Ein Sommertag 1978. Nachmittag schon, die Schatten werden länger, aber es ist noch warm. Frauen und Männer tanzen auf einem Platz unter freiem Himmel, irgendwo in Charkow, der ukrainischen Industriestadt. Für einen sowjetischen Fotografen war es kein üblicher Ort seiner Arbeit. Nirgends würde er die Bilder publizieren, sie nirgends öffentlich präsentieren können. Diese Realität am Rande, dieses unspektakuläre, fast ärmliche Vergnügen galt nicht als würdig, im Bild festgehalten zu werden. Denn Bilder sollten für etwas Künftiges stehen, nicht pure Realität abbilden. Aber der damalige Ingenieur Boris Michailow fotografierte doch, ohne zu ahnen, dass ihn viel später weltweite Bekanntheit einholen und dadurch diese Fotos ans Licht geraten würden.
Der erste Impuls der heutigen Betrachter wird es sein, diese Paare aus Charkow als Symbole einer ganzen Gesellschaftsformation zu interpretieren und auf diesem Tanzplatz die Zeichen einer zum Untergang verurteilten Welt zu suchen. Es wird schwer sein, den Blick von diesem Vorwissen für Momente zu befreien. Aber es soll hier versucht werden. Wie Boris Michailow sich damals das nicht selbstverständliche Recht nahm, den sowjetischen Alltag ohne Pädagogik oder Denunziation zum Gegenstand seiner Fotografie zu machen, so möchte ich sie einfach betrachten und nacherzählen, was auf den Bildern zu sehen ist.
Diese Fotos leben vom flüchtigen Augenblick. Eine Frau mit schwarzgemalten Augenlidern, ein wenig mollig, tanzt mit einer viel älteren Frau im Hütchen und schaut mild lächelnd in die Kamera. Man glaubt, die tiefsitzende Trauer um etwas, das sie in ihrem Leben verfehlt haben mag, zu sehen. Aber ein Unbehagen über die seltsame Situation sieht man nicht. Niemand geniert sich auf diesem Tanzplatz. Am Rand tanzt eine Schöne im weißen Kleid mit Sonnenhut, die einzige Schlanke und Verführerische. Ihr gegenüber übt sich ein Mann mit Cowboyhut in einer Tangopose, ein anderer zieht vor ihr ausufernd über den Betonboden, bis der Dritte auftaucht, der sie besitzergreifend um den Rücken fasst. Diese Sequenz ist in kleinen Fotos wie Schnappschüsse aus dem Familienalbum nebeneinandergestellt, eine Erzählung in der Erzählung, die wieder abgelöst wird von großformatigen Szenen oder Porträts.
Was sieht man nicht alles: toupierte Frisuren, kräftige Frauenarme und Waden, Sonnenbrillen, geblümte Kleider, Krawatten, Männerhüte. Und immer diesen zerfurchten Beton unter den Schuhen. Es sind große gegossene Platten, die von breiten Rissen durchzogen sind. Die Platten sind konzentrisch um einen Mittelpunkt angeordnet, in dem irgendetwas stehen muss, vielleicht ein Springbrunnen, eine Skulptur. Endlich gerät dieser Punkt ins Bild und offenbart einen - Spiegelobelisk. Oder wie ließe sich das Ding beschreiben? Es ist aus einigen hohen Spiegel gebildet, die um einen Betonsockel angeordnet sind. Unter den Spiegeln sind an dem Betonsockel gebogene lange Haken angeschraubt. Daran hängen die Handtaschen der Frauen.
Was für ein Ort ist das? Der Tanzplatz hat einen pompösen Eingang, wie es bei den Kulturparks in der Sowjetunion üblich war. Am Eingang stehen viele Leute, die Hände hinter dem Rücken verschränkt oder in die Taschen gesenkt. Kostet es Eintritt? Warten sie auf Gesellschaft? Überhaupt gibt es viele Zuschauer, sie sitzen auch innen auf den Gartenbänken, die den Platz säumen, entlang des Staketenzauns mit seinen hellen, vielleicht golden gestrichenen Spitzen. Die Farben darf man sich hinzudenken, die Fotos sind schwarz-weiß. Auf den Bänken haben sich manche Besucher Zeitungspapier untergelegt. Über dem Eingang steht diskoteka, aber es gibt Lifemusik, auf einem Foto taucht die Band auf, mit Bass, Piano, Geige, Saxophon.
Einer der interessanten Aspekte des Ruhmes ist, dass die frühen Werke eines Künstlers den Schubladen entrissen werden, in denen sie sonst womöglich verstauben und vergessen würden. Boris Michailow, 1938 in Charkow geboren, hat Jahrzehnte lang fotografiert, ohne überhaupt an eine größere Öffentlichkeit zu denken, geschweige denn an Ruhm. Es gab die interessierten Kreise, die Ausstellungen in Küchen, die Gespräche dort. Er betont immer wieder, dass dieses Umfeld anregend und ermutigend genug für ihn war. Seit den siebziger Jahren gehörten dazu die "Moskauer Konzeptionalisten", zu denen ihn Ilja Kabakow brachte. Die Freundschaft mit ihm und die geistigen Perspektiven, die ihm der Moskauer Künstlerkreis eröffnete, gaben ihm eine Fülle von Anstößen. Unter Insidern war Michailow ein Name, eine Adresse. Ihm genügte es. Kompromisse irgendwelcher Art lagen ihm fern. Seine ersten Ausstellungen bekam er mit der Perestrojka Mitte der 80er Jahre. Nach 1990 wurde er durch seine Fotos von Obdachlosen in Charkow berühmt (Freitag 43/2000). Für sie erhielt er im vorigen Jahr den hochdotierten norwegischen Hasselblad-Preis, den vor ihm Cindy Sherman, Richard Avedon, Sebastiao Salgado, Henri Cartier-Bresson, um nur einige zu nennen, erhielten. Das vorliegende Buch entstand anlässlich der Preisübergabe. Vor wenigen Tagen wurde ihm der Londoner Citybank Prize für Fotografie zuerkannt.
Nun tritt allmählich ein überraschend großes und vielfältiges Oeuvre hervor, das seit Ende der 60er Jahre entstand. Diese Fotoserie, die unter dem Titel Dance 1978 erschien, ist nach einer Phase metaphorisch aufgeladener Bilder entstanden. "Der Prozess war lang, in dem ich zur Realität gelangte", erklärt dazu Michailow. "Zuerst hatte ich mit der Flut an Mustern zu kämpfen, mit der Überredung: Ihr lebt so, das sind eure Helden, das sind schöne Menschen, das sind kluge..." Er suchte nach dem Antihelden, nach dem "normalen Menschen". "Man muss jenes Element erfühlen, das die Erzählung vom Leben, das uns umgibt, möglich macht. Ohne zu werten. ... Bis ich endlich zu einem Zustand gelangte, den ich vielleicht als positives Empfinden des Lebens bezeichnen möchte. Keine rasende Freude. Eher ein gleichmäßiger Zustand." (Boris Michailow im Gespräch mit der Autorin in Drucksache N.F.4 der Heiner-Müller-Gesellschaft)
Michailow ist überzeugt, dass seine Fotos und vielleicht die einiger anderer Leute, die mit einer Art neutralem Blick des Fremden, der nicht wertet, gemacht wurden, die am meisten gültigen, authentischen Dokumente des Lebens in der Sowjetunion sein werden. Es sei sogar schwer, Bildmaterial über den Zweiten Weltkrieg zu finden, erwähnt er. Damals seien nur wenige, sich wiederholende Bilder zugelassen worden, meist heroische. Keine Bilder des Kriegsalltags, so wie eben wenige Bilder des sowjetischen Alltags überhaupt.
Michailows Fotos sind aber nicht allein durch diese spezifische Themenwahl charakterisiert. Man würde ihn nicht begreifen, wenn man ihn wie einen mutigen Fotojournalisten beschriebe, der ohne Zulassung Alltagsszenen festhielt, die in seiner Gesellschaft nicht als fotografierenswert eingestuft waren. Er hat jeweils einen besonderen, eigenwilligen Blick auf seine Gegenstände geworfen. So hat er in der Fotoserie Tanz 1978 die Menschen in einem Moment aufgenommen, in dem sie sich selbst auf eine Bühne begeben haben. Sie haben sich geschminkt, für den Tanz gekleidet, sich ins beste Licht gerückt. Sie glauben, ihr selbstbestimmtes Bild der Kamera zu bieten. Michailow muss ihnen also nicht zu nahe treten, er muss sie nicht überrumpeln, ertappen. Die Situation ist von großer Freiwilligkeit. Davon leben auch seine Fotos der Obdachlosen, obwohl der Weg zu ihrer Bereitschaft, mit ihm zusammenzuarbeiten, ein ganz anderer ist.
In einem Essay zu dem Buch betont Boris Groys diese Methode von Michailow. Er sei geradezu interessiert an der Selbststilisierung der Menschen, um zu dem Schluss zu kommen: "Das Resultat sind Bilder, die eine subtile Form von Grausamkeit" offenbaren", denn sie würden illustrieren, dass diese Bemühungen in einer Niederlage enden. Die Protagonisten würden gerade im Versuch der Selbstidealisierung ungünstig wirken. Zudem seien sie ganz unheroisch, zu dick, zu weich, überhaupt nicht den gesellschaftlichen Idealbildern ähnlich. So Boris Groys.
Tatsächlich akzeptiert Michailow die Selbstdarstellung der Protagonisten, wohlwissend, dass es immer Lücken zwischen dem Selbstbild und der Realität geben wird. Und die Lücken werden etwas erzählen, wovon jene, die in die Kamera lächeln, nichts ahnen. Darauf vertraut Michailow. Diese Differenz, diese Lücke kann schmerzen. Ich möchte sie jedoch nicht eine "Grausamkeit" des Fotografen nennen, trotz dieser Schmerzmomente. Und zwar weil die Unbefangenheit der Tanzenden allen verstiegenen Ehrgeiz wegwischt. Dass sie so ungeschützt sind, schützt sie.
So schlägt man Seite auf Seite um. Zwei ältere Frauen tauchen auf, Damen, die sich vorsichtig, in gut geschneiderten Kleidern auf der Tanzfläche drehen, mit Ketten und Broschen geschmückt, beide vornehm, als wären sie aus der früheren bürgerlichen Welt übriggeblieben. Manchmal hüpfen die Tanzenden zu folkloristischer Musik, manchmal üben sie sich in dem nachempfunden Rock'n Roll, wie er bis zu ihnen durchgedrungen ist. Es ist arbeitendes Volk, das hier zum Tanzen geht. Schwere Körper, breite Hände. Wer weiß, vielleicht gibt es doch anderswo ähnliche Tanzende, wir sehen sie nur nicht?
Welche Fotos sind die schönsten? Die Porträts? Ich komme immer wieder auf die Bilder von entfesselten Tänzerinnen und Tänzern zurück, sie sind die komischsten, die überraschendsten. Ein Mann von hinten im schwarzen Anzug, seine Jacke flattert, wie eine spanische Tänzerin legt er den Kopf in den Nacken und biegt den Rücken durch. Zwei Frauen, die vermutlich einen Twist hinlegen, soweit der rauhe Beton es zulässt: eine von ihnen ist tief in den Knien eingeknickt, die Waden sind angespannt, um den schweren Körper zu tragen, der dunkle Pferdeschwanz fliegt. Oder das Bild von einem älteren Paar, das eine kühne Figur vorführt: er hat sein Bein weit zur Seite geschoben, sie liegt für Sekunden auf dieser Diagonalen und würde stürzen, wenn er sie nicht hielte.
Boris Mikhailov: Dance 1978, The Hasselblad Award, Scalo-Verlag, Zürich 2001, 90 S., 68,- DM
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