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DIE DEMOKRATISCHE STREITKULTUR Bettina Gaus beschreibt, wie Deutschland am Konsens erstickt

Wer im Sommer 1989, als die Auflösung der DDR noch nicht gedacht wurde, aus der Bundesrepublik nach Afrika geht, muss bei der Rückkehr 1996 mit einem verwandelten Land rechnen. Bettina Gaus, sieben Jahre lang als Korrespondentin der taz in Nairobi (von dort unterwegs in Kenia, Somalia, Uganda, Burundi, im Sudan, in Zaire und überall mit Kriegen, Hunger konfrontiert, aber auch mit Menschen, die für Entwicklung und gegen terroristische Regime kämpfen) war auf vieles gefasst. Vor allem darauf, bei den öffentlichen Debatten eine Menge nachholen zu müssen: nicht nur über den Zusammenschluss von DDR und BRD, auch über die soziale Polarisierung, den Euro, das Steuersystem, die Bundeswehr im Balkan und vieles andere. Von fern sah sie das Land in heftigen Veränderungen befindlich.

Nach der Rückkehr, in Bonn als Leiterin des Parlamentsbüros der taz, jetzt mit der Regierung nach Berlin übergesiedelt, immer in der Nähe der Parlamentarier, Ministerialbeamten, Regierungsvertreter, Journalisten machte sie die verblüffende Entdeckung: es wird kaum öffentlich gestritten über alle diese Themen. "Nicht die Kontroverse, sondern der Konsens ist das Zauberwort der Zeit."

Allmählich erst wird ihr eine neue "Verachtung der traditionellen demokratischen Streitkultur" deutlich. Gerhard Schröder sei der Exponent dieser Politik: er gibt sich die Vermittler-Rolle, statt eine Haltung zu repräsentieren. Seine Formel im Wahlkampf: nichts solle anders, aber vieles besser werden, gleiche einer "religiösen Heilsverheißung". Die Autorin kann kaum entscheiden, was sie daran mehr stört: "der individuelle Größenwahn oder die programmatische Bescheidenheit."

Schäuble und Lafontaine hätten auf ihre Weise noch die Streitkultur zu bewahren versucht, vergeblich. Die "Sprachlosigkeit" würde bis in die privaten Gespräche reichen. Um die Auseinandersetzung über ein Sachthema zu vermeiden, "werden ironische Halbsätze und flüchtig hingeworfene Bemerkungen als Fühler ausgestreckt." Ihr Eindruck ist, "eine inhaltliche Kontroverse werde in Deutschland inzwischen für einen Hinweis auf Naivität oder für schlechte Erziehung gehalten."

"Nahezu alle Themen werden von führenden Politikern für zu wichtig erklärt, als dass sie zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen werden dürften." Die Sprache aber wird melodramatisch (was wurde nicht schon zur "Schicksalsfrage" erklärt?), voller verbaler Übertreibungen, die die Diskussion ersticken. Die Vorschläge sind jeweils "alternativlos". In ihrem Buch Die scheinheilige Republik geht Bettina Gaus diesem Defizit nach, sie illustriert es mit unzähligen Beispielen, die aus der eigenen Arbeit, den Gesprächen, aber auch aus den politischen Ereignissen stammen, die vor aller Augen abliefen. Sie suggeriert nicht, über eine Erklärung für die Ursachen dieser Defensive zu verfügen. Sie beschreibt sie. Und sie fürchtet, der Tiefpunkt sei noch nicht erreicht.

Auffällig ist ihr: Der Glaube daran, eine Wahl zu haben, ist bei Politikern zerbrochen. Wer keine Wahl zu haben glaubt, fügt sich.

Die gegenseitige Instrumentalisierung der Politiker und Medien ist ein großes Thema im Buch: Man verachtet einander und bedient sich des anderen, was wiederum die Verachtung vertieft. Auch die des Publikums, das diese Spielregeln mehr durchschaut, als angenommen wird. Journalisten, die aus dem Bundestag und über die Regierung berichten, müssen ein eigenes System erlernen, mit Hintergrundgesprächen, internen Papieren, gezielten Indiskretionen und geheimnisvollen Formeln. Das Stichwort "Unter Eins" sind Informationen, die du mit Quellenangabe zitieren darfst. "Unter Zwei" heißt: keine Quelle nennen, aber die Information streuen. "Unter Drei": Das ist nur eine vertrauliche Mitteilung für dich, du kannst sie indirekt einfließen lassen, aber nicht mehr. Das zwingt zur Vorsicht. Die Sorge vor Fehlern verleitet zu "langjähriger vertrauensvoller Zusammenarbeit". Niemand möchte den "Zugang bei Hofe" verlieren. Die internen Angebote zu benutzen, sei eine Versuchung. Sie erinnert sich selbstkritisch an ein eigenes Unterliegen. Politiker wiederum bedienen sich dieser Art der Information, weil sie sich nicht entscheiden können oder wollen, wie weit sie sich vorwagen dürfen.

Hermann Scheer, Abgeordneter und Vorstandsmitglied der SPD, lehnt für sich "Unter-Drei-Informationen" ab. Er hält sich nicht an die Regeln. Dafür hat ihn Schröder zeitweilig "zum Abschuss freigegeben". Scheer hat jedoch sein eigenes Thema, die Solarenergie. Zu seiner Lebensplanung gehört nicht das Ziel, Minister zu werden. Das gibt ihm Freiheit.

Für Bettina Gaus ist die vorherrschende defensive Politiker-Mentalität eine Folge und zugleich eine Ursache ihrer schwachen Stellung in der Gesellschaft. Ihr fiel auf, wie oft Politiker betonen, sie täten, wenn sie abgewählt würden, gern etwas anderes: Bücher schreiben. In der Industrie viel mehr Geld verdienen. Gerade letzteres eine lächerliche Fehleinschätzung. Kaum einer sagt: Er werde dann andere Weg finden, um für seine Ziele zu kämpfen. Darin unterscheiden sich in gewisser Weise nur Frauen von den männlichen Kollegen. Aber niemand spricht von Macht, die um politischer Zwecke willen erlangt werden solle. Die Politiker seien einer "kollektiven Selbstlüge" erlegen.

Die nach dem Krieg geborene Politiker-Generation halte die eigenen Erfahrungen für nicht wesentlich, vor allem nicht im Vergleich zu denen der Vergangenheit, also zum Krieg und "Neuanfang" 1945, der dann zwar nicht so neu war, aber doch jener Generation das Bewusstsein verlieh, etwas bewirken zu können. Heute fehle das Bewusstsein, etwas gestalten zu können, vor allem angesichts der Globalisierung. Von Erfahrungen aus den Jahren um 1968 distanzieren sich die "Nachgeborenen" inzwischen heftig. Für die Bevölkerung der DDR war die Hoffnung auf Gestaltungsmöglichkeit nur eine kurze Episode.

In Afrika war sie freimütigere Diskussionen gewöhnt. Die Vergleiche mit Afrika hat Bettina Gaus sparsam dosiert, aber äußerst anschaulich im Buch eingesetzt. Ihr Stil ist überhaupt nüchtern, ganz ohne Schnörkel, kein überflüssiges Wort, wenig Fremdwörter auch, der Text hat ein nicht erlahmendes Tempo.

Die verhängnisvollen Folgen des Nicht-Diskutierens hat sie am Schluss des Buchs an einem Kapitel zum Kosovo-Krieg beschrieben, das im Grunde eine Abhandlung über die UNO geworden ist: ihr Scheitern in Somalia 1992, ihre zwei Jahre darauf folgende ängstliche Abstinenz in den Wochen des Völkermords in Ruanda, was die UNO inzwischen als Schuld bekannt hat. Ruanda war ein ganz anderer Fall als Somalia, aber da es an Reflektion fehlte, blieb nur der Reflex: keine zweite Pleite. Ob eine Absicht im Spiel war, die UNO zu demontieren und an ihre Stelle die NATO zu setzen, will die Autorin nicht entscheiden. Aber dass Militäreinsätze ganz andere Wirkungen haben können als geplant, dass die Folgen schwer berechenbar sind, würden alle Aktionen dieser Art aus den letzten Jahren belegen. Diese Erfahrungen aber wurden im Zusammenhang mit dem Kosovo nicht diskutiert. Nicht einmal jetzt, nach dem Krieg, kommt diese notwendige Diskussion in Gang, obwohl die "Teilnahme der Bundeswehr an der Nato-Militäroperation für den größten Wertewandel in der Geschichte der Bundesrepublik" stehe.

Bettina Gaus: Die scheinheilige Republik. Das Ende der demokratischen Streitkultur. Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart/München 2000, 183 Seiten, 38.- DM

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