Verstehen Sie mich?

HOFBRÄUHAUS MÜNCHEN Regine Hildebrandt erklärt im fernen Bayern die Lage der Ostdeutschen

Sie werden überrascht sein: ich werde nur Positives sagen«, ruft Regine Hildebrandt in den vollen Wappensaal im ersten Stock des Bierhauses mit dem widersprüchlichen Ruhm. Und sie singt sogar ungeniert »In München steht ein Hofbräuhaus« ins Mikrophon. Hinter sich die auf Holz gemalten bayerischen Wappen, vor sich die Leute mit hohen Biergläsern an den schweren Tischen, drückt sie jubelnd ihre Freude darüber aus, hier zu stehen, noch dazu hier zu reden. Ganz unausdenkbar früher: Allein die Reise an diesen Ort eine Unmöglichkeit, gar ein öffentliches Reden in München, das war natürlich außerhalb jeder Vorstellung. Worüber hätte sie auch reden sollen? Jetzt hat sie ihren Stoff. Und sie kämpft mit authentischen Geschichten aus dem Leben ihrer Familie und Freunde, mit Anekdoten, burschikosen Witzen und statistischen Daten um das Publikum.

Im Jahr 2000 ist es eine eigenartige Gruppierung, die Regine Hildebrandt nach München holt: Die »Initiative Innere Deutsche Vereinigung« hat sie eingeladen. Die Vorsitzende dieses Vereins und Moderatorin des Abends, Angelika Holterman, stellt sich als »Wossi« vor. Ach, das ist ja jener allmählich wieder vergessene Name für eine bestimmte Spezies unter den Tausenden von »Leihkräften« des Westens, die mit den unterschiedlichsten Motiven nach der Wende in den Osten gingen. Die Grenzüberschreiter, die Erfahrungen aus zwei Welten zu verarbeiten hatten, wurden oft genug auf beiden Seiten zu Fremden. Manche blieben einfach Wessis, Besserwessis gar. Andere aber - und sie sind mit dem Namen gemeint - identifizierten sich mit der östlichen Umgebung und wollten ihr Wissen zu Hause im Westen verbreiten - »in diesem Landesteil, der sich selbst genügt hat«, wie Angelika Holterman sagt, worauf ein leises Lachen durch den Saal geht, als wäre man ertappt worden und wolle das auch nicht leugnen.

Regine Hildebrandt erzählt inzwischen von ihrem einstigen Kunstbuch mit Beispielen der Romanik, Gotik, des Barock. »Und ständig war Bayern drin! Nun ist man da. Und das ist immer wieder so irre.« Sie möchte dem Publikum die damalige, verzehrende Sehnsucht nach den Orten jenseits der DDR-Grenzen nahe bringen: »Wie das ist, wenn man 40 Jahre hinter der Mauer sitzt! Welche Wut da aufkam, welche Verletzung.«

Sie erzählt, wie sie von den Stränden auf Hiddensee oder Rügen die Fähre von Saßnitz nach Trelleborg mit den Augen verfolgt habe. Und als sie ihre erste Reise zu Verwandten nach Hamburg machte - sie verschweigt nicht, dass diese Reise noch vor der Maueröffnung stattfand, in den letzten DDR-Jahren, als »die Reiseerleichterungen kamen« - da ist sie mit dem Schiff nach Dänemark gefahren. Sie wollte über die Ostsee. Selbst im Nebel. Eigentlich sah sie nichts, aber die Deutschlandkarte der Schule vor Augen, die in der Mitte der Ostsee aufhörte, fuhr sie triumphal hinüber. »Verstehen Sie! Welche Freude es für uns ist, dass wir jetzt die Bewegungsfreiheit haben!«

So redet sich Regine Hildebrandt in die Herzen des Münchner Publikums. So versucht sie es zumindest. Was das Publikum denkt, ist kaum zu ahnen. Wer hört nicht gern solche Geschichten, in denen man selbst als Ziel eines ungestillten Begehrens vorkommt? Aber einen Pferdefuß vermuten die Misstrauischen wohl doch in diesen emphatischen Auslassungen. Und der kommt auch.

Als Vorbote des Wechsels spricht sie beiläufig die Ressentiments an: »Sie haben ja gemerkt - als die Ostler reisen durften, na Hilfe, da sind sie bis Bayern gekommen, nicht? Da warn sie alle da! Wegen dieser großen Freude sind die Ostdeutschen jetzt wie die Kakerlatschen überall unterwegs!« Kakerlatschen, ihre Erfindung? Nicht so gemein wie Kakerlaken, aber sie gibt zu erkennen, dass sie weiß, was geredet wird. Wieder ertappt. Und sie fährt hemmungslos berlinernd fort: »Man sagt schon, Mensch, die haben doch gar nicht so viel Geld, warum fahren sie über allhin? Die Sachsen kann man ja immer raushören«, das Publikum lacht, »wie die Bayern.« Das Publikum lacht immer noch. »Die Berliner sprechen ja Hochdeutsch«, fügt sie an, und wieder hat sie für Momente das Publikum gewonnen. Wie lange reicht das?

Denn jetzt kommt die erste harte Tatsache wie nebenbei: »Müsste die Erzieherin, die vor der Arbeitslosigkeit steht, nicht ihre paar Piepen zusammenhalten? Sie wird entlassen, weil wir keine Kinder mehr haben. Die Geburtenrate ist seit der Wende um zwei Drittel zurück gegangen. Um zwei Drittel!«

Aber Regine Hildebrandt glaubt offenbar noch immer nicht, ihr Publikum ganz für sich erwärmt zu haben. Sie will noch Zucker geben und lobt an der Einheit die gewonnene Meinungsfreiheit. Die Stasikiste sei nicht das Entscheidende gewesen, wirft sie hin, viel schlimmer war die Bevormundung, der Blödsinn, der einem zugemutet wurde. Sie erzählt noch einmal Beispiele, man kann lachen und schaudern. Bis es - wie die Anwesenden von ihr erwarten - zur Sache geht, zu den wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen.

Beginnt sie damit zu spät? Nachher, am Ende der Veranstaltung, äußern Besucher im Gespräch, sie habe halt um Verständnis für die Unbeholfenheit der Ostler geworben. Mehr sei nicht gewesen. Seltsame Wahrnehmung. Die Zahlen scheinen sie nicht erreicht zu haben.

Überhaupt ist da eine Veränderung des Tons. Ein Wir taucht auf, kein enthusiastisches mehr, eher eines, das die Schicksalsgemeinschaft der Ostdeutschen beschwört: »Auch wenn wir den Staat nicht wollten, haben wir dort natürlich vernünftig gearbeitet. Wir haben ja in dem Land gelebt. Und das Problem: Wir waren zwar innerhalb des Ostblocks einsame Spitze, aber nicht konkurrenzfähig im Westen. Es gab keine Währungsgleichheit. Wir hatten keine Devisen!«

Und sie erzählt von den unendlichen Problemen in ihrem eigenen Berufsalltag als Biochemikerin im Labor, wo Insulin hergestellt und gereinigt werden musste, wofür die Geräte fehlten und eben die Devisen, um sie zu kaufen. Und was haben sie getan? Nachgebaut! Mit den Betriebshandwerkern hat sie alles besprochen, die eigene Glasbläserei lieferte Röhrchen, jemand brachte Dichtungsringe von Motorrädern

»Verstehn Sie? Das sage ich Ihnen jetzt, damit sie nicht immer bloß denken: Wie kläglich sah denn da alles aus! Die Frage ist, wie wird bewertet, was damals getan wurde? - Auf einmal alles nichts mehr wert?« Sie betont, dass im Osten »wirklich phantastisch ausgebildet« wurde. Nicht nur als Erstausbildung, auch die Weiterbildung gehörte dazu. Sechs Prozent der Frauen hatten keinen Berufsabschluss, in Westdeutschland hingegen 30 Prozent der Frauen. »Muss man sich mal überlegen«, schlägt sie vor. In die Stille, die sich im Raum ausgebreitet hat, ruft eine robuste Bayerin vom vordersten Tisch: »Frau Hildebrandt, reden sie doch nicht immer von früher!«

So lässt sie sich nicht bremsen. »Wie gelten die Abschlüsse?« Rund 60 Prozent der Intelligenz seien aus ihren Stellen entfernt worden. Die Eliten seien weg. Ihre eigene Ausbildung als Fachbiologin für klinische Chemie und Laboratoriumsdiagnostik gelte im Westen nichts. Eine unsinnige Entwertung von Qualifikationen. Den Betroffenen bleibt das Arbeitslosengeld. Dann müssen sie sich anhören, sie würden sich in der Hängematte ausruhen. »Das ist wirklich furchtbar. Verstehen Sie?«

Die Arbeitslosenquote betrage 17-20 Prozent. Auf einen angebotenen Arbeitsplatz kämen in Brandenburg 50 Bewerber. Der Fehler war die Aufwertung der Ostmark, zwar nicht für die Privatvermögen, aber für die Industrie. Die Ostmärkte sind weggebrochen. Und heute liegen sie fast ganz in der Hand westdeutscher Betriebe. Sie sind in Wirklichkeit umverteilt worden. Regine Hildebrandt schießt ihre Prozentzahlen und absoluten Zahlen heraus. Und zieht den Schluss: »Die Umstellung der Planwirtschaft auf die Marktwirtschaft ist nicht gelungen.« Diesmal ist die Stille noch tiefer. Jemand ruft: »Warum haben Sie das damals nicht gesagt?« Und die Frau vom ersten Tisch meutert wieder: »Ach, das ist doch Vergangenheit! Wir wollen wissen, was heute ist.«

Regine Hildebrandt beharrt: Was heute ist, hat da seinen Ursprung. Der Guardian habe so schön geschrieben, die Währungsunion sei wie ein Atomschlag mit Sofortwirkung und Langzeitwirkung über das Land gekommen. Der Osten habe auf einen Schlag seine Märkte verloren. Die westdeutsche Industrie habe 200 Milliarden Umsatz mehr durch Befriedigung des ostdeutschen Marktes gemacht. Nach der Privatisierung durch die Treuhand seien 85 Prozent des Produktivvermögens in westdeutsche Hand gewandert, neun Prozent in ausländische, sechs Prozent in DDR-Bürgerhand. Die neuen Bundesländer stellten nach einer EU-Statistik den Landstrich in Europa dar, wo den Menschen am wenigsten von dem, wo sie arbeiten und wohnen, gehört.

Sie möchte den Wertetransfer von Ost nach West bewusst machen: den Transfer von Menschen, Märkten und Eigentum an Liegenschaften. »Die Wirtschaft war doch nichts wert«, ruft die Frau aus dem Publikum. Rohwedder habe das Vermögen auf 600 Milliarden geschätzt, kontert verzweifelt Regine Hildebrandt. 60 Prozent der Unternehmen galten nach der Wende als sanierungsfähig. Strauß habe ...

Der Name löst den Aufschrei der Bayerin aus und einen Tumult: Strauß war da schon lange tot! wird Regine Hildebrandt fünffach belehrt. Sie aber will die Millionen von Strauß anbringen, um dem Publikum klarzumachen, dass in die DDR-Industrie auch investiert wurde. - »Ist doch Wurscht!« tönt es vom ersten Tisch. Hildebrandt: »Das alles zeigt, dass es sich gelohnt hätte, zu sanieren.« »Wir wollen jetzt endlich diskutieren!« Geschrei im Saal. »Halten Sie doch einmal die Klappe!« Das gilt der aufmüpfigen Bayerin.

Regine Hildebrandt will ihr Publikum wieder in den Griff kriegen: »Denken Sie immer daran, wie ich mich über die Einigung gefreut habe. Nicht dass Sie denken, die rote Socke erzählt uns was. Das sind alles offizielle Zahlen. Aber nach der Euphorie gab es im Osten die unendliche Enttäuschung.« Bayerin: »Auch bei uns!« Sie sei aber eine unverbesserliche Optimistin, setzt Regine Hildebrandt fort. Darum glaube sie, dass durch Infrastrukturentwicklung, Ausbildungsplätze, Eigenkapitalhilfe für den Osten, Programme zur Förderung der Teilhabe am Produktivkapital das wieder hinzukriegen sei. Die Flexibilität, die sie lernen mussten, sei künftig ihre Chance.

In einem Punkt möchte sie allerdings keine Anpassung an den Westen. Für die Menschen aus der DDR stünden soziale Gerechtigkeit und Gleichheit bekanntlich an erster Stelle in der Werteskala. Freiheit, Geld und Besitz rangierten erst danach. In Westdeutschland habe seit Ende der sechziger Jahre die persönliche Freiheit an der Spitze gestanden. Nach neuen Umfragen aber kehre man auch hier zunehmend wieder zur sozialen Gerechtigkeit, Chancengleichheit und Solidarität als den ersten Werten zurück. Das begrüße sie.

»Wir sind jetzt ein Deutschland!« Endlich kommt die Bayerin mit einem richtigen Diskussionsbeitrag zu Wort. »Da soll man nicht schreien, wer hat dies, wer hat jenes. Man muss korrekt sein.« Nun aber ist sie es, die gleich wieder unterbrochen wird von einem allgemeinen Getöse. Was sie denn überhaupt wolle, tönt es. »Ich will, dass Frau Hildebrandt sagt, dass wir ein Deutschland sind und nicht Ost und nicht West!«

Die Fragen prasseln in Hochdeutsch, Berlinisch und manchmal auch Bayerisch auf den Gast ein. Es geht um das Jammern der Ossis, die Milchquoten in den neuen Bundesländern, die alten Ressentiments gegen die DDR und ihre Langzeitwirkung, Seilschaften und Bürokraten. Es interessiert, warum Regine Hildebrandt nicht vor dem Mauerbau schon abgehauen sei und wie sie denn überhaupt als Regimegegnerin das Abitur machen konnte. Manche Leute ergänzen auch die Rednerin, appellieren an die Bayern, mehr Verständnis für den Osten aufzubringen. Wer ist dieses Publikum? Da sind kaum die SPDler aus München, wie erwartet werden durfte. Es ist auch keine bestimmte Szene, die sich von politischen Veranstaltungen her kennen würde. Bis irgendwann zum Schluss jemandem ein Licht aufgeht: Im Saal sitzen vor allem die versprengten Ossis! Sie sind es. Sie haben sich bei der »Mutter Courage aus Brandenburg« etwas geholt, vielleicht Argumente oder eine Bestätigung ihrer eigenen Erfahrungen, vielleicht auch Nachrichten von zu Hause.

Die »Initiative Innere Deutsche Vereinigung e.V.«, München, setzt sich zum Ziel, die Fremdheit zu überwinden, die im deutsch-deutschen Verhältnis noch immer dominiert, wie es in ihrem Papier heißt. Mittel dafür sollen Schüleraustausch, Belebung der deutsch-deutschen Städtepartnerschaften sein, auch Vorträge, Seminare in Firmen, die in Ost und West etabliert sind. Die Vorsitzende Dr. Angelika Holterman ist Dokumentarfilmerin und war nach der Wende in Schwerin und Bitterfeld bei Berufsfördermaßnahmen beschäftigt. Die brandenburgische Sozialministerin a.D. Regine Hildebrandt sprach auf der Veranstaltung der Initiative zu dem Thema »Gemeinsam einsam? Über die wachsende Entfremdung zwischen Ost- und Westdeutschland«.

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