Sprung nach Europa

Flucht Bedran Tekin entstammt einer Künstlerfamilie aus Diyarbakir, der heimlichen Hauptstadt Kurdistans. In der Türkei wird die Kunstszene dort gerne übersehen und auch in Europa ist sie unbekannt

Nachmittags treffe ich Bedran Tekin bei der Nichtregierungsorganisation IFIAS im Zentrum von Diyarbakir. Vom siebten Stockwerk aus hat man einen beeindruckenden Blick über die bemerkenswerte Befestigungsmauer sowie die Altstadt mit ihren zahlreichen Moscheen. Der 32 Jahre alte Künstler leitet dort für die Dicle Universität den "Art-Club". Die Mitglieder dieses Zirkels - überwiegend Kunststudentinnen - lernen hier mit Bleistift, realistische Portraits zu zeichnen. Bedrans Vater ist ein angesehener Portraitmaler. Bedran selbst verdient sein Geld als Kunstlehrer an einer Grundschule. Doch auch mit seinen eigenen Arbeiten ist er für hiesige Verhältnisse erfolgreich.

Seine Kritik an den Tageswerken seiner Studentinnen ist unmissverständlich: "Hier stimmt vor allem die Fußstellung nicht. Die Handstellung ist in Ordnung, nicht aber die Handproportion", erklärt Bedran in seiner ruhigen und freundlichen Art. Seine Sensibilität und Sanftmütigkeit passt so gar nicht in das Bild, das man gemeinhin von einem Türken kurdischer Abstammung hat, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Kritik bei aller Freundlichkeit dennoch bestimmt ist: "An diesem Bild ist die Gesichtsachse nicht korrekt. Der gedrehte Kopf bekommt dadurch eine fehlerhafte Perspektive. Seht Euch mal die Beinkontaktfläche zum Stuhl an. Die Oberschenkel sollten doch wohl an der Auflagefläche flach aufliegen." Widerspruch gibt es nicht. Ist es Disziplin oder Respekt? "Realistische Portraits kann man richtig oder falsch zeichnen. Was soll man da diskutieren?", findet Bedran.

Über seine eigene Arbeit diskutiert er gerne und mit großer Hingabe. Am Abend zeigt er mir sein Diyarbakir. Mit einem Tross von Freunden spazieren wir durch einen kleinen Park an einer gewaltigen Kaserne vorbei, die mich nochmals daran erinnert, dass ich als Journalist noch vor wenigen Jahren gar nicht in diese Stadt hätte reisen können. Das Militär hält sich zurück, ist nicht sonderlich präsent, aber in erheblicher Truppenstärke vor Ort. Wir kommen in den Stadtteil Ofis. Breite Straßen, viele Geschäfte und noch mehr Menschen auf ordentlichen Gehwegen. Die modernen Häuser mit sechs bis zehn Etagen und dem architektonischen Charme von DDR-Plattenbauten sind zweifellos optische Sündenfälle; dennoch ist mir klar, weshalb mich diese jungen Leute in die Neustadt führen und versuchen, mir die Altstadt vorzuenthalten. Sie wollen mir zeigen, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen und die ist eben modern und leidlich sauber.

"This is our Art-Street", bemüht sich Tekin um meine Aufmerksamkeit. Und tatsächlich haben hier die Acht-Etagen-Einheitswohnblöcke, die ich eher im mongolischen Ufa erwartet hätte, einen luxuriösen Abstand zueinander. Keine Autos, statt dessen ein recht schmaler Gehweg, der auf beiden Seiten von etwas Rasenfläche flankiert wird. Die Grünflächen werden durch sich wiederholende kreisförmigen Miniplätze unterbrochen. Hier erstrecken sich Teestuben und Restaurants. Junge Leute spielen entspannt ihre Brettspiele, alte Männer palavern und spielen mit ihrer Holzperlenkette. Dazu wird Speiseeis von klassisch schwarz-weiß gekleideten Kellnern serviert. Auf dem Grün stehen Kunstinstallationen lokaler Künstler.

Unsere Gruppe läuft zielstrebig in den Hinterhof einer dieser entsetzlichen Mietkasernen. Dort stehe ich plötzlich inmitten dieser Plattenbau-Szenerie in einem geräumigen Teegarten. Die fiesen Wände sind komplett mit farbenfrohen Graffittis bedeckt. Kleine, liebevoll ausgepolsterte Bänke, etliche Hollywoodschaukeln, eine lange Pergola, kleine Bäume und Lichterketten. Der perfekte Ort. Gekonnt dekoriert, aber nicht orientalisch überladen. Die Hochhäuser ringsum kumulieren die Luft zu einem angenehmen Strom. Hier kennt Jeder jeden. Das Café Picasso ist der Treffpunkt der Kunstschaffenden und Kunstinteressierten aus Diyarbakir. Die Universität hat mit ihren Kunst-Studiengängen sicher einen maßgeblichen Anteil an der Entstehung der lebhaften Kunstszene.

Kraftvoll und unfreiwillig maskulin

Tekin gehört trotz seines bescheidenen Auftretens unbestritten zur lokalen Prominenz. Für seine digitalen Fotobearbeitungen gewann er 2003 in Istanbul den Kodak Manison Award. Für einen aus Diyarbakir zählt das eigentlich doppelt, denn die Menschen aus Südost-Anatolien fühlen sich stets wie Türken zweiter Klasse. Seine modernen Bildbearbeitungen sind allerdings auch weit davon entfernt, einen pathosgetränkten Freiheitskampf zu illustrieren. Er setzt vielmehr auf moderne Motive und kräftige Farben.

Grundlage seiner Arbeit sind exzellente Personenfotos. Freunde dienen als Fotomodelle. Die jungen Diyarbakiris könnten überall in Südeuropa leben. Nach der intensiven Bearbeitung durch Tekin verblüffen die Bilder durch Details, die sich erst in der Nahbetrachtung auflösen und sogar die ganze Bildaussage verändern. "Meine Kunst entsteht aus einer Zulassung des Unterbewusstseins. Es gibt vorher kein Konzept. Ich lasse mich treiben und leiten, bis sich das Ziel herauskristallisiert." Wer Tekins Arbeiten betrachtet, erkennt darin die Wünsche und Sehnsüchte der Menschen aus Diyarbakir. Nicht minder bemerkenswert seine Malerei mit Acrylfarbe auf Leinwand. Kraftvoll in Farbe und Ausdruck, abstrakte Kompositionen die Entschlossenheit dokumentieren, mit Vergangenem abzuschließen, um die Fenster der Zukunft zu öffnen. Die dominierenden Warmtonfarben haben etwas von den beeindruckenden Farbverläufen der anatolischen Inlandssonne.

Mit einer Ausnahme zeigen die Bilder nur Männer, wundere ich mich. Tekin lacht: "Ich kann hier keine Frauen fragen, ob Sie für die Kunst vor meiner Kamera posieren. Wir sind hier nicht in Ankara oder Istanbul." Ich schaue mir die zwei jungen Rechtsanwältinnen an, die sich bei der Nichtregierungsorganisation engagieren und uns an diesem Abend begleiten: Gebildet, hübsch und gekleidet wie für einen lauen Sommerabend in Mailand oder Barcelona. Überhaupt sind Frauen mit Kopftuch eher eine Minderheit im Straßenbild Diyarbakirs. Doch der Grad zwischen gelebter Tradition und zur Schau gestellter westlicher Lebensart mag schmaler ausfallen, als es das westliche Auge wahrhaben will.

Die Teekellner im Café Picasso tanzen zu arabesker Popmusik und schwenken ihre Tabletts dabei schwungvoll bis in eine gefährliche 70 Grad Schräglage. Auch wir haben noch ein Tässchen Tee und plaudern über Familie und kulturelle Bildungsunterschiede. Vielleicht gelingt Bedran Tekin ja in der Tat der Sprung nach Europa und aus der Isolation. Während er versucht, seine Einstellungen zur Kunst zu vermitteln und seine Arbeit zu hinterfragen, gerät mein Übersetzer an die Grenzen seiner Ausdrucksmöglichkeiten. Es ist nicht nur seine Heimat, die Tekin in gewisser Weise isoliert, es ist vor allem die sprachliche Barriere, die einen Sprung nach Europa so schwierig werden lässt. In Diyarbakir einen Gesprächspartner zu finden, der ausreichend Englisch spricht, ist keine einfache Aufgabe. "Wie soll ich meine Arbeiten nur erklären und einordnen", fragt sich Tekin und man spürt deutlich, dass er sich mit seinen mangelnden Sprachkenntnissen nicht abfinden will.

Die Zentrale der Nichtregierungsorganisation, bei der Tekins "Art-Club" als Untermieter untergebracht ist, hat ihren Sitz in Brüssel und dort ist man längst auf Bedrans Talent aufmerksam geworden. Seit dem 20. September zeigt man in der Galerie an der Rue Henri Stacquet eine kleine Werkschau. Die erste Ausstellung außerhalb der Türkei und die erste Gelegenheit für Tekin, die Türkei zu verlassen, um nach Europa zu reisen. Er hat eigentlich auch ein Angebot, seine Bilder in Stockholm zu zeigen. Doch hinter diesem Angebot steht eine kurdische Organisation. "Nein", sagt er und schüttelt den Kopf. Er mache Kunst und keine Politik. Tekin will sich von keiner Seite vereinnahmen lassen.

Aufregende Missverständnisse

Dass für europäische Betrachter seine Herkunft von besonderem Interesse sein dürfte, steht gleichwohl außer Frage. "Du kannst den Menschen in Brüssel ein ganz anderes Bild von Deiner Heimat und den Menschen dort zeigen; eines, das von den Erwartungen und Assoziationen, die wir mit Südost-Anatolien verbinden, völlig abweicht", mache ich Tekin Mut. Das unvorbereitete europäische Auge entwickelt teilweise verwirrende Zusammenhänge, die sich bei genauer Betrachtung immer zerschlagen: Da gibt es vermeintliche Kirchenfenster, die aber nur eine Frauengestalt mit Kopftuch zeigen, Militärparaden, die sich bei genauerem Studium als Sinnbild weiblicher Zerrissenheit entpuppen, digitale Fotocollagen, bei denen man glaubt, das Konterfei Vincent van Goghs vor Augen zu haben, die aber in Wahrheit nur einen jungen Studenten aus Diyarbakir entdecken lassen. Unser europäisches Verständnis führt uns in falsche Denkrichtungen und das macht die Arbeit von Bedran Tekin zu einem spannenden und überraschenden Erlebnis, dessen Reizen sich die Betrachter nur schwer entziehen können. Kunst als Flucht, Bilder als unpolitische Botschaft einer unbeachteten Region. Gelänge Bedran Tekin der Sprung nach Europa, es zählte für die Menschen in Diyarbakir gleich doppelt.


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