Ich bin gerade eine Woche lang durch Schneematsch gestapft, auf dem an vielen Stellen eine dünne Schicht geschmolzener Autoreifen lag. Mitten auf Kiews westlich aussehender Prachtstraße. Überall Militärzelte, dazwischen Omas mit Strickmützen und Pelzmänteln, die die Straße fegen. Sehr viele maskierte Menschen mit Helmen und in Camouflage-Klamotten, die teilweise Kinder an der Hand führen.
Als ich Anfang Februar schon einmal auf den Maidan kam, ist mir die Unterschiedlichkeit der ukrainischen Proteste richtig bewusst geworden. Ich wurde da in das berühmte Haus Ukraine eingeladen, um über demokratische Systeme zu sprechen. Das Haus Ukraine ist so ein riesiger Bau direkt am Maidan, in dem zu Sowjet-Zeiten das Lenin-Museum war und Pioniere feierlich vereidigt wurden. Später dann, während der Orangenen Revolution, brachte Wiktor Juschtschenko hier seinen Stab unter. Vor vier Wochen standen Barrikaden aus Sandsäcken davor, und Wachen, die am Eingang Ausweise kontrollierten.
Drinnen ging es sehr lebendig zu. Viele Gruppen suchten nach Möglichkeiten, die Menschen auf dem Maidan zu vernetzen und gemeinsame Forderungen zu formulieren. Nach außen war in den vergangenen Monaten wenig passiert, die Demonstranten saßen friedlich in der Kälte. Drinnen im Haus Ukraine aber hatten sie eine kleine Stadt mit einer eigenen Organisationsstruktur errichtet. Nach dem Vorbild der Kosaken wurden Hundertschaften gebildet: eine Selbstverteidigungs-Hundertschaft, eine medizinische Hundertschaft. In dem mit Menschen voll besetzten Prachtsaal saß ich zwischen einer Essensausgabe und einer improvisierten Chirurgie und trank mit einem jungen Mann von der Künstler-Hundertschaft Tee aus Pappbechern. Diese Hundertschaft versorgte die Revolution mit Symbolen, bemalte eroberte Schilde des Berkut mit Gemälden und sammelte Gedichte. Der Berkut ist eine Spezialeinheit der ukrainischen Miliz.
„Die Ukrainer hatten nie einen Zaren“, erklärte mir der Mann selbstbewusst. „Wir hatten Hetmänner. Wir folgen nicht einem Alleinherrscher, wir haben unseren eigenen Kopf. Das waren die Jahre der russischen Besetzung, in denen sich bei uns der Wunsch nach einem Anführer gebildet hat. Viele im Osten glauben immer noch daran, dass uns jemand mit starker Hand aus dem Elend führt.“ Mit dem Osten meinte er die Gebiete in der östlichen und südlichenUkraine, in denen viele Russen wohnen. In diesen Gebieten wird immer noch Russisch gesprochen und das russische Fernsehen geschaut. Diese Gebiete galten immer eher als gegen den Euro-Maidan eingestellt, während die vom Unabhängigkeitsdrang geprägte Westukraine eher dafür war. Diese Situation hat sich allerdings in den letzten Wochen graduell verändert.
Zuerst ging es um Europa …
Während es ganz am Anfang tatsächlich noch irgendwie um Europa ging, gesellten sich immer mehr Menschen dazu, die auf die erste Zerschlagung der studentischen Proteste reagierten. Ihre Kinder waren auf die Straße gegangen für Europa. Die Eltern gingen auf die Straße, weil man ihre Kinder verprügelt hatte. Nach und nach wurde ein Protest gegen das korrupte Regime und die Selbstermächtigung des Präsidenten da-raus. In dieser Zeit entstanden auch viele Solidaritätsbewegungen im Ostteil des Landes. Denn während man zu Europa geteilter Ansicht war, konnten sich viele auf die Untragbarkeit des Präsidenten Wiktor Janukowytsch einigen.
Auf dem Kiewer Platz waren Menschen aus dem gesamten Land versammelt. Aktivisten der Liquid Democracy wollten diesen Umstand nutzen und Ideen von Anbindung zwischen Bürgern und Politik in andere Städte tragen. Wir arbeiteten unter Zeitdruck, wir wussten, dass der Platz irgendwann geräumt werden würde. Wir ahnten nur nicht, wann.
Anderthalb Tage, nachdem ich wieder in Deutschland war, ist die Lage dann völlig unvorhergesehen eskaliert. Während Barrikaden erweitert wurden, Polizei bewaffnet mit Blendgranaten, Wasserwerfern und Kalaschnikows vorrückte, konnte ich das Geschehen nur aus der Ferne beobachten. Ein solch unheimliches Gefühl lässt sich nur durch Aktion ertragen. Ich schaute parallel auf drei Livestreams, hörte das oppositionelle Radio und telefonierte laufend mit Leuten vor Ort. Die Informationen gab ich auf Deutsch über Twitter weiter. Am 22. Februar bin ich schließlich ein weiteres Mal nach Kiew zurückgekehrt. Ich wollte, die Lage vor Ort einschätzen können. Ein Taxifahrer begrüßte mich mit den Worten: „Herzlichen Glückwunsch!“ „Wozu?“, fragte ich. Und er antwortete fröhlich: „Na, zur Revolution!“ Er hatte einen Knüppel im Kofferraum liegen. Für alle Fälle.
Ich twitterte von den Menschenmengen, den Blumen, den Trauerkerzen, den sauberen Straßen. Als Antwort bekam ich Vorwürfe, warum ich einen „Nazi-Putsch“ unterstütze. Nationalismus ist eines der kompliziertesten Themen des Maidan. Es ist bekannt, dass an den Protesten auch rechte Gruppen beteiligt sind. Dazu gehören die Partei Swoboda sowie das Bündnis Rechter Sektor, die untereinander jeweils verfeindet sind. Beide machen zahlenmäßig keinen großen Teil aus, sind aber sichtbar und gut organisiert. Dazu kommt, dass sich viele Ukrainer als Nationalisten bezeichnen.
Ich habe dazu Freunde vor Ort befragt. Wir saßen im Coffeehouse in der Grushevskogo-Straße, in der die ersten blutigen Kämpfe stattgefunden hatten. Direkt davor lag ein großer Trauerflor für die Gefallenen vor den Barrikaden. Die Scheiben des Cafés sind intakt, es hatte im Winter an zwei Tagen geschlossen. Der Kellner, der uns Tiramisu servierte, war mal von einem Gummigeschoss getroffen worden. Sonst sei nichts passiert, sagte er ruhig.
„Warum bezeichnest Du Dich als Nationalistin?“, wollte ich von einer Freundin wissen, die ich seit einer Weile kannte und die sich für Basisdemokratie engagierte. Sie erklärte: „Die Ukraine ist erst seit 20 Jahren unabhängig, und auch das noch nicht ganz. Ich möchte in einem unabhängigen Land leben, wo ich die Regierung beeinflussen kann, und nicht das Ausland. Ich möchte, dass es allen in diesem Land gut geht und dass viele hierher kommen wollen, anstatt von hier zu fliehen. Niemand will Ukrainer über andere heben, denn so was wie ethnisch reine Ukrainer gibt es eh nicht. Jede Familie hat irgendwo jüdische oder tatarische oder russische Verwandte. Das ist hier einfach kein Thema.“ Der Nationalismus-Begriff erscheint hier anders konnotiert als in Deutschland. Aber das macht die Situation nicht einfacher.
Die rechten Gruppen stellen insofern ein echtes Bedrohungspotential dar, als sie gerade während der Eskalation zu Helden und Beschützern stilisiert werden konnten. Durch ihre bessere Organisation und durch militantes Vorgehen haben sie die friedlichen Demonstranten tatsächlich schützen können und sich beliebt gemacht. Dass ihre Ideen jetzt in das Vakuum eindringen, das in der Ukraine entstanden ist, ist eine große Gefahr.
Auf der anderen Seite haben gerade russische Staatsmedien die Präsenz des Rechten Sektors genutzt, um den Protest zu einem Nazi-Staatsstreich zu stilisieren und ihm damit seine Legitimation zu nehmen. Sie zeigen die maskierten Menschen in Camouflage, erklären aber nicht, dass dieser Aufzug ein Protestakt gegen die Gesetze des 16. Januar gewesen ist, die genau das verbieten wollten. Sie zeigen die Radikalen, aber nicht die Studenten und Studentinnen, Senioren, Muslime, jungen Eltern und Lehrer, die auch auf dem Platz stehen und gestanden haben. Die Gefahr des Rechten Sektors einerseits zu betonen und andererseits nicht unfreiwilliger Helfer von Propagandakampagnen gegen den Euromaidan zu werden, ist eine der größten Herausforderungen in der Berichterstattung über die Ukraine.
Im Moment schätze ich die Revolution, die vom Maidan ausging, im Gegenteil als eine urdemokratische Bewegung ein. Hier wurde eine Regierung gestürzt, die zwar demokratisch gewählt wurde, dann aber ihre eigenen Gesetze brach, die Verfassung änderte, sich selbst ermächtigte und die Gewaltenteilung aufhob. Janukowytsch bereicherte sich gesetzeswidrig, steckte politische Gegner ins Gefängnis. Die erste Handlung nach Gelingen des Protestes war die Wiedereinsetzung der demokratischsten Verfassung, die die Ukraine je hatte. Und der Beschluss, im Mai Wahlen durchzuführen.
… dann um das ganze Land
Doch die Ereignisse sind noch weit davon entfernt, sich beruhigt zu haben. Im Osten wird noch gekämpft. Viele sind dort verstört von den Ereignissen. Sie hören im Fernsehen, dass ihr Land von einem terroristischen, faschistischen Mob eingenommen wurde. Sie wissen nicht, was sie tun sollen. Im Westen will gleichzeitig niemand eine Spaltung des Landes. Es braucht noch viel Dialog, um das zu klären. Außerdem steht die Ukraine durch eine jahrelange korrupte Finanzpolitik knapp vor dem Staatsbankrott und muss gerettet werden. Im Parlament geht es darum, eine Verfassung und Gesetze zu erarbeiten, die sich gegen zukünftige Diktaturen wehren können. Gleichzeitig dürfen die Abgeordneten nicht den Kontakt zu den Menschen verlieren, die sich sonst weiter radikalisieren und möglicherweise dem Rechten Sektor folgen. Zu guter Letzt sind die Straßen gerade einfach gefüllt mit jungen Leuten, die ihre eigenen Bürgerwehren aufgebaut hatten und sich mächtig fühlen. Sie schlagen immer wieder über die Stränge, führen Personenkontrollen durch und geben eigene Regeln vor. Diese Lage zu deeskalieren wird noch eine Weile dauern. „Wann wird die Ukraine eine vernünftige Demokratie haben?“, fragte ich einen Rabbi. „Noch 17 Jahre“, antwortete er mir erstaunlich präzise und lächelte: „Moses hat uns auch 40 Jahre durch die Wüste geführt, bis der letzte Sklave gestorben war.“
Marina Weisband wurde 1987 in Kiew geboren und kam 1992 nach Deutschland. Von Mai 2011 bis April 2012 war sie Politische Geschäftsführerin der Piraten. Sie musste ihr Amt aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Im vergangenen Jahr erschien ihr Buch Wir nennen es Politik. Ideen für eine zeitgemäße Demokratie. Weisband ist Diplompsychologin und lebt in Münster
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