir können nicht zusammenhalten, immer liegen wir im Streit. Sonst wäre unser Land wunderbar und reich."
Das Zagreber Blatt Novi List titelt "Das Geheimnis des Ustascha-Goldes". In den USA wurde eine Klage gegen die Bank des Vatikans eingereicht, die nach dem Zweiten Weltkrieg 45 Kisten voll Gold aus vermutlich jüdischem Gut gelagert, "gewaschen" und zur Finanzierung kroatischer Kriegsverbrecher im Exil eingesetzt habe. Der Artikel lässt Schadenfreude erahnen, dass sich diesmal nicht Kroatien, sondern der Vatikan mit der faschistischen Vergangenheit herumschlagen muss.
Die Kehle durchschnitten
Im Bus sieben Stunden durch die Krajina. Hier gab es 1991 die ersten Toten bei serbisch-kroatischen Zusammenstößen, Vorboten der Kriege. Es schien damals fast absurd: Schießereien in der verspielten Plitvicer Seenlandschaft mit Hunderten von Quellen und Bächen, die vom porösen Grund verschluckt werden und wieder auftauchen. Die vier Jahre später vertriebenen 200.000 Serben dürfen inzwischen zwar wieder zurückkehren, haben aber selten die Möglichkeit dazu. Vom Bus aus sieht man an jedem Ort hinunter auf einen Friedhof - auf einen zuwachsenden alten Teil mit schweren, grauen Steinkreuzen der Orthodoxen und auf einen neuen Teil mit hohen, polierten, schwarzen Grabsteinen der Katholiken. Die Toten sollen Heimatrechte beweisen.
Allmählich verändert sich die Landschaft. Karger Fels schaut durch den Boden wie Knochen durch Haut, das Gras ist hellgrau, und dann der erste Olivenbaum, ein Feigenbaum, zuletzt Palmen. Es geht hinab zum Meer, zum Hafen von Split, zu den Schiffen auf die Inseln.
In Stari Grad auf der Insel Hvar bin ich endlich am Ziel. Auch hier ist das Wiedererkennen der Genuss: der helle Kalkstein, mit dem sowohl die Häuser als auch die Straßen gepflastert sind, Pinien, die Gerüche. Das Meer schwappt gegen die Felsen, manchmal gibt es Töne wie Menschenstimmen. Am Platz das langgestreckte Café unter Markisen, wo sich die Leute aus dem Ort täglich sehr früh treffen. Die Schwalben pfeifen und sausen zu den Nestern mit ihren Jungen, die Boote sind am Kai festgemacht. Die Tür meiner Nachbarin, einer alten Frau im dunkelblauen Morgenrock, steht offen: Kommen Sie herein, kommen Sie!
Zeitungen, Zeitschriften, auch das Fernsehen, das bei der Nachbarin immer läuft, bringen die Welt auf die Insel. Die besteht fast nur aus Kroatien. Man ist mit sich selbst beschäftigt. Gerade haben Kommunalwahlen stattgefunden, überall gibt es neue Koalitionen, Entrüstung, Verblüffung. Dazwischen die Wölfin Vera. Sie hat 14 Lämmer gerissen, die gehörten ihrem einstigen Retter. Eine Studentin spendet ihm ihr ganzes selbstverdientes Geld, es reicht für ein neues Schaf, er soll seine Liebe zu Wölfen nicht aufgeben.
In der recht umfangreichen Slobodna Dalmacija findet sich über die anstehenden Neuwahlen in Deutschland nur ein knapper Bericht. Mehr interessiert es sie nicht. Es scheint nichts Dramatisches in der Luft zu liegen. Dann aber wird ein 81-jähriger Mann mit durchschnittener Kehle in der Nähe seines Hauses in der Kleinstadt Karin gefunden. Er war einer der wenigen Serben, die zurückkehrten. Raubmord? Politisch-ethnischer Ritual-Mord? Die Zeitungen berichten mehrere Tage über die vergebliche Suche nach Tätern, über Beschwichtigungen von Politikern, über antiserbische Graffiti in der Nähe des Tatorts. Zugleich wurde in Slawonien nahe Vukovar nachts Sprengstoff in den Gemeindeämtern zweier von Serben bewohnter Orte gezündet.
"Willkommen in der Hölle", titelt eine Zeitung. Dazu ein Foto von Milorad Pupovac, Exponent der serbischen Minderheit in Kroatien, Parlamentsabgeordneter. Ihn hatte ich zu Beginn der Kriege für den Freitag interviewt, im serbischen Klub in Zagreb, der unter Polizeischutz stand. Er ist schlank wie damals, aber sieht auf dem Foto aus, als hätte Wind an ihm gezerrt. Eine Zwischenüberschrift "Neue Welle von Hass". Was ist los im Land?
Titos Tag
Frau Jakica, die Nachbarin, lockt mich am Morgen und Abend in ihr leicht abgedunkeltes Zimmer, wo sie ächzend ein köstliches Essen für sich kocht. Ich dürfte jeden Tag mitessen, wenn ich wollte. Sie ist 83 Jahre alt, lebt allein, wird von Bekannten versorgt, ihre Beine schmerzen, aber sie lamentiert nicht, sondern zeigt ihre Freude über die Besuche, ist neugierig und verfügt über die südslawische Gabe des Erzählens. Ihre Geschichte ist wie ein Muster für viele andere Lebensläufe auf diesen Inseln voller Steine. Eine Urgeschichte.
"Ich bin in New York geboren", erwähnt sie mehr nebenbei. Denn ihre Eltern waren Anfang der zwanziger Jahre von der Insel Hvar dorthin ausgewandert. Bei der Geburt des dritten Kindes starb die Mutter. Der Vater brachte die drei Kinder in sein Dorf zurück, heiratete die Schwester seiner Frau, musste dann wieder nach NY gehen, um Geld zu verdienen. Das schickte er regelmäßig nach Hause, bis an sein Lebensende. Jakicas Stiefmutter brachte eine Tochter zur Welt, blieb mit den vier Kindern im Dorf und arbeitete auf dem Acker. "Sie liebte ihr Kind mehr als uns." Jakica spricht es ohne Selbstmitleid oder Groll aus, als wäre es ein ehernes Gesetz, das man akzeptieren müsse. Das kleine Dorf wurde im Zweiten Weltkrieg von italienischen Truppen, die Dalmatien besetzt hatten, in einer Strafaktion niedergebrannt. Die Familie kam bei Verwandten und Bekannten unter. Als Italien 1943 kapitulierte und die deutschen Truppen nachrückten, wurde die Bevölkerung auf die Insel Vis evakuiert, wo zeitweilig Titos Generalstab war. Jakica war nun 21, sie blieb als Schreiberin bei den Partisanen und später in Sarajevo bei der Jugoslawischen Volksarmee.
Nun ist sie wieder ein Flüchtling. Als Staatsbürgerin der USA, die sie dem Geburtsrecht nach ist, kam sie mit einem amerikanischen Transport aus dem belagerten Sarajevo heraus, mit leeren Händen fand sie sich auf der Insel wieder. In ihren Augen ist die Welt verrückt geworden. Sie starrt bohrend, wenn das Thema der Kriege in Jugoslawien aufkommt, und erhebt ihre Stimme: Verstehen etwa Sie das? Können Sie das erklären?
In den Kneipen von Stari Grad sammeln sich in der Vorsaison abends immer die gleichen Leute, sie erwarten den Ansturm der Gäste. Der frühere "Tag der Jugend" steht bevor, sie nennen ihn "Titos Tag" und kündigen einen komischen Umzug durch den Ort an. Nostalgie mit Ironie. Zuletzt bleiben sie doch in der Kneipe hängen.
In Zagreb bestäuben die Abiturienten am letzten Schultag traditionell die Passanten mit Mehl und toben sich immer ungehemmter aus. In Serbien treffen sich Tausende alte und junge Tschetniks mit ihren langen Haaren, Soldatenmützen und Bannern auf dem Berg Ravna Gora. Ihr Ehrengast ist der Schriftsteller Vuk Draskovic, zur Zeit Außenminister. Slowenien klagt vor dem europäischen Gerichtshof gegen Kroatien, weil ein kroatischer Inspektor eine alte Fähre am Grenzfluss Mura wegen Sicherheitsmängeln beschlagnahmt hat. Im bosnischen Stoc, wo eine kroatisch-katholische Mehrheit lebt, provoziert die Kirche vor den alten, rätselhaften Bogumilen-Grabsteinen mit einem monumentalen Betonkreuz. Um den serbischen Abgeordneten Milorad Pupovac entbrennt in Kroatien ein immer heftigerer Streit, weil er zu bedenken gab, dass zwischen dem Mord an dem alten Mann, den Bomben in den serbischen Gemeinden Kroatiens und der hysterischen Reaktion auf ein lokales Wahlergebnis in Knin Zusammenhänge bestehen könnten. In Knin, der Hauptstadt der Krajina, reisten ehemalige Einwohner der Stadt mit Bussen aus Serbien an und nahmen ihr Wahlrecht wahr. Die kleine Partei der Serben bekam dort eine Mehrheit. Nun wird sie behindert. Die Welt ist verrückt, sagt Frau Jakica.
Die Insel Hvar ist wie die meisten Adria-Inseln von Steinmauern überzogen, die zahllose Generationen in ungeheurer Arbeit aufgeschichtet haben, um kleine Flecken für Olivenbäume freizulegen. An ihnen lässt es sich endlos entlang wandern. Die Erde ist rot. Oft sind heute die Kammern zugewuchert. So sammeln diese Mauern allmählich die Erde wieder auf den Hängen, die einst bewaldet waren und für Venedigs Flotte abgeholzt wurden. Das Netz der Mauern scheint den Küsten ihren Halt zu geben.
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