Ein Mann rennt auf mich zu. In blutüberströmten Händen hält er ein Messer. Es tut ihm Leid, dass Frauen diesen Mord mit ansehen mussten. Er begründet seine Tat. Der leblose Körper liegt hinter ihm auf der Straße. Klick. Eine andere Leiche. Wieder ein Mann mit einem Messer. Er schneidet. Dann hält er ein blutiges Herz in der Hand, zeigt es der Kamera. Untertitel übersetzen mir seinen Ruf: „Wir werden euch töten, und wir werden eure Herzen essen!” Er beißt hinein. Klick. Zwei Neonazis stehen in einem Wald. Sie heben die Hände zum Hitlergruß. Dann schneiden sie den gefesselten jungen Männern die Kehlen durch. Klick. Youtube aus. Browser aus. Aus.
Wo Menschen sind, sind heute auch Handys und damit Kameras. Jedes Ereignis wird gefilmt. Hochzeiten, Autounfälle, Auftritte – und eben auch Krieg. Seine Realität ist nur eine Mausbewegung von unserem Alltag entfernt. Mord und Terror erreichen uns erstmals ungefiltert. Verwackelte Videos tauchen im Internet auf und werden über Zeitungen und Fernsehen verbreitet. Der Anblick des Schreckens ist jederzeit abrufbar. Wir werden immer mehr mit diesen Bildern konfrontiert. Das stellt uns vor die Frage, was das mit uns macht. Mit uns als Menschen, mit unserer Gesellschaft.
Wir Augentiere
Die kleine Gefahr ist, dass diese Videos ohne Sinn und Verstand als Schocker verbreitet werden und Menschen belasten, die solche Bilder nicht ertragen. Die große Gefahr ist, dass die Verbreitung der Videos den Verbrechern, Kriegstreibern und Terroristen in die Hände spielt. Terror bedeutet die Verbreitung von Angst. Und nichts ist dabei ein so gutes Werkzeug wie Bilder. Gleichzeitig können diese Bilder auch eine Chance sein. Wir Menschen sind Augentiere und begreifen erst wirklich emotional, wenn wir Dinge mit den eigenen Augen sehen. Wir erfahren nicht nur von den Ereignissen, wir erleben sie mit. Wir können sie so gut nachvollziehen, dass über dem Video von zwei russischen Neonazis eine Warnung geschrieben steht: „Vorsicht! Dieses Video verursachte bei Personen Übelkeit, Appetitverlust, Albträume, Suizidgedanken, Zittern, Herzrasen, Depression, Ohnmacht …“ (die Liste ging noch weiter). Früher hätten wir in der Zeitung nur die Überschrift gelesen: „Zwei enthauptete Leichen im Wald gefunden. Tatverdächtige in der rechten Szene.“ Nur das emotionale Begreifen ist wirkliches Begreifen. Denn erst die Emotion ist es, die uns zum Handeln motiviert. Sei es, in den Krieg zu ziehen oder für Frieden zu protestieren. Sei es, sich anderen Menschen verbunden zu fühlen oder sie mehr zu hassen.
Im Lauf der Geschichte haben Menschen immer wieder versucht, Bilder für diese emotionale Wirkung zu instrumentalisieren. In jedem Krieg wurden die düstersten Geschichten verbreitet, was die feindliche Armee mit den gefangenen Soldaten mache. Die Geschichten wurden erzählt, in Zeitungen geschrieben und auf Plakate gedruckt.
Die neue Qualität an Handyvideos ist einerseits, dass sie uns viel direkter an einer Situation teilhaben lassen und uns damit emotional stärker ergreifen, als es Geschichten oder auch Fotos können. Andererseits gibt es immer mehr von ihnen, und sie tauchen dezentral und unkontrolliert auf. Es gibt keine Instanz wie den Presserat, an die man sich wenden könnte. Diese Bilder sind öffentlich und finden ihren Weg zum Betrachter, auch wenn sie hier und da gelöscht werden. Sie bleiben und zeigen uns ihre Wahrheit. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass kein Handyvideo uns wirklich über die Welt informiert. Es ist immer nur ein winziger Ausschnitt, es sind oft die Extreme einer Situation, nicht ihr realistisches Abbild.
Ich sehe, wie ein Mann, der als syrischer Widerstandskämpfer bezeichnet wird, ein schweres Kriegsverbrechen begeht, ja ein Menschlichkeitsverbrechen, indem er das Herz eines syrischen Soldaten isst. Für mich sind nun die Rebellen die Bösen, in der syrischen Armee folglich die Guten. Aber wer ist dieser Mann wirklich? Ist er Teil der Rebellion? Und wenn ja, welcher Fraktion? Passieren solche Grausamkeiten dort jeden Tag, oder ist das ein einmaliges Ereignis? Alle diese Fragen beantwortet das Video nicht. Es zeigt mir nur ein zufälliges Fenster in die Wirklichkeit.
Sinnvoller Frieden stiften
Dennoch haben diese wild umherfliegenden Realitätsschnipsel auch ihren Nutzen. Nicht, wenn sie einzeln für sich stehen. Sondern nur, wenn man sie sortiert, in Zusammenhang setzt und aufbereitet. Neben dem klassischen Journalismus haben sich durch das Netz auch neue journalistische Formen gebildet. Eliot Higgins ist eigentlich ein arbeitsloser Engländer, der mit Beginn des syrischen Bürgerkriegs begann, so ziemlich alle Youtube-Videos anzuschauen, die von dort kamen. Inzwischen ist er dadurch zum Experten für die Waffen geworden, die dort eingesetzt werden. Er kann zuordnen, von wem sie stammen und wer sie eingesetzt hat. Sein Blog, das Brown Moses Blog, zählt zu einer der wichtigsten Informationsquellen über den Bürgerkrieg, die sowohl von Medien als auch von Nichtregierungsorganisationen genutzt wird.
Es ist also nicht nur unmöglich, sondern auch nicht sinnvoll, den Fluss der Videoinformationen aufhalten oder zensieren zu wollen. Wer will, kann im Internet alles finden. Wir sollten aber nicht vergessen, dass wir Videoportalen nicht sklavisch ausgeliefert sind. Wir können selbst entscheiden, was wir sehen wollen – und was eben nicht.
Der Schrecken ist nicht im Internet. Der Schrecken ist in der Welt. Ihn zu sehen mag unser Bild von der Welt zum Negativen verzerren. Es kann uns aber auch motivieren, die Welt zu verändern. Bilder gehäuteter Tiere haben dazu geführt, dass wir keinen Pelz tragen. Bilder von Krieg ermöglichen uns, Krieg besser zu verstehen und deshalb auch sinnvoller Frieden zu stiften. Vor allem aber kann keine Regierung der Welt durch eine heroisierende Darstellung den Krieg propagieren. Dieser aufklärerische Effekt ist es wert, auch die grässlichen Sachen im Internet ungefiltert zu behalten.
Videos machen uns weit entfernt vom Ort des Geschehens zu Augenzeugen. Unter diesem Aspekt müssen wir uns sogar eher die Frage stellen: Können wir es ethisch vertreten wegzuschauen? Dürfen wir also das vorhandene Angebot bewusst nicht in Anspruch nehmen? Ich denke nicht, dass wir uns als rechtschaffene Bürger viele Stunden am Tag ein Kriegsvideo nach dem anderen ansehen müssen. Wir müssen uns nicht alle die Psyche ruinieren, nur um ein ruhiges Gewissen zu haben.
Wir leben in einer arbeitsteiligen Gesellschaft. Manche von uns – zum Beispiel Auslandsjournalisten – betrachten gezielt das Schlechte in der Welt und informieren die anderen. Andere nutzen die Möglichkeit der Vernetzung für Projekte wie israelovesiran.com: Israelis und Iraner können dort miteinander kommunizieren und über Frieden sprechen.
Nach wie vor gibt es auf der Welt beides. Das Gute und das Schlechte, das Motivierende und das Verstörende. Nichts daran ist neu. Neu ist, dass wir den Raum überwunden und die Chance haben, überall dabei zu sein. Diese Chance des direkten Einblicks in die Wirklichkeit müssen wir uns bewahren – ohne daraus den moralischen Anspruch abzuleiten, dass jeder diese Bilder auch ertragen muss.
Marina Weisband, geboren 1987 in Kiew, ist seit vier Jahren Mitglied der Piraten. Von Mai 2011 bis April 2012 war sie politische Geschäftsführerin und saß im Bundesvorstand der Partei. Im März erschien ihr erstes Buch Wir nennen es Politik im Klett-Cotta-Verlag
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