Am 7. November 1917 (nach alter Zeitrechnung Ende Oktober) begann in Russland, was die Geschichtsbücher die "Oktoberrevolution" nennen. Sie war der Auftakt des größten gesellschaftlichen Experiment des 20. Jahrhunderts. Ihre Vorgeschichte erinnert allerdings daran, dass es sich keineswegs nur um den Putsch einer Minderheit handelte, sondern um eine breite Bewegung.
Es herrscht weitgehend Schweigen über die Oktoberrevolution. Als ob sich die Gründe für diese Revolution irgendwo in der Geschichte verloren hätten. Ist ihre einstige Anziehungskraft ganz erloschen? Von den Ideen - nichts mehr da? Weil die Hoffnungen enttäuscht wurden? Oder weil alles in eine Niederlage mündete und Verlierer nicht zählen?
Was 1917 und in den Jahren danach gedacht und erprobt und verloren wurde, ist heute nicht erledigt: Brüderlichkeit, Gleichberechtigung und die Vorstellung von der Kreativität des Volkes, die, wenn sie freigesetzt ist, Erstaunliches hervorbringt. In der Sowjetunion, die sich in übergroßer Anstrengung die "nachholende Industrialisierung" auferlegte, im Bürger- und Interventionskrieg ausgeblutet, in Blockaden ausgehungert, im Zweiten Weltkrieg fast vernichtet wurde, sich verschanzte und diktatorisch umwandelte, sind später diese Ideen und Prinzipien verdrängt, verboten, verbogen worden. Davon erfahren wir am meisten, diese Geschichte soll nun wie eine Regel, die für alle Revolutionen gilt, im kollektiven Gedächtnis festgeschrieben werden. Und aus dem Erschrecken darüber soll eine Art Immunität gegen soziale Utopien und gegen jeden Traum von einer Umgestaltung der Verhältnisse entstehen. Das hoffen Herrschende, die wissen, dass sie stets mit der latenten Bereitschaft zur Veränderung von unten rechnen müssen. Die Oktoberrevolution selbst wird aus heutiger Sicht meist auf das Komplott eines Grüppchens kalter Strategen um Lenin reduziert.
Doch im Jahr 1917 steuerte nicht nur Russland auf die Revolution zu - überall in Europa wurde die Umwälzung der Verhältnisse erwartet. Es war ein Aufwachen der Völker, in langen Schüben. Der Erste Weltkrieg, der mörderische Kampf der Oberklassen um Märkte und Kolonien, um den "Platz an der Sonne", um die Hegemonie in Europa teilte jede Nation. "Europa gleicht einem gigantischen Menschenschlachthaus", hieß es im Zimmerwalder Manifest vom September 1915, das eine Minderheit der Sozialistischen Internationale verkündete, während der Hauptteil der europäischen Sozialdemokraten dem nationalistischen Taumel erlegen war und einen "Burgfrieden" mit dem jeweiligen Kaiser, König oder der Regierung schloss. "Krieg dem Kriege" war die Losung dieser Radikalen, die später in allen Ländern die Kommunistischen Parteien gründeten. Lenin gehörte dazu.
Die erste Revolution gab es in Russland schon 1905. Deren Anfang brannte sich ins Gedächtnis ein: Mit Heiligenbildern zog eine unübersehbare Menge von Petersburger Arbeitern bittend zum Zaren, sie wurden mit Schüssen empfangen. Der "Blutsonntag". Es folgte ein zwei Jahre dauernder sozialer Aufstand, der in Wellen, ohne eine Lenkung oder Führung über das ganze Riesenland zog. Die Erinnerung an die Pariser Kommune und ihre sozialistische Vision erneuerte sich. Zum ersten Mal wählten Arbeiter und Soldaten ihre Räte, die Sowjets, die zwölf Jahre später, im Oktober 1917, die entscheidende Wende in die Geschichte des 20. Jahrhunderts brachten. In jenen Kämpfen erstarkten die revolutionären Organisationen Russlands. Sie studierten die neuen Widerstandsformen, bearbeiteten ihre Erfahrungen in Gefängnissen, in der Verbannung und im Exil.
Das Dröhnen der Geschichte
Beim Lesen über diese Ereignisse ist wieder das Dröhnen der Geschichte zu vernehmen. Von diesem Dröhnen haben viele gesprochen, es begleitete Alexander Block in den Wochen des Januar 1918, während er sein Poem Die Zwölf schrieb, es ist bei Majakowski zu hören, bei Pasternak, Eisenstein, und beim amerikanischen Journalisten John Reed in seinem damals weltweit gelesenen Buch Zehn Tage, die die Welt erschütterten.
Die Revolution 1917 hat wie eine späte Saat der Gewalttat vom "Blutsonntag" begonnen: Die Petrograder Arbeiter gingen am 9. Januar zum Gedenken auf die Straßen, sie forderten "Schluss mit dem Krieg". Ähnliche Kundgebungen gab es in Moskau, Baku, Nishni Nowgorod, Charkow, Woronesh - in den städtischen Zentren des ausgedehnten Zarenreichs. Es zeigten sich die ersten Spuren der bolschewistischen Aufklärungsarbeit und Agitation. An den Fronten kam es zur Verbrüderung russischer und österreichischer Soldaten.
Polizei trieb die Mengen schießend auseinander, aber der Aufruhr war nicht mehr einzudämmen. Das beunruhigte auch die britischen und französischen Kriegsverbündeten. Endlich ließ Zar Nikolaus II. auf ihr Drängen zu, dass die suspendierte Duma, das ständisch gewählte Parlament, zusammentrat. Gleich die erste Sitzung am 14. Februar endete im Tumult, als Alexander Kerenski, später Justiz-, dann Kriegsminister und bis zum Oktober Ministerpräsident einen Separatfrieden mit Deutschland vorschlug. Er tat es nie wieder, trieb im Gegenteil die erschöpfte Armee in eine neue Offensive.
Indessen wuchs die Not. Nahrungsmittel wurden rar, Preise stiegen, Hungernde füllten erregt die Straßen, Polizei montierte auf Dächern Maschinengewehre, Soldaten desertierten von der Front. Als 30.000 Streikende der Putilow-Rüstungswerke in Petrograd ausgesperrt wurden, steigerte sich die Empörung bis zum Generalstreik, der die ganze Stadt erfasste. Die Menschen zogen Tage lang mit roten Fahnen, der bolschewistischen Losung "Krieg dem Kriege" und Liedern über den Newskij Prospekt.
Wieder schossen Polizisten auf die Demonstranten, aber es geschah das Ersehnte: die Soldaten verweigerten den Befehl. Nach zwei Wochen Streik verbündeten sich die Garderegimenter unter Jubel mit den Arbeitern, sie holten gemeinsam Waffen aus dem Arsenal, stürmten die Gefängnisse, besetzten Bahnhöfe, die Peter-Paul-Festung, das Telegrafenamt. - Eine große Zuversicht erfasste die Massen, dass der Umsturz diesmal gelingen werde. Und noch immer war es erst Februar.
Die konservative Mehrheit der Duma erwog, dem Großfürsten Michael, Bruder des Zaren, Vollmachten als Diktator zu geben - aber für die Rolle fehlte es längst an loyalen Truppen. Am 27. Februar zog der Sowjet, der Arbeiter- und Soldaten-Rat, in den Taurischen Palais ein, wo auch die Duma tagte, die eine Provisorische Regierung aus zehn Ministern wählte. Es begann die Zeit der "Doppelherrschaft" von Regierung und Petrograder Sowjet. Als auch in Moskau der Aufstand ausbrach, unterzeichnete Nikolaus II. in der Nacht vom 1./2. März seine Abdankung.
Die Gunst der Stunde
In den acht folgenden Monaten zeigte sich der Willen der Bolschewiki zum Umsturz, ihre Geistesgegenwart bei der Wahrnehmung des historischen Moments und Lenins Fähigkeit, die Veränderungen jeweils rasch zu analysieren. Noch waren sie Teil der Russischen Sozialdemokratie, auch wenn sie schon lange ihre eigene Organisationsstruktur hatten. Die andere Hälfte der Partei, die Menschewiki, waren überzeugt, dass erst einmal die bürgerliche Revolution anstand, die auch Treue zur verbündeten britisch-französischen Entente verlangte, also die Fortsetzung des Krieges wie auch die Verteidigung des Eigentums der Guts- und Fabrikbesitzer. Sie unterschätzten die Energie der Massenerhebung der Arbeiter und Bauern. Die Partei der Sozialrevolutionäre war ebenfalls in einen linken und einen rechten Flügel gespalten und verlor im Laufe des Sommers und Herbstes 1917 viel von ihrem Einfluss in den Sowjets, wo sie anfangs die Mehrheit stellte. Auch die Sozialrevolutionäre konnten sich wie die Menschewiki und die Provisorische Regierung nicht durchringen zu einem "Frieden ohne Annexionen und Kontributionen". So hieß die Formel der Bolschewiki, mit der sie immer populärer wurden.
Im April 1917 kehrte Lenin aus zehnjährigem Exil zurück, auch viele andere Bolschewiki kamen aus Verbannung, Gefängnis, Illegalität. Lenin stellte gleich die Losung "Alle Macht den Sowjets" in den Raum, sie wirkte auf die meisten - außer auf die schon erfahrenen Petrograder Arbeiter - befremdlich. Doch die kommenden Monate zeigten, dass die Provisorische Regierung auf die elementaren Probleme des Volkes gar nicht eingehen konnte. Die Forderungen nach einem Friedensschluss und nach Land für die armen Bauern waren im bürgerlichen System, das sich zu etablieren suchte, ebenso wenig erfüllbar wie unter dem Zaren.
Die Etappen des Machtkampfs waren dramatisch. Die Armee wurde in eine neue Offensive gegen die Deutschen geschickt. Sie endete im Desaster. Am 3. Juli kam es zu einem spontanen Umsturzversuch durch Soldaten, Matrosen aus Kronstadt und Arbeiter in Petrograd. Sie zogen mit Frauen und Kindern zum Sowjet und forderten, er solle die Macht ganz übernehmen. Die Bolschewiki befanden sich in einem Dilemma: diese unvorbereitete Erhebung folgte ihrer Losung, aber sie gaben ihr in diesem Moment keine Chance. Der Sowjet zeigte sich überfordert, er wollte nicht die ganze Macht. Als die Menge sich zu zerstreuen begann, verfolgten sie die Schüsse von regierungsloyalen Truppen.
Zahlreiche Geschichtsbücher nehmen im Ton des Bedauerns die Fehler der bürgerlichen Politiker in diesem Sommer auseinander: Sie hatten noch einmal ihre Chance bekommen und sie vertan. Denn die Bolschewiki wurden verantwortlich gemacht für das Geschehen, ihr Ansehen sank tief, viele wurden verhaftet oder in die Illegalität zurückgezwungen, ihre Druckerei zerstört, die Prawda verboten, Lenin als deutscher Spion diffamiert. Er floh nach Finnland.
Der Nährboden der Revolution
Doch der Nährboden der Revolution blieb. Was ist es, das Menschenmassen zum Aufruhr bringt? Sie dabei verändert und inspiriert? Es geschieht immer wieder in der Geschichte. Als Sklavenaufstände, Ketzerbewegungen, Bauernkriege, Streikbewegungen, antikoloniale Befreiungskämpfe - und immer geht es mit einer Vorstellung von Gleichheit einher, von einer gerechten Verteilung der Güter dieser Welt und der Abschaffung von Herrschaft. Die heutigen Eliten wollen gewappnet sein. Sie lassen jede widerständige Regung aufspüren, wollen kleinste Gruppen innerhalb der ganz und gar kontrollierten Gesellschaft im Griff haben, bevor Bewegungen aus ihnen entstehen könnten. Sie bauen auf die Spitzentechnologie der Überwachung und perfektionieren fortlaufend die Mittel der Manipulation. Zur Manipulation gehört auch das Löschen von historischen Erinnerungen.
Die Bolschewiki sahen nach dem zerschlagenen Juli-Aufstand auf einem geheimen Parteitag in Petrograd zwei Möglichkeiten der Entwicklung: die sozialistische Revolution oder den totalen Sieg der Konterrevolution. Im August sammelte General Kornilow tatsächlich Truppen zu einem Putsch, um die Verhältnisse insgesamt wieder zurückzudrehen. Der wurde in hundertfacher Anstrengung vereitelt, nicht von der Regierung, sondern wieder von den linken Kräften. Dabei entstand die Rote Garde in Petrograd, Truppen, die direkt dem Sowjet unterstanden, deren Vorsitzender Leo Trotzkij wurde. Er schuf das "militärisch-revolutionäre Komitee", das die Oktoberrevolution befehligte. Von den Bolschewiki kamen immer wieder die überzeugenden, stimmigen, die Kräfte ausrichtenden Losungen. In allen Sowjets des ganzen Landes stimmten die Delegierten über eine bolschewistische Resolution ab: Für eine Arbeiter- und Bauernregierung, für Friedensschluss, Veröffentlichung der zaristischen Geheimabkommen, Abschaffung der Eigentumsrechte der Gutsbesitzer und der Todesstrafe. Überall gab es Mehrheiten dafür.
Die Revolution wurde offen vorbereitet. In Petrograd standen 40.000 Kämpfer unter Waffen. Auch das Datum des Beginns war kein Geheimnis: Der Vorabend des Zweiten Allrussischen Sowjetkongresses, der am 25. Oktober, nach heute gültigem Julianischen Kalender der 7. November, beginnen würde. So geschah es. Die Regierung im Winterpalais wurde verhaftet. Als Lenin im Kongress-Saal der Sowjets auftauchte, war nach dem minutenlangen Jubel sein erster Satz: "Wir beginnen jetzt mit dem Aufbau der sozialistischen Ordnung."
Alle Daten nach dem Gregorianischen Kalender, der bis 1918 in Russland galt.
Auszüge aus einem Aufruf von 17 russischen Historikern, Philosophen und Ökonomen für die Wiedereinführung des Feiertags der Oktoberrevolution
Wladimir Putin hat den Revolutionsfeiertag gestrichen. Dagegen wendet sich dieser Aufruf. Die großen Revolutionen würden in allen Nationen gefeiert, obwohl Gewalt, Fehler und Verfälschungen überall aufgetreten seien. Die Verfasser bekunden, dass sie die Sowjetunion unterschiedlich beurteilen, aber einig seien in der Bewertung des Oktobers. Die Sowjetunion sei gescheitert, weil sie die Prinzipien der Revolution von 1917 aufgegeben habe. Doch das rechtfertige nicht, sich vom Oktober loszusagen, ihn als Verschwörung zu verunglimpfen und seine Führer als Abenteurer und Spione zu verleumden.
"Die Revolution war ein soziales Erdbeben; niemand konnte sie durch bloße Aufrufe auslösen. Sie entstand kraft der den Ereignissen innewohnenden eigenen Entwicklungslogik, in einer Situation, in der zahlreiche Quellen der Unzufriedenheit des Volkes einen einzigen, alles mit sich reißenden Strom speisten. (...)
Viele Revolutionen gehen mit Gewalt einher, wie es sich in den bürgerlichen Umwälzungen der Niederlande, Englands und Frankreichs zeigte. Bekanntlich führte die Abschaffung der Sklaverei in Nordamerika zum blutigsten Bürgerkrieg des 19. Jahrhunderts. Auch in Russland verband sich der Niedergang des Feudalismus mit Kriegen und Revolutionen. (...)
Der Pariser Kommune folgend, hob die Oktoberrevolution die unteren Schichten der Gesellschaft auf die Ebenen der Macht. Millionen Werktätige zu sozialem Schöpfertum stimulierend, zeigt die Revolution auf anschauliche Weise, dass nicht nur die Elite dazu befähigt ist, Subjekt und Demiurg der Geschichte zu sein. (...)
Aus dem Scheitern des sowjetischen Gesellschaftsmodells ist nicht zu folgern, dass die Ideale des Oktober falsch waren. Das historische Projekt des Sozialismus wird nicht im ersten Anlauf verwirklicht. Zahlreiche Länder setzen die Bewegung heute fort, wobei sie die Lehren aus den Niederlagen und die Tragödie der Vergangenheit berücksichtigen. Davon zeugt die neue Welle revolutionärer Veränderungen, die sich besonders kraftvoll in einer Reihe von Ländern Lateinamerikas und Asiens entfalten. (...)
Die Oktoberrevolution war und bleibt unser Schicksal. Dem Volk muss sein revolutionärer Feiertag und die Wahrheit über den Oktober zurückgegeben werden. Man darf nicht vergessen, dass wir in einem Land leben, dessen Geschichte eine große Revolution verzeichnet. Darauf kann und muss man stolz sein."
W. G. Arslanow, Kulturwissenschaftler
G. A. Bagaturija, Philosoph
A. W. Busgalin, Ökonom
M. I. Bojekow, Ökonom
I. Borobjow, Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften
A. A. Galkin, Historiker
S. S. Dsarassow, Ökonom
L. G. Istjagin, Historiker
D. Sch. Kelle, Philosoph
A. I. Kolganow, Ökonom
W. T. Loginow, Historiker
R. A. Medwedew, Historiker
E. N. Rudik, Ökonom
F. Schatrow, Dramaturg
S. L. Serebrajkowa, Historikerin
B. F. Slwawin, Philosoph
O. N. Smolin, Philosoph, Deputierter der Staatsduma
Veröffentlicht in Moskowskije Nowosti, übersetzt von Peter Borak, zuerst erschienen in: Junge Welt vom 23.8.07
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