Als der Oligarch Michail Chodorkowskij am 26. Oktober in eine Vier-Mann-Zelle der legendären Moskauer Haftanstalt Matrosenruhe gesteckt wurde, wollte Sergej Glasjew nicht in das allgemeine Lamento der russischen Wirtschaftswelt einstimmen. Auch sah er die Reformpolitik nicht am Ende, sondern eher vom Kopf auf die Füße gestellt. Der 42-jährige Politiker - er ist genau ein Jahr älter als der Magnat Chodorkowskij - meinte, er könne durchaus verstehen, dass die Privatisierungs-Gewinnler wegen ihres unverschämten Reichtums bei den meisten Russen nur wenig Sympathien genießen.
Der Wirtschaftwissenschaftler Glasjew - Mitglied der Akademie der Wissenschaften Russlands und (noch) Duma-Abgeordneter für die Kommunisten - repräsentiert gewissermaßen den "neuen linken Russen". Kurz vor den bevorstehenden Duma-Wahlen am 7. Dezember ist er zum Shooting-Star eines Bündnisses der Patriotischen Kräfte aufgestiegen - eine Allianz, die ihn bei KP-Chef Gennadij Sjuganow abblitzen und bei dem inzwischen zum Sozialdemokraten mutierten Michail Gorbatschow Gehör finden ließ. Glasjew gilt als einer der kompetentesten Kritiker jenes "Oligarchen-Kapitalismus", der seit den neunziger Jahren in Russland vorherrscht. Seine Stimme wird auch im Kreml nicht überhört, dafür bürgt schon der Putin nahestehende Duma-Präsident und Ex-Kommunist Gennadij Selesnjow, der im Bündnis der Patriotischen Kräfte gleichfalls an den Strippen zieht.
Anfang der achtziger Jahre studierte Glasjew an der Ökonomischen Fakultät der Lomonossow-Universität und promovierte am Ökonomisch-Mathematischen Institut. Sein Weg als Politiker führte ihn - nicht untypisch für seine Generation - zunächst ins Lager der "Radikalreformer" und in die Regierung von Premier Jegor Gaidar, dem er als Vizeminister für Außenwirtschaftsbeziehungen diente. Damit war es vorbei, als es 1993 zu einer forcierten Liberalisierung des russischen Außenhandels kam, die nach Glasjews Auffassung den nationalen Interessen zuwider lief. Er sollte recht behalten, inzwischen weiß jeder seriöse Ökonomen um den unverhältnismäßig hohen sozialen Preis, den die überstürzten Reformen gekostet haben.
Nach dem Bruch mit Gaidar und Jelzin näherte sich Glasjew nach einem Intermezzo bei der Demokratischen Partei ab 1995 den nationalpatriotischen Positionen des charismatischen Ex-Generals Alexander Lebed, kandidierte für dessen Partei Kongress Russischer Gemeinden (KRO) und verfehlte nur knapp ein Duma-Mandat. Der KRO befürwortete in seinen Programmen einen starken Staat, weshalb die KRO-Zeit ein Grund dafür sein mag, dass Sergej Glasjew im linken Spektrum eher als "aufgeklärter Patriot" denn als "liberaler Kommunist" taxiert wird.
Bei den Duma-Wahlen Ende 1999 kandidierte er schließlich für die KP der Russischen Föderation (KPRF), ohne deren Mitglied zu sein. Von den Kommunisten - sie bilden die stärkste Oppositionsfraktion in der Duma - erhoffte er sich genügend Raum, um seiner Wirtschaftslehre politisch Gestalt zu geben. Die Rechnung ging teilweise auf: Dank der KPRF, die 1999 mit über 22 Prozent den höchsten Stimmenanteil errang, gelangte Glasjew im Parlament auf den überaus wichtigen Posten des Vorsitzenden im Ausschuss für Wirtschaftspolitik und Unternehmertum. 2002 unternahm er den gewagten Versuch, den Posten des Gouverneurs von Krasnojarsk (Sibirien), einer der größten Regionen Russlands, zu erobern. Zweierlei Umstände sprachen zu seinen Gunsten: Es ging um die Nachfolge von Alexander Lebed, der Ende April 2002 bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommen war, außerdem war er der einzige Kandidat der Linken in einem Gebiet, das traditionell zu den Hochburgen der KPRF zählte - den Sieg errang jedoch der Oligarch Alexander Chloponin, der Konzernchef von Norilski Nikel.
So sieht Sergej Glasjew nun die Duma-Wahlen im Dezember 2003, wie er mehrfach erklärt hat, als persönliche Herausforderung für sich und den patriotischen Block. Das Glasjewsche Programm fordert eine höhere Besteuerung der Superprofite, insbesondere ein Preismoratorium für die Erdöl- und Erdgas-Monopole, was sich auch gegen Chodorkowskijs Ex-Unternehmen Yukos richtet. Glasjews Alternativen zum "Oligarchen-Kapitalismus" sollen der russischen Linken neue Horizonte eröffnen und sich durch einen Realismus auszeichnen, der Marktwirtschaft, Demokratie und Globalisierung anerkennt.
Was Glasjew fehlt, ist allerdings jenes emotionale Charisma, von dem sich russische Wähler sonst so gern beeindrucken lassen. Er erscheint zu rational, formuliert zu intellektuell und bleibt einer Linken, in der die traditionellen Kommunisten sowjetischen Typs immer noch den Ton angeben, eher fremd. Da es kaum wahrscheinlich ist, dass die KP die nächste Regierung dominiert, bleibt auch das Schicksal des linken Reformers Glasjew ungewiss.
Marina Schakina ist politische Kommentatorin der Agentur RIA Nowosti in Moskau.
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