19. Februar, Hanau

Nach dem Terror Seit einem Jahr kämpfen die Hinterbliebenen des Anschlags für Aufklärung. Bereits jetzt haben sie damit die Gesellschaft verändert
Ausgabe 07/2021

Ein Jahr ist es jetzt her. In Hanau war dieses Jahr so kurz wie ein Tag und so lang wie ein Leben. Seit einem Jahr kämpfen die Hinterbliebenen und Betroffenen des rassistischen Anschlags vom 19. Februar für ihre Forderungen und erhalten dafür große Unterstützung. Sie kämpfen auch dafür, dass es nicht noch einmal so läuft wie unzählige Male zuvor. Nach Mölln, Solingen, der Kölner Keupstraße, in Kassel, Halle und an unzähligen anderen Orten des rassistischen Mordens.

Bereits jetzt haben sie mit ihrem Kampf diese Gesellschaft verändert. Sie haben sich durch öffentlichen Druck zu Hauptakteuren der Aufarbeitung gemacht und ins Bewusstsein gerufen, was in den letzten Jahrzehnten versäumt wurde: die Perspektive der Betroffenen und Hinterbliebenen ins Zentrum zu rücken; die Namen und Geschichten der Opfer zu erzählen statt die der Täter; die Logik der Tat, die Opfer zu Fremden zu machen, zu unterbrechen.

Und dennoch sind viele zentrale Forderungen der Familien noch längst nicht erfüllt. Es darf jetzt keinen Schlussstrich geben. Der Wunsch der Politik, nun zur „Normalität“ zurückzukehren, ist offensichtlich, und einen Prozess gegen den Täter wird es wegen seines Suizids nicht geben. Die Sorge besteht, dass dieses Mal nicht das Schweigen, sondern das Reden darüber hinwegtäuscht, dass es keine politischen Konsequenzen geben wird.

Der Ermittlungsbericht der Generalbundesanwaltschaft hat keine Aufklärung geschaffen. Im Gegenteil: Eine Reihe neuer Widersprüche ist hinzugekommen. Kleine und große Fehler, die sich in ihrer Summe als Kette des Versagens rekonstruieren lassen, eine Systematik polizeilicher Versäumnisse, die nur durch die Recherche der Angehörigen und Unterstützer*innen offenbar wurde. Beispiele gibt es Dutzende: Der Täter besaß mehrere Waffen. Er war 2002 in psychiatrischer Behandlung, gegen ihn liefen mehrere Ermittlungs- und Strafverfahren. Doch offensichtlich kam nichts davon bei der zuständigen Waffenbehörde an. Seit 2013 besaß Tobias R. eine Waffenbesitzkarte, die später verlängert wurde. Das fiel scheinbar auch nicht auf, als er 2019 wiederholt Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Hanau erstattete. Die Anzeige bestand aus einer Aneinanderreihung von rassistischer Ideologie und wirren Verschwörungsmythen. Sein Gefechtstraining in der Slowakei oder sein tausendfach besuchter Internetauftritt, auf dem sein rassistisches Gedankengut monatelang, sein „Manifest“ tagelang frei verfügbar war, führten ebenfalls zu keiner Aufmerksamkeit.

Bereits im März 2017 kam es zu einer bewaffneten Bedrohung von Bewohnern in Hanau-Kesselstadt, dem Wohnort des Täters und dem zweiten Tatort des 19. Februar. Zeugen beschrieben, dass vor dem Jugendzentrum ein Mann in voller militärischer Tarnkleidung, mit Gesichtsmaskierung und Sturmbrille und mit einem Sturmgewehr ausgerüstet, eine Gruppe migrantischer Jugendlicher bedroht hatte: „Verpisst Euch, ihr Scheiß Kanaken. Hier wird es Tote geben“. Die Polizei kam, nachdem der Täter bereits verschwunden war. Die weiteren Ermittlungen – wenn es denn welche gab – blieben ergebnislos, den Jugendlichen wurde nicht geglaubt und mit Anzeige gedroht. In der Folgezeit fahndete man nicht etwa nach einem bewaffneten Nazi, sondern widmete sich weiter der rassistischen Schikane der im Viertel lebenden Jugendlichen.

Diese Gleichgültigkeit hat in Hessen Tradition. Seit Jahrzehnten organisieren sich hier unbehelligt rechtsterroristische Netzwerke. In Zeiten der AfD kommt nun ein weiterer Tätertyp hinzu. Bei rechtsterroristischen Anschlägen wurden in den vergangenen zwei Jahren Walter Lübcke, Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Vili-Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu ermordet. Viele weitere wurden angegriffen und verletzt.

Der kürzlich verurteilte Mörder von Walter Lübcke, Stephan E. aus Kassel, hatte im Jahr 1992 zum ersten Mal einen dokumentierten Mordanschlag auf einen Imam mit einem Messer begangen. Im Jahr 1993 versuchte er, eine selbst gebaute Rohrbombe in einer Flüchtlingsunterkunft zu zünden. 26 Jahre später erschoss er Walter Lübcke. Politische Konsequenzen? Keine. Genauso wie nach dem NSU-Mord an Halit Yozgat in Kassel. Und nach dem Attentat von Hanau?

Das Versagen der Sicherheitsapparate in Hessen besteht nicht nur aus technischen Fehlern, es trägt eine deutlich lesbare Handschrift. Es ist die Handschrift einer Polizei, die im Deutschland von AfD und Pegida, nach dem NSU und nach Chemnitz nichts Besseres zu tun hatte, als migrantische Jugendliche beim Autofahren oder beim Rumhängen zu schikanieren, anstatt die rassistische Mobilisierung als Nährboden für neue Formen des Rechtsterrorismus ernst zu nehmen. Die Handschrift einer Politik, in der migrantische Communitys und Familien zum Sicherheitsproblem gemacht werden, statt sie vor rechtem Terror und Rassismus zu schützen.

Die Angehörigen und Überlebenden in Hanau fordern ein angemessenes Erinnern, an dem sich die gesamte Gesellschaft beteiligt. Sie fordern, dass dieses Erinnern eine Mahnung bleibt. Sie fordern Aufklärung, Gerechtigkeit und politische Konsequenzen. Warme Worte sind keine Entschädigung, ein angemessener Opferfonds wäre ein Anfang. Und die Wahrheit. Das Eingeständnis politischer Verantwortung. Dies mag sich für viele wie eine Selbstverständlichkeit anhören, doch die Durchsetzung dieser Forderungen wäre ein Novum. Die große Unterstützung darf daher nicht abreißen. Hanau muss einem jahrzehntelangen politischen Skandal ein Ende setzen. Damit nach Hanau nicht nur Schmerz und Wut bleiben. Der Ruf der Angehörigen und Überlebenden wird nach dem 19. Februar nicht verstummen.

Mario Neumann begleitet die „Initiative 19. Februar“ seit ihrer Gründung durch Angehörige und Unterstützer*innen im März 2020

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