Video

Linksbündig Bilder des Tötens wühlen die serbische Gesellschaft auf

Die Aufnahmen wurden gemacht, um mit dem Morden zu prahlen. Sie zeigt, wie sechs Männer, drei von ihnen wohl Jugendliche, aus einem LKW geholt und nacheinander erschossen werden. Der Mann mit der Kamera flucht, sein Akku sei leer. Das Geschehen ist zehn Jahre her, Juli 1995, bei dem Dorf Trnovo in der Nähe von Srebrenica. Sechs Muslime wurden getötet. Wir haben davon nur aus der Presse erfahren, doch die Menschen in Serbien haben die Aufnahme am 1. Juni dieses Jahres im Fernsehen gesehen. Dem Gericht geht es vor allem um die Uniformen der Täter. Sie sind erkennbar als Angehörige der paramilitärischen Truppe "Skorpione", die dem Innenministerium Serbiens unterstand. Milosevic weist bekanntlich alle Verantwortung für die Mordtaten der serbischen Seite in Bosnien nach seinem Bruch mit Karadzic 1994 von sich. Das wird für ihn jetzt schwieriger werden. Darin liegt die politisch-juristische Bedeutung des Dokuments.

Die Ausschnitte aus dem Video haben in Serbien einen Schock ausgelöst. So wird es in den Medien berichtet und darüber wollte ich schreiben: über ein Aufwachen, über Konfrontation mit der Wahrheit, über Bilder, die Blockaden auflösen und endlich eine Selbstbefragung in Gang setzen. Ich erinnerte mich sofort an die amerikanische TV-Familiengeschichte Holocaust, die 1979 in der BRD ein Massenpublikum erschütterte, so dass überall notiert wurde: Erstmals konnten Deutsche über Juden weinen. Wie viel Einsicht damit verbunden war, sei dahingestellt.

Telefonate nach Belgrad haben nun die Vorstellung von einem Sinneswandel wieder verwirrt. Resigniert geben meine Gesprächspartner zu erkennen, dass sie nicht daran glauben, auch wenn eine Belgrader Konferenz über Srebrenica eine Woche nach der Sendung des Videos "tiefe Veränderungen nach dem langjährigen Schweigen" feststellt. Diese Gesprächspartner sind Sympathisanten und Mitstreiter von Natasa Kandic, der Leiterin des Fonds für humanitäres Recht, die das Videomaterial entdeckt und an die Öffentlichkeit gegeben hat. Und sie erzählen, dass das Band in einer Videothek in der Stadt S?id stand und dort den Insidern ausgeliehen wurde. Nicht zur Aufklärung, sondern um die Mordtaten wieder zu erleben. Zehn Jahre lang. Alle hielten dicht, bis jetzt.

Die serbische Gesellschaft weiß, was von 1992-1995 in Bosnien geschehen ist und kennt ihren Anteil. Über die Massaker in Srebrenica wurde vor Jahren schon ein zweistündiger Dokumentarfilm gesendet, die Informationen sind vollkommen da, die Verantwortung ist klar. Aber die Haltung dazu verengt sich in nationalistischer Abwehr. Das scheint der letzte Strohhalm für das Selbstwertgefühl des desolaten und verarmten Landes zu sein. Diese mächtige Barriere gegen das Erkennen der Wahrheit werde auch so ein Film-Dokument nicht einreißen, meinen die Belgrader Freunde.

Im Video ist ein Priester zu sehen, der die Mörder segnet. Die Kirche schweigt bislang dazu, trotz vieler Aufforderungen, sich zu äußern. Sie schweigt und rechnet darauf, dass der Sturm vorübergeht. In den Kirchenläden gibt es Heldengeschichten über Ratko Mladic, den serbisch-bosnischen Kommandeur, und über Karadzic zu kaufen. Die Politik schwimmt mit der nationalistischen Stimmung und verstärkt sie. Das Parlament hat vor wenigen Monaten die serbischen Cetniks zu Antifaschisten erklärt und den Partisanen gleichgesetzt, mit dem Hinweise, sie hätten gegen die deutsche Wehrmacht gekämpft. In Wirklichkeit kollaborierten sie damals aber bald gegen die Partisanen. Als chauvinistische, antikommunistische Soldateska haben die Cetniks in Serbien und Bosnien Massaker mit Hunderttausenden Opfern angerichtet.

Aber jetzt sind doch einige der Paramilitärs verhaftet worden, die man bisher verschont hatte. Die Verhaftung von Mladic ist angekündigt. Vielleicht war dafür die Sendung des Videos von Nutzen. Große Kämpfe würden in den Institutionen stattfinden, wurde auf der Srebrenica-Konferenz in Belgrad betont. Vielleicht hat ja die westliche Faszination für Medienwirkung und -macht dazu verleitet, nach den ersten erschrockenen Reaktionen auf das Video so viele Berichte über eine sich neu besinnende serbische Öffentlichkeit zu verfassen. Vielleicht ist es auch Wunschdenken. Dort weiß man, dass zum Umbesinnen mehr gehört: eine Richtung der Politik und der gesamten Entwicklung, auch eine Perspektive. Und letztlich muss angemerkt werden, dass nach der Sendung des Videos auch Bedrückung und Unbehagen aufkommen, weil die furchtbaren Bilder einer ungeheuerlichen Realität in Millionen Zuschauern das Trauma des gewaltsamen Todes hinterlassen werden.


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