Verfügung: Sie haben sich von Sonntag, den 15.07.2001, bis Sonntag, den 22.07.2001 täglich jeweils bis 12 Uhr auf der Wache des für Sie zuständigen Polizeiabschnitts ... zu melden.
Die Polizei hinderte Torsten G. prophylaktisch an einer Reise, die er nicht vorhatte. Zwar entspricht der Protest in Genua ganz seinem Denken und Empfinden, aber er hatte nicht geplant, dorthin zu fahren. Hingegen wurde ihm nun schwarz auf weiß bestätigt, dass die Polizei ihn als gefährlichen Gewalttäter führt. Die Liste, auf der er steht, ist bislang eine deutsche. Sie könnte auf Drängen von Schily und Stoiber europäische Dimensionen annehmen. 15 junge Leute in Berlin und Brandenburg erhielten eine solche "Meldeauflage" und somit bei Geld- oder Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr das Verbot, die Stadt vor und während des G 8-Gipfels zu verlassen.
Torsten ist 23, lernt Heilpraktiker, lebt zeitweise mit einer ganzen Reihe von Leuten in einem ehemals besetzten Haus zusammen. Er ist von seiner Weltsicht und seiner Mentalität her ein Pazifist. Wer über ein Minimum an Menschenkenntnis verfügt, wird das ohne Zweifel wahrnehmen. Doch die Staatsgewalt, die bestimmte Arten von Gegnern für ihre Legitimation braucht, fabriziert sie sich nach Belieben. Torsten scheint ihnen geeignet als Kritiker des Systems und Demonstrant, der für Polizisten leicht wiederzuerkennen ist: Er hat leuchtend hellrote Rastalocken.
"Nach Erkenntnissen der Berliner Polizei gehören Sie zu Personen, die der gewaltbereiten linksextremistischen Szene zuzuordnen sind." So steht es in einem mitgelieferten Papier des Polizeipräsidenten, das diese Behauptung mit vier Belegen stützen soll. Sie sind falsch. Torsten wird die Beweise geradezu triumphal erbringen können. Aber was geschieht da hinter seinem Rücken? Wer hat etwas mit ihm vor? Die Willkür und das zu vermutende Kalkül sind unheimlich.
Zehn Kilometer bis Göteborg
Das jüngste im Polizeidossier aufgeführte Ereignis: "Im Juni diesen Jahres wurden Sie in Göteborg/Schweden angetroffen, wo vom 14. bis 16. Juni der EU-Gipfel stattfand. In diesem Rahmen kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen von sog. Globalisierungsgegnern. Dabei wurden Sie von den schwedischen Sicherheitsbehörden festgestellt und personalienmäßig erfaßt."
Im Bus mit 42 Leuten fuhr Torsten in Richtung Göteborg. Ihn interessierte vor allem, welche Widerstandskraft sich dort manifestiert und was für Leute er treffen wird: ob es Gleichgesinnte sind, wie man sich verständigt, wie viel Zukunft sich offenbart. Das suchen die meisten. Es geht um Überwindung der Ohnmachtserfahrungen. In den vier Göteborger Tagen wollte er mit einem Freund im Quartier der "Globalisierungsgegner" auch einen Shiatsu-Workshop anbieten.
An der schwedischen Grenze sechs Stunden Kontrolle. Keine Zeichen für Militanz im Bus. Weiterfahrt. 10 km vor Göteborg Stopp auf der Autobahn. Torsten wird abgeschleppt, er nimmt an, weil er in der Tür stand und laut in den Bus hinein fragte: Zeigen wir nun unsere Ausweise oder nicht? Er ärgert sich über seine "große Klappe". Doch am Polizeibus schaut ein Uniformierter in eine Liste und findet seinen Namen. Es ist eine Liste der deutschen Polizei. Nach diesem Verzeichnis werden neun weitere Mitfahrer aus dem Bus geholt. Als Erklärung kommt das vage Wort "immigration law".
Fahrt in den Knast. Nach sechs Stunden kommt ein Dolmetscher, über den ihnen mitgeteilt wird, dass sie ausgewiesen werden, weil sie der deutschen Polizei bekannt seien als Gewalttäter. "Kant faldsverkare av tysk police". Da wird ihm mulmig. "Wieso ich? Ich bin zu nichts in meinem Leben je verurteilt worden."
Drei mal wurde er schon festgenommen, dabei aber nicht erkennungsdienstlich behandelt. Und die Verfahren, die jeweils die Polizei anstrengte, wurden fallen gelassen. Nun sitzt er für 36 Stunden in einer Zelle und "schwitzt Blut und Wasser: offenbar bin ich bei denen in einer Kartei." In einer kleinen Propellermaschine werden die Zehn nach Hamburg zum BGS geflogen, der nochmals ihre Personalien aufnimmt, ihnen die Ausweise wieder aushändigt und sie entlässt. Torsten trampt völlig erschöpft nach Berlin zurück. Göteborg hat er nicht gesehen.
Hohenschönhausen, Mama und die Polizei
Ich bin in Hohenschönhausen aufgewachsen, im Neubaugebiet im Osten von Berlin. Hab da nicht so ins Schema der rechten Subkultur gepasst. Das war einfach so. Es kam mit der Wende, für mich mit der Pubertät. Einige fingen an, mich wegen meiner roten Haare als rote Sau zu beschimpfen.
Mit 18 bin ich überfallen worden, von Leuten, die ich jeden Tag gesehen habe. Ich bin mit dem Walkman nach Hause gezogen, aus der Disco um 12 Uhr nachts. Ich habe sie gesehen, mir nichts gedacht. Auf meinem Rucksack hatte ich einen kleinen Aufnäher "Gegen Nazis", da ist einer reingesprungen. Sie haben mir das Nasenbein gebrochen. Als ich blutig nach Hause kam, habe ich geweint, und meine Mutter hat mich in die Arme genommen. Eine Anzeige durchzuziehen, habe ich mich damals nicht getraut, meine Mutter will ja weiterhin da wohnen. Und ich hatte keine Zeugen. Aber ich bin dann weggegangen aus Hohenschönhausen.
Zum Glück gab es Sozialarbeiter in einem halbkirchlichen Klub, mit denen ich reden konnte. Die haben mich über Wasser gehalten. Sie waren die ersten, von denen ich dachte: in die Richtung möchte ich mal gehen. Die Jugendlichen machten immer wieder ihren eigenen Klub kaputt. Da ist ein unwahrscheinliches Gewaltpotenzial. Einmal hat sich einer im Klub aufgehängt. 21 Jahre alt. Wenn ich das so erzähle, finde ich es selbst krass. Heute kann ich es mir kaum noch vorstellen. Es war eine andere Welt.
Doch die Wendegeneration hat, glaube ich, einen Vorteil: Sie hat erlebt, dass das ganze System, in dem wir bis dahin lebten, komplett als schwachsinnig erklärt, total übern Haufen geworfen wurde. Warum soll es dem jetzigen System nicht auch so gehen? Es muss nicht alles für immer so bleiben, wie es gerade ist. Ich versteh allerdings nicht, warum jetzt 60 Prozent meiner Generation diese ganz andere, rechte Meinung haben. Liegt es vielleicht einfach an Dummheit?
Irgendwann bin ich in einen anderen Jugendklub gegangen, in die "Laube", wo sich die linken Zecken eingenistet hatten. Und da habe ich plötzlich erlebt, dass sie mich akzeptierten. Ich durfte so sein, wie ich war. Da fing ich langsam an, ein bisschen Selbstbewusstsein zu kriegen. Das war mit 16. Seit damals hab ich die Haare wachsen lassen.
Nach dem Realschulabschluss meldete ich mich zu einem Fachabi für Metallberufe an. Zuerst musste ich ein Praktikum auf dem Bau hinter mich bringen: Ein Jahr lang Wände abreißen. Niemand kam da auf die Idee, mir was beizubringen. Ich habe gelernt, wie man Rigipsplatten schleppt und sich mit einem riesigen Stemmbohrer durch Mauern frisst. Und ich bin zäher geworden. Seitdem kann ich auch andere Sachen ertragen.
Damals wollte ich regenerative Energien studieren und derjenige sein, der die Energie schafft, wenn wir uns einmal irgendwohin absetzen und unsere Kommune hochziehen. Dass wir das in Deutschland tun könnten, glaubten wir nicht.
Meine Mama ist Arbeiterin, sie war schon Köchin und Gerberin und Straßenbahnfahrerin. Jetzt ist sie arbeitslos. Damals in der DDR ist sie Anfang der achtziger Jahre aus der Partei ausgetreten, weil sie es nicht mit ansehen konnte, was das für ein scheinheiliger Verein war. Davor hab ich totalen Respekt. Sie weiß schon, dass man, wenn man politisch aktiv ist, auch einen Preis zahlen muss. Den Polizisten, die zu ihr kamen, hat sie eine richtige Moralpredigt gehalten: sie versteht, dass die Jugendlichen eine Wut kriegen, wenn die Polizei die Nazis schützt.
Aber sie war sehr erschrocken, als die Polizisten auftauchten: Ist ihm etwas zugestoßen? Die antworteten: Das können wir Ihnen nicht sagen. Am nächsten Tag waren sie wieder bei ihr und haben ihr erzählt, dass ich in Göteborg aus einer Gruppe von Steineschmeißern heraus verhaftet worden sei. Sie haben Verständnis gespielt: Man lande ja so leicht in so einem Milieu. Dass ich wohl zur Hausbesetzerszene gehöre, haben sie vermutet. Und sie hat ihnen erzählt, dass mich Nazis zusammengeschlagen haben. Da haben sie gefragt: Ist er bei der Antifa? Jetzt stecken sie mich womöglich auch da noch rein, wo ich nie war und womit ich nichts zu tun habe. Die ständige Konfrontation mit den Nazis ist nicht meine Sache.
Sehnsucht nach Freiräumen
Torsten ist Veganer, er isst nicht nur kein Fleisch, sondern nichts, das Tieren durch Züchtung abgenommen wird. Er beschäftigt sich in seiner Heilpraktikausbildung mit Meditation, Psychologie, Ernährung. Es hängt alles für ihn zusammen. Dass die Leute nicht miteinander leben können, sieht er als Grundproblem dieser Gesellschaft. "Die Welt wandelt sich nur, wenn wir lernen, zusammen zu leben." Freiräume dafür zu schaffen und zu erhalten, sei die Richtung. Um der Freiräume willen nimmt er den Zusammenprall mit der Polizei in Kauf.
Das militante Spiel mit der Polizei aber interessiert ihn nicht. Sich selbst zu verändern, indem man etwas anderes lebt, ist seine Idee. Als er einmal mit nach Köln in ein dreiwöchiges Solidaritäts-Camp gegen den IWF-Gipfel fuhr, traf er auf Leute, die das taten, was ihm bis dahin eine utopische Vorstellung schien. "Ich bin durch Zufall in die ganze Autonomia, Anarchia, Freivolk reingerutscht, die den Konsumfirlefanz wegwerfen. Da hat das Politische für mich angefangen zu leben, vorher gab es nur Ideale, es war nicht das Leben."
Torsten wird oft angegafft. Er fühlt Blicke auf sich, als wäre er ein Stück Dreck. Soll er sich die Haare abschneiden? Sollte er die Anpassung leisten, die offenbar von ihm erwartet wird? Oder weiterhin provozieren durch seine Erscheinung? Er stellt sich diese Fragen, doch er wusste früh, dass er nicht so sein wollte wie die Umgebung, noch bevor ihm klar war, warum und was er statt dessen sein wollte. Allmählich wird es deutlicher: "Ich bin dazu verdonnert, zu sein wie ich bin. Ich find´s jetzt endlich auch schön, will daran nichts ändern."
Früher ging er Polizisten aus dem Weg, aber wenn sie ihn heute zu etwas auffordern, was er sinnlos findet, dann fängt er an zu schreien: Alter, merkst du nicht, was du hier eigentlich machst? Wie dämlich du bist? "Ich kann eine bestimmte Art von Dummheit nicht mehr hinnehmen", sagt er, gerade wenn man versucht, ihn zu etwas zu zwingen. Zum Beispiel wollte er sich von einer Demo aus etwas zu trinken holen, sah ein Kiosk, steuerte darauf zu, da bellte ein Polizist: Zurück in die Demo. Er sagte: Ich geh rüber und kauf mir jetzt was, es macht keinen Sinn, mich in der Demo zu halten. Der Polizist: Zurück in die Demo! "Es gibt keinen Grund, sie machen es einfach, und dann schreie ich rum."
Schon die erste Demo, die er erlebte, war gewalttätig. Sie endete am Wasserturm, Prenzlauer Berg, die Polizei sagte durch, alle sollten sich nun entfernen und wiederholte es zweimal, dann rannten ein paar Hundert Polizisten los. Torsten sah, wie ein kleiner Junge, vielleicht 13 oder 14 wie er, aber einen Kopf kleiner, von einem Polizisten einen Hieb in den Magen bekam, so dass die Wucht des Schlages ihn ein paar Zentimeter hochhob.
So ging es weiter. Immer ist es so: Ein paar Leute stehen herum, die Polizei fordert sie auf, die Stelle zu verlassen, sie bleiben stehen, ohne etwas besonderes zu machen, dann rückt die Polizei an und schlägt rein.
"Ich weiß nicht, was man mit solchen Bildern machen soll. Soll ich nett sagen: Ja, natürlich ich gehe in die gewünschte Richtung? Ich bin nicht jemand, der angreift. Aber die Wut, die nicht mehr zu bremsen ist, die kann ich nicht beschreiben. So dass ich anfange zu schreien. Auf diese Weise macht sich die Wut bei mir bemerkbar. Und meist gehe ich dann auch nicht weg und sage: Wieso? Ist das dein Job? Macht es dir Spaß, jemanden wegzuschubsen? Weil du denkst, du bist hier der Chef? Kannst aus deiner Machtposition heraus mit mir das tun? Warum muss ich weggehen? Sag mir das! Warum darf ich hier nicht Musik hören? Warum darf ich nicht auf der Straße tanzen? Wieso? Weil du mir das sagst?"
Das Ansehen Deutschlands
"...die in Genua/Italien zu erwartenden Sach- und Personenschäden können auch dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland in Europa und in der restlichen Welt erheblichen Schaden zufügen". (Aus der Begründung des Polizeipräsidenten)
Die Polizei nimmt sich das Recht, Hausbesuche bei den Eltern erwachsener Menschen zu machen und sie unter Druck zu setzen. Sie bastelt verantwortungslos oder unverfroren ihre Dossiers zusammen, offenbar kalkulierend, dass ihre Behauptungen nicht widerlegbar sein werden. Zumindest lässt sie es darauf ankommen. Diese Unberechenbarkeit und Willkür der Staatsgewalt ist ein Element von Diktatur.
Am 30. April und 1. Mai 2000, so wird aufgelistet, habe die Polizei Torsten in Hamburg bei gefährlichen Attacken entdeckt: "Sie wurden dabei festgestellt, wie Sie mit Steinen und Flaschen zielgerichtet auf eingesetzte Polizeibeamte warfen." An jenem 1. Mai aber wurde Torsten von der Polizei weit von Hamburg entfernt in Berlin-Kreuzberg, vor Beginn der "revolutionären Maidemonstration", festgenommen.
Am 22. April 2000 wiederum soll er bei einer "gewalttätigen Auseinandersetzung mit der rechtsextremistischen Szene" gewesen sein. "Sie gehörten zu einer Gruppe Jugendlicher, die mit Steinen warf und somit einen besonders schweren Fall des Landfriedensbruches beging."
In Wirklichkeit haben ihn vor dem Haus Polizisten in Zivil gepackt, ihn in ihr Auto verfrachtet und sind vor das Nazi-Café in Friedrichshain gefahren. Dort ließen sie ihn lange im Auto sitzen, die Neonazis guckten rein und drohten ihm höhnisch. Auskünfte erhielt er nicht. Endlich wurde er einem von ihnen gegenüber gestellt, der offenbar ausgesagt hatte, jemand im roten Hemd hätte Steine geschmissen. Torsten trug ein rotes Hemd. "Der war es nicht", sagte er Zeuge.
Torsten G. wird sich gerichtlich gegen diese Unterstellungen zur Wehr setzen.
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