Rechtspolitik ist langweilig. Sagt man. Sie handelt zumeist von schlecht lesbaren Texten mit wenig unterhaltsamen Inhalten, nämlich Gesetzen. Kein Wunder also, dass man Zeitungsmeldungen, die sich mit Rechtspolitik befassen, gerne überliest. Dennoch ist es falsch. Denn so bleiben die massiven Veränderungen in der Rechtspolitik, die auch dort der neoliberale Paradigmenwechsel mit sich bringt, weitgehend unbemerkt. Das hat die bittere Folge, dass zum einen das Verfassungsgefüge mit der zumindest teilweise bestehenden Gewaltenteilung demontiert wird und zum anderen der rechtsstaatliche Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor staatlichem Handeln erheblichen Schaden nimmt. Nur starke Worte? Leider nicht.
Sozialgerichte vor Aktenberg
In der Schule wird das urdemokratische Modell der Gewaltenteilung gelehrt. Danach kontrollieren sich gegenseitig die Gesetzgebung, die Exekutive oder ausführende Gewalt (Regierung und Verwaltung) und die Rechtsprechung. Doch dieses Modell ist in Deutschland nicht Realität, denn hier bestimmt im Wesentlichen die Exekutive, wer Mitglied der Justiz wird, vor allem: wer als Richter Karriere machen darf. Dass in manchen Bundesländern mehr oder minder funktionierende Richterwahlausschüsse bei diesen Fragen auch die Rechtsprechung und das Parlament beteiligen, ist leider oftmals nur Theorie. Darüber hinaus bekommt die Justiz ihre immer spärlicheren finanziellen Mittel von den Finanzministern zugeteilt. Völlig unabhängig davon, ob es - wie derzeit - täglich bald waschkörbeweise neue Fallakten bei den Sozialgerichten in ALG-II- oder Sozialhilfesachen gibt oder ob die zunehmende Verarmung zu erhöhten Ausgaben bei der Prozesskostenhilfe führt, werden Mittel gekürzt und Personal abgebaut.
Wenn Richterinnen und Richter immer mehr Streitigkeiten schlichten sollen, ziehen sich entweder die Verfahren in die Länge oder die Qualität der juristischen Arbeit leidet. Als einzige Reaktion auf dieses Problem hat der Gesetzgeber sich einen Schildbürgerstreich ausgedacht: Künftig soll es eine Untätigkeitsbeschwerde geben, mit der Parteien eines Rechtsstreits sich über zu lange Verfahrensdauern beschweren können. Wann ein Verfahren als zu lang gilt, ist in dem betreffenden Gesetzentwurf zwar nicht geregelt. Verfahrensakten könnten allerdings dem nächst höheren Gericht vorgelegt werden, das dann aufwändig prüfen soll, ob eine Verzögerung vorliege und wie weiter zu verfahren sei. Am Ende werden die Gerichte nicht unerheblich mit der Bearbeitung solcher Beschwerden beschäftigt sein. In der Bundesregierung und bei den Ländern will man nicht wahrhaben, dass lange Verfahren immer mit Personalmangel zu tun haben und dass sie sich nicht durch eine Beschwerdemöglichkeit einfach verkürzen lassen.
Das Klagen aus der Justiz, sie sei überlastet, mag nicht neu sein. Neu ist, in welchem Maße und auf welche Weise Druck auf die Richterinnen und Richter ausgeübt wird, um immer mehr und immer schneller Verfahren zu "erledigen". Die Staatsanwaltschaft Heidelberg hat bereits ein Ermittlungsverfahren gegen einen Jugendschöffenrichter in Baden-Württemberg eingeleitet, dem man trotz offenkundig hoher Belastung und tadelloser Leistungen vorwarf, nicht noch mehr abgearbeitet zu haben. Aktuell prüft die Staatsanwaltschaft Dortmund, ob ein Schöffenrichter Rechtsbeugung begangen hat, der unter einer Vielzahl dringender Strafverfahren notwendig eine Auswahl und terminliche Reihenfolge festgelegt hat.
Der zunehmende Zeitdruck beschädigt die Arbeit der Richterinnen und Richter, obwohl eine unabhängige Studie eines Wirtschaftsberatungsunternehmens ergab, dass diese Berufsgruppe durchschnittlich 20 Prozent mehr arbeitet, als die im öffentlichen Dienst sonst üblichen 40/41 Wochenstunden und darüber hinaus noch in der Ausbildung von Referendaren oder Berufsverbänden aktiv sind. Die Bürgerinnen und Bürger werden immer länger auf Entscheidungen der Gerichte warten müssen. Der Rechtsstaat verliert so nach und nach das Vertrauen der Menschen. Und er verliert maßgeblich an Legitimation, wenn die Justiz aus Überlastung ihre Kontrollaufgabe im Rahmen der Gewaltenteilung nicht mehr ausüben kann. Schon heute ist sie personell kaum mehr in der Lage, aufwändige Wirtschaftsstrafverfahren ohne so genannte Deals oder auf dem Wege von Einstellungen gegen Bußgelder (Stichwort Ackermann) zu handhaben. Erst recht scheitern die Rechtsbehörden dort, wo die Ermittlungen noch zeit- und personalaufwändiger sind: bei der Korruption, die auch in Deutschland immer mehr zunimmt. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, dass die Exekutive gerade dort kein Interesse habe, die Justiz besser und effektiver auszustatten.
Prozessrisiko für Arme
In diese vermeintlichen Sparzwängen geschuldete, tatsächlich jedoch neoliberal orientierte Politik der Verschlankung staatlicher Leistungen, passt es auch, Sozialleistungen innerhalb der Justiz so weit wie möglich einzuschränken. So drängen bereits manche Landesrechnungshöfe, die Ausgaben für die rechtliche Betreuung so weit wie möglich zu minimieren, also Rechts- und Sozialleistungen für diejenigen einzuschränken, deren Schutz selbstverständliche Aufgabe der Solidargemeinschaft sein sollte. Nach einem Gesetzesvorschlag aus dem Bundesrat soll die Kostenregelung in sozialgerichtlichen Verfahren dahin geändert werden, dass im Unterliegensfall je nach Instanz eine allgemeine Verwaltungsgebühr bis zu 225 Euro erhoben wird. Die derzeit noch geltende Gebührenfreiheit für Versicherte, Leistungsempfänger und Behinderte sei nicht wünschenswert. Vielmehr müsse man diese Gruppe einem finanziellen Prozessrisiko aussetzen, um die Eingangs- und Kostenflut der sozialgerichtlichen Verfahren zu bewältigen. Sieht man dazu das weitere Gesetzgebungsvorhaben der Länderkammer, nämlich die Ausgaben für die Prozesskostenhilfe zu minimieren, wird ein Schuh daraus: Der Zugang zum Rechtsstaat soll steiniger werden, jedenfalls für diejenigen, die ihn möglicherweise am dringendsten brauchen.
Diese Forderungen der Länder gehen selbst der Bundesregierung zu weit. Ginge es nach ihnen, würde man finanziell Schwache zwingen, selbst das zum Existenzminimum Notwendige zur Begleichung von Gerichtsgebühren und Anwaltskosten einzusetzen. Darüber hinaus müssten sie eine Art Strafgebühr für die Inanspruchnahme von Prozesskostendarlehen zahlen. Doch auch für den Fall, dass die mahnenden Worte der Bundesregierung Gehör finden sollten: Die Ausgaben für Prozesskostenhilfe werden dennoch gekürzt. Wer zukünftig darauf Anspruch hat, sollen nicht mehr Richter, sondern weisungsabhängige Beamte entscheiden. Dem Bürger wird so die Möglichkeit einer Kontrolle staatlichen Handelns und die Wahrung seiner Rechte zumindest erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht: Erfahrungsgemäß nehmen die meisten Menschen den Kampf gar nicht erst auf, wenn schon gleich zu Beginn die ersten Hürden zu überwinden sind.
Erleichterung für Unternehmen
Für eine ganz andere Klientel allerdings wird der Rechtsweg sogar leichter: Alle Gläubiger nämlich, die international tätig sind, sollen mit einem vereinfachten Verfahren (Bagatellverfahren) ihre Ansprüche überall innerhalb Europas leichter durchsetzen können. Möglichst schnell, möglichst nur schriftlich und möglichst ohne Überprüfung durch ein Obergericht werden dann etwa die europaweit tätigen Versandhändler, Strom- und Gaslieferanten oder sonstige grenzüberschreitenden Unternehmen ihre Forderungen gegen Verbraucher durchsetzen können - auch wenn diese, wie viele Millionen Bürgerinnen und Bürger auf eine mündliche Verhandlung vor Gericht dringend angewiesen wären, weil sie die Post vom Gericht kaum lesen geschweige denn zu beantworten imstande sind. Bagatellen im Sinne dieser Verfahren sind für den Gesetzgeber übrigens alle Forderungen bis zu 2.000 Euro.
Justizpolitik ist langweilig. Vielleicht. Aber sicherlich hat es bittere Folgen für den Rechtsstaat, für den Sozialstaat, für uns alle also, lässt man deshalb die Rechtspolitiker immer weiter ungehindert die Justiz verschlanken.
Dr. Mario Cebulla ist Richter am Landgericht und Mitglied des Bundesvorstandes der Neuen Richtervereinigung (NRV).
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