Sie werden die ersten sein, die sterben

FOTOGRAFIE DES SCHOCKS Boris Michailows Blick auf das Leben ist unsentimental, aber voller Empfinden

Er hat sie fotografiert, als sie gerade erst im Stadtbild auftauchten. Sie hatten schon ihren Namen: bomsch. Aber sie waren noch keine soziale Klasse, keine Schicht, hatten noch keine Treffpunkte, Regeln, keine Hilfe. Sie waren einzelne, die gerade anfingen, sich untereinander wahrzunehmen.

Die längste Zeit seines Lebens war Boris Michailow ein Geheimtipp in den Kunstkreisen der Sowjetunion, die sich von Leningrad über Moskau bis Kiew und Jerewan kannten und austauschten. Arbeit hatte er als Ingeniur in einem Kombinat, wo er die Fotodokumentation technischer Dinge übernahm und so an das Material zum Fotografieren, Entwickeln, Abziehen der Bilder kam. Die erste Ausstellung machte er mit fast fünfzig Jahren, im Zuge der Perestrojka. Und irgendwann begab er sich auf die erste Auslandsreise, für ein Jahr. Als Michailow zurückkam, fand er seine Stadt Charkow ungeheuer verändert: "Der Verfall war gestoppt. Die Stadt hatte ein fast modernes europäisches Zentrum erhalten, eine neue Hülle. Aber ich war schockiert von der großen Zahl an Obdachlosen (vorher waren sie nicht da). Die Reichen und die Obdachlosen - die neuen Klassen in der neuen Gesellschaft - das waren, so wurden wir belehrt, die Kennzeichen des Kapitalismus."

Die neuen Reichen hatte er nicht rechtzeitig fotografiert, als sie noch einfach Nachbarn waren. Bald gab es keinen Zugang mehr zu ihnen, sie umgaben sich mit Bodygards. Die Obdachlosen formierten ihre Welt gerade erst. Sie hatten von ihrem eigenen Elend noch kein Bild, keinen Trost. Sie konnte er unverstellt erleben und dokumentieren.

In den siebziger, achtziger Jahren - nach einer Phase metaphorischer, literarisch aufgeladener Bilder mit Doppelbelichtungen - hatte Michailow angefangen, das "Leben zu fotografieren wie es ist". Wie er es im Moment sieht. Das Zufällige, Alltägliche. Ein Buch mit diesen Fotos hat die Heiner Müller Gesellschaft vor drei Monaten herausgegeben (Drucksache. N.F. 4). In der Sowjetunion war ein Mensch mit Fotoapparat so etwas wie ein Spion, der Misstrauen weckte. Die KulturPolitik ließ, wie Michailow es formuliert, nur "Schönheit" zu, "Hässliches" wurde als Anmerkung zur Wirklichkeit wahrgenommen, die die Kulturfunktionäre stets erkannten und ausschlossen. Einmal sollte ein Porträt von ihm im örtlichen Fernsehen erscheinen. Darin sah er sich als Fotografen von Tieren, höchst peinlich, er hat alle weiteren Versuche, öffentlich in Erscheinung zu treten, fortan vermieden. Doch mit Trauer stellt er fest, dass von vielen Phasen des sowjetischen Lebens, dramatischen und alltäglichen, nicht einmal aus dem Zweiten Weltkrieg, Fotomaterial der Realität vorhanden sei. Sich selbst sieht er als einen Dokumentaristen seiner Zeit, nicht erst seit den neunziger Jahren, sondern auch zuvor.

Oft wird gegen diese Fotoarbeiten Michailows der Einwand erhoben, er hätte das Elend der Obdachlosen benutzt. Er setzt sich damit in Interviews und Texten auseinander. Seine Methode war, den Obdachlosen, die er kennen lernte, Geld anzubieten, nicht viel, aber mehr als ein Modell in der Akademie erhält. So hat er die Beziehung zwischen ihnen und sich selbst versachlicht. Sie standen ihm Modell, aber sie blieben dabei sie selbst. Für Michailow war die Art der Entblößung eine Methode, die menschliche Empfindlichkeit zu zeigen. Die Sexualität der Menschen war erloschen, erkannte Michailow. Es wäre vergeblich, über sie eine Vitalität zurückholen zu wollen, die vom Überlebenskampf in den schrecklichen Verhältnissen schon ganz verbraucht wurde. Seine Modelle waren einverstanden, auf diese Weise Kunde von ihrem Leben zu geben. Er nahm sie auch mit nach Hause, ließ sie ein Bad nehmen. "Ich möchte sagen, dass ich nicht schuld bin. Aber oft war ich, wenn ich Aufnahmen machte, beschämt."

Er erzählt eine Episode, die die verbreitete Angst vor Bildern von bitteren Wirklichkeitsausschnitten beleuchtet: Er sieht einen Mann liegen, der Kopf auf dem Pflaster, Frost, Dunkelheit. Alle gehen vorüber. Er macht ein Foto. Eine Frau dreht sich um und beschimpft ihn: Haben sie nichts anderes zu tun? Er bittet sie, ihm zu helfen, den Mann aufzurichten. Sie wendet sich ab. Er tut es allein. "Und was hatte die Frau sagen wollen? - Lieber soll er sterben, als dass ich so ein Foto in der Zeitung sehen muss", so interpretiert Michailow ihren Satz. Nach dem Betrachten seiner Bilder von den Obdachlosen, gaben viele seiner Bekannten zu: "Jetzt sehen wir sie überall. Warum haben wir sie vorher nicht bemerkt?"

Den umfangreichen Bildband Case History - Krankengeschichte - aufzublättern, ist ein Schock. Nach wenigen Fotos kam ich mir wie eine Voyeurin vor und klappte das Buch zu. Auch jetzt noch - nachdem ich mich mit den Bildern beschäftigt und mit Michailow ein Gespräch geführt habe - spüre ich den Fluchtimpuls vor manchen Bildern. Die eigene Haltung verändert sich, sobald man sich dem Wagnis des Fotografen anvertraut: seinem unängstlichen Blick, der nicht ein kalter Blick ist. Unsentimental, aber voller Empfinden.

Er sah diese geteilte Welt. "Und plötzlich fühlte ich, dass viele Menschen an diesem Ort bald werden sterben müssen. Und die Obdachlosen werden als erste sterben, in der ersten Reihe, - wie Helden, als ob ihre Leben das Leben anderer schützen würde."

Boris Mikhailov Case History, Scalo Zürich - Berlin - New York 1999

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden