Vor einem Jahr trat das Gesetz über die "doppelte Staatsbürgerschaft" in Kraft. Seitdem können in Deutschland geborene Kinder nichtdeutscher Eltern den deutschen Pass bekommen - zusätzlich zum Pass ihrer Eltern, wenn diese ein unbefristetes Bleiberecht genießen. Allerdings müssen sich die "Schnupperstaatsbürger" bis zum 23. Lebensjahr für eine Staatsbürgerschaft entscheiden. Bis Ende 2000 galt das nicht nur für Neugeborene, sondern auch für Kinder bis zehn Jahre.
Thoung sitzt an ihrem kleinen Schreibtisch und singt "Stille Nacht, heilige Nacht". Der Neunjährigen macht es nichts aus, dass schon Januar ist: Es ist ihr Lieblingslied. "Wenn mir zu Hause langweilig ist, singe ich manchmal einfach los, ich weiß auch nicht, warum." Thuong Nguyen Hoai hat eine schöne, dunkle Stimme und singt im Schulchor. Die Drittklässlerin spricht Deutsch und Vietnamesisch akzentfrei.
Im Nebenzimmer liegt Thuongs Vater krank im Bett. Die Ärzte haben den Tumor im Kehlkopf zeitig gefunden; der Vietnamese, der Mitte der achtziger Jahre als Vertragsarbeiter in die DDR kam und im Textilbetrieb "VEB Fortschritt" seine Frau kennen lernte, darf hoffen, in einigen Monaten wieder bei der Reinigungsfirma zu arbeiten.
Thuong, seine einzige Tochter, soll es einmal besser haben. Und die Hoffnungen dafür schätzt der Vater gar nicht schlecht ein. Die Familie bewohnt eine Dreizimmerwohnung in dem östlichen Berliner Stadtteil Friedrichshain, am Boxhagener Platz, den die Berliner Landesregierung als sozial problematisch einstuft. Dass sie sozial irgendwo am Rand leben, nehmen die Nguyens geduldig hin.
Unter den 25 SchülerInnen ihrer Klasse ist Thuong die beste. "In Deutsch, Mathe und Musik hatte ich in der dritten Klasse bisher nur Einsen", sagt das Mädchen stolz. Später will Thuong aufs Gymnasium und studieren. "Wir Ausländer hier sind arm. Da möchte ich einen guten Beruf finden, um viel Geld zu verdienen. Mein Traumberuf ist Ärztin." Thuongs Vater hat den Sinn der deutsch gesprochenen Worte verstanden und lächelt stolz.
Nur gut 100 ausländische Eltern haben im vergangenen Jahr in Berlin für ihre Kinder, die wie Thuong in Deutschland geboren wurden und noch keine zehn Jahre alt sind, zusätzlich zum Pass des Herkunftslandes einen deutschen Pass beantragt. Der "Schnupperpass" sollte Kindern die Integration erleichtern. Weil Einbürgerungsverfahren länger als zwölf Monate dauern, liegen noch keine Statistiken vor, wie viele Berechtigte einen Antrag gestellt haben. Die Kinderkommission des Bundestages schätzt, dass es zehn Prozent sind.
"Wir haben erst im Juni davon gehört", sagt Thuongs Vater. Damals bereitete sich die Familie auf die Urlaubsreise nach Vietnam vor. "Wir wollten im September einen deutschen Pass für Thuong beantragen. Aber da kam die Geschichte mit meinem Kehlkopf." Inzwischen haben die Nguyens erfahren, dass ihre Tochter gar nicht berechtigt ist, zusätzlich die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen: Die Eltern hätten bereits zu Thuongs Geburt 1991 ein unbefristetes Bleiberecht haben müssen. Das erhielten sie, wie fast alle ehemaligen Vertragsarbeiter, aber erst 1997. Auch ein neuer Gesetzentwurf des Bundesinnenministeriums sieht nicht vor, den Kreis der einbürgerungswürdigen Kinder um diese Fälle zu erweitern. Auf jeden Fall wäre Thuong dann zu alt.
Dabei hätte sie gern einen deutschen Pass. "Als ich in Vietnam rumgefahren bin, musste ich immer meinen Pass vorzeigen. In Deutschland würde ich lieber den deutschen Pass haben, um das Deutsche mehr zu zeigen." Den vietnamesischen brauche sie natürlich trotzdem, sonst wären die Großeltern traurig. Neben ihrem Banknachbarn in der Schule, der Thuong nicht mag, weil sie Ausländerin ist, und sie darum "Missgeburt" nennt, würde sie sich wohler fühlen. Die Lehrerin hat sie neben den lernschwachen Jungen gesetzt, weil sie ihm helfen soll. Und auch wenn den Rechtsradikalen, denen Thuong auf dem Heimweg von der Schule ausweichen muss, ein deutscher Pass kaum imponieren dürfte, sie würde sich sicherer fühlen. "Ich spreche ja so gut deutsch, und es gibt auch Deutsche mit schwarzen Haaren."
Für Thuongs Eltern, die seit 15 Jahren hier leben, kommt eine Einbürgerung der ganzen Familie nicht infrage. Sie müssten die vietnamesische Staatsangehörigkeit aufgeben. "Dann könnte ich als Rentner nicht in Vietnam leben", sagt der Vater. Sein Leben in Deutschland ist ihm nicht Zweck, sondern Mittel: um einmal als gemachter Mann, als Reicher, nach Vietnam zurückzukehren, er und seine Frau wollen sich dort zur Ruhe setzen. Die Lebensentwürfe von Thuongs Eltern erinnern an jene türkischer Einwanderer der ersten Generation, wie sie die Migrationsforscherin Barbara Wolbert in "Der getötete Paß" beschrieb. Vieles spricht dafür, dass sie - wie viele dieser Türken - einmal feststellen werden, dass ihnen die Kinder und Enkel in Deutschland näher stehen als Verwandte in der alten Heimat. Dann werden die Eltern vielleicht machen, was sie nie wollten: als Rentner in Deutschland leben, immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, eines Tages doch noch zurückzukehren.
"Die ersten türkischen Einwanderer haben ihren Kindern gesagt, dass sie ordentlich lernen sollen, damit sie einmal etwas werden und nicht wie sie selbst hinter einem Fließband arbeiten", sagt der grüne Berliner Abgeordnete türkischer Herkunft Özcan Mutlu. Erst als viele trotz erfolgreichem Schulabschluss keine Chance bekamen, hätten sich bereits integrierte Jugendliche wieder stärker auf ihre Herkunftskultur zurückbesonnen, diese oft verklärt und die deutsche Gesellschaft abgelehnt.
Ob sich diese Geschichte unter Berliner Vietnamesen wiederholen wird, ist gegenwärtig völlig offen. Erst wenn Kinder wie Thuong erwachsen sind, werden die Würfel fallen. Weil Vertragsarbeiter in der DDR bis Anfang 1989 keine Kinder zur Welt bringen durften, geht die zweite Generation noch zur Schule. Diese Kinder sind fast alle von der "Doppelpass-Regelung" ausgeschlossen. Gerade deshalb erscheint es wichtig, den in Deutschland lebenden Vietnamesen bessere Integrationsangebote zu machen. Eine Elterngeneration, die mit einem Bein in Deutschland steht und sich mit dem anderen im Vietnam der 70er Jahre verheddert hat, vermittelt den Kindern eher antiquierte Werte. "Ich bin zwar hier geboren", sagt Thuong, "aber meine Mutter sagt, Vietnam ist trotzdem meine Heimat. Sie wurde dort geboren, und ihr Blut fließt durch meine Adern."
Ein deutscher Pass allein kann ihr nicht den Mut machen, sich mit solchen Ansichten kritisch auseinander zu setzen. "Vietnamesischen Erwachsenen darf man nicht widersprechen, deutschen schon", ist Thuongs Erfahrung. Dafür könnten Vietnamesen leichter verzeihen. "Nach einem Streit dauert es nicht so lange wie bei Deutschen, bis sie sich wieder vertragen."
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