Er liebte es, bei diesen Gelegenheiten seine Schwiegertochter zu erwähnen. Sie sei "ein Mädel von der Wolga, ein anständiges Mädel", sagte Horst Waffenschmidt dann. Der Aussiedlerbeauftragte Helmut Kohls hat seine öffentlichen Auftritte gern mit großzügig bezuschussten wolgadeutschen Kulturprogrammen geschmückt. Wenn sich der stämmige Rheinländer zum Höhepunkt seiner Auftritte noch in das Gruppenbild mit der Musik- oder Tanzgruppe einreihte, dann schlugen die Herzen vieler traditionell der CDU zugeneigten Aussiedler wieder höher. Eine klare Botschaft: Russlanddeutsche und andere Deutsche gehören schicksalhaft zusammen.
Da ist Waffenschmidts Amtsnachfolger, der 53-jährige eher spröde Sozialwissenschaftler Jochen Welt (SPD) ein ganz anderer Typ. Statt mit Volkskunstprogrammen dekoriert der ehemalige Kommunalpolitiker aus dem Rheinland seine Auftritte mit akademischen Vorträgen sozialdemokratischer Soziologie- und Politologieprofessoren. Die schlagen andere Töne an. Sie bejahen die kulturelle Prägung der Spätaussiedler durch ihr russisches, kasachisches oder ukrainisches Umfeld, sie bejahen deren kulturellen Unterschiede zur deutschen Umwelt. Mit anderen Worten: Die deutschen Vorfahren verhindern nicht, dass Aussiedler ebensolche Integrationsprobleme haben wie spanische, italienische oder türkische Zuwanderer.
Elena Marburg (SPD), Migrantenbeauftragte im Berliner Bezirk Marzahn, hat an dieser späten Erkenntnis der Bundesregierung ohnehin nie gezweifelt. Seit Jahren fühlt sich die Kommunalpolitikerin, die 1990 in dem Plattenbaubezirk als Ausländerbeauftragte eingestellt wurde, wie selbstverständlich auch für die Integration der Zuwanderer mit deutschem Pass verantwortlich. Anfangs war das ein Tabubruch. Denn viele Aussiedler sehen sich in ihrer deutschen Identität verletzt, wenn sich Ausländerbeauftragte um sie kümmern. Aber wie sollte Elena Marburg den Marzahnern vermitteln, dass sie ausgerechnet für die größte Zuwanderergruppe nicht verantwortlich sein soll? In Marzahn leben etwa 13.000 Russlanddeutsche, dreimal mehr als Ausländer im Bezirk. Marburg hat den Konflikt gelöst, indem sie ihre Amtsbezeichnung änderte: Seit vier Jahren firmiert sie als "Migrationsbeauftragte".
Der Münsteraner Politologe Dietrich Tränhardt gehört zu jenen Wissenschaftlern, auf die sich Jochen Welt beruft, wenn er sagt: Die Integrationsprobleme der Aussiedler seien in den neunziger Jahren trotz des Rückgangs neu einreisender Aussiedler sogar größer geworden. In der Öffentlichkeit werden sie nicht mehr als leistungsfähige Handwerker wahrgenommen, wie noch bis in die achtziger Jahre hinein, sondern als Versorgungsfälle.
Eine Tendenz, die Natalia Tibelius, Schulsozialarbeiterin an der 1. Gesamtschule Berlin-Marzahn, bestätigen kann. Jeder fünfte der 705 Schüler ist ein Spätaussiedler. Die Sozialarbeiterin, die selbst aus Russland kam, führt eine Statistik über die Erwerbstätigkeit der Eltern: Danach daure es im Durchschnitt vier Jahre, bis sie überhaupt einen Job bekämen. Dabei sind die Marzahner Aussiedler hoch qualifiziert. Fast jeder hat einen Berufsabschluss, viele haben studiert. Doch viele Abschlüsse sind nicht anerkannt. Wer wie Tibelius selbst ein Diplom als Lehrerin hat, kann sich hier nicht darauf berufen. Auch Sprachdefizite und mentale Unterschiede machen einen Berufsstart trotz guter Qualifikation oft schwer. Der Arbeitsmarkt der hoch qualifizierten Mütter der Marzahner Gesamtschüler beschränke sich fast ausschließlich auf Stellen als Putzfrauen oder Zimmermädchen.
Wissenschaftlichen Studien zufolge, auf die sich der neue Aussiedlerbeauftragte beruft, haben insbesondere jugendliche Aussiedler Integrationsprobleme, die noch Jahre nach der Ankunft in Deutschland anhalten. Schulverweigerung und Drogengebrauch seien oft die Folge misslungener Integration.
An der Gesamtschule in Marzahn kennt man solche Probleme nicht. Hier hat man sich mit besonderen Angeboten auf diese Klientel eingestellt, auch ein wenig aus Sorge um den Arbeitsplatz der Lehrer. Denn Geburtenknick und Wegzug schlagen in dem Plattenbaugebiet bereits im Oberschulbereich zu Buche. Zwölf Grundschulen und drei Oberschulen im Bezirk mussten bereits schließen. Und während viele Alt-Marzahner wegziehen, hat sich der Bezirk zu einem der größten Ansiedlungsgebiete für Spätaussiedler entwickelt.
In die Marzahner Gesamtschule kommen viele, die schon an zwei oder drei anderen Schulen aufgegeben haben. Viele machen das Abitur. Man kann in der Schule Russisch als erste Fremdsprache lernen. Die Methodik wurde dahingehend verändert, dass der Unterricht über die Übersetzungen vor allem der Verbesserung der Deutschkenntnisse dient. Für den Englischunterricht können Schüler in Intensivkursen den notwendigen Stoff nachholen. "Wer in der 9. Klasse nach Deutschland kommt und kein Wort Englisch spricht, dem ist der Weg zum Gymnasium versperrt," beschreibt Schulleiter Rainer Böse die Erfahrungen seiner Schüler. Aussiedler seien im gesamten Leistungsspektrum der Schule vertreten, häufiger im oberen: Insbesondere in den naturwissenschaftlichen Fächern brächten sie ausgezeichnete Vorkenntnisse mit. Und Pausengruppen, die vor wenigen Jahren noch streng nach Aussiedlern und in Marzahn geborenen Schülern getrennt waren, würden sich allmählich vermischen, hat der Schulleiter beobachtet. Einen Grund für die Akzeptanz der Aussiedler an seiner Schule sieht er in der Sozialarbeit und der Sozialarbeiterin Tibelius, die sich der Schüler individuell annimmt und dafür gesorgt hat, dass Aussiedlereltern Arbeitsgemeinschaften in der Schule anbieten. Die Koch- und Tanzkurse erfreuen sich bei allen großer Beliebtheit.
Stellen wie die von Natalia Tibelius wird es in Zukunft weniger geben. Obwohl die neue Bundesregierung die Gelder für Integrationsprogramme hochgefahren hat, setzt sie nun den Schwerpunkt auf wohnortnahe Jugendprojekte. Im Gegenzug wurde die institutionelle Förderung der Vertriebenenverbände heruntergefahren.
Die Kohl-Regierung hat die Vertriebenenverbände immer als Türöffner für Aussiedler in ein neues soziales Umfeld gesehen und gefördert. Doch die meisten der Neuankömmlinge der neunziger Jahre bekommen zu den Verbänden keinen Bezug: Sie waren in den GUS-Staaten integriert und leben zumeist mit russischen und kasachischen Ehepartnern - eine Realität, vor der die deutsche Politik bis heute übrigens immer noch die Augen verschließt: Die nichtdeutschen Familienangehörigen haben keinen Anspruch auf Integrationshilfe und bekommen beispielsweise keinen Sprachkurs finanziert, obwohl auch sie auf Dauer in Deutschland leben werden.
Und es gibt noch einige alte Zöpfe, von denen sich das Aussiedler-Amt trotz einer Neuausrichtung seiner Politik nicht trennen will: Beispielsweise werden die Aussiedler aus Polen bis heute statistisch nach Herkunftsgebieten erfasst, die bis 1937 Staatsgebiete waren: Ostpreußen und Danzig etwa. "Moldawien" heißt im Jahresbericht von 1999 noch "Moldau".
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