Literaturgeschichten sind der Ort, an dem Karrieren gekrönt werden. Wenn sonst die revolutionären Neuerungen im realsozialistischen Staat eher Mangelware waren, so ist es doch der DDR zu verdanken, dass zumindest mit dieser Regel gebrochen wurde. Im Band 10 ihrer Geschichte der deutschen Literatur wird die Entstehung der »sozialistischen Nationalliteratur« protokolliert, jenes Hybridwesens, das auf dem Schreibtisch Walter Ulbrichts geboren wurde. In dem Standardwerk findet sich der Satz: »Heroische Kampfaktionen des Proletariats seit dem ersten Weltkrieg sind das Thema, durch dessen epische Bewältigung Anna Seghers (geb. 1900) zur sozialistischen Schriftstellerin wurde.« Rüder lassen sich im vereinten Deutschland literarische Lebensläufe nicht begraben, und selbst der Hinweis auf die Penetranz der Formel, dass die Autorin »einen komplizierten Weg des Übergangs vom Bürgertum zur Arbeiterklasse« hinter sich gebracht habe, hilft da nur wenig.
Aussichtsreich scheint allenfalls, wie bei Brecht oder Becher vielfach vorexerziert, der Hinweis auf das Frühwerk, und, im Falle der Anna Seghers, auf das, was Hans Henny Jahnn die »leuchtende Flamme der Menschlichkeit« genannt hatte. Jahnn sprach zwar nur in Andeutungen, doch hat er etwas getroffen, das für die gegenwärtige Rezeption des Werkes von Seghers entscheidend sein kann.
Die Formel von der »Menschlichkeit«, inclusive ihrer forcierten Bildlichkeit, steht noch ganz im Zeichen des Expressionismus. In dieser Kunstbewegung hatten sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zahlreiche rebellische Autoren und Autorinnen zusammengefunden und eine ganze Reihe individualistischer, anarchischer Figuren kreiert. Ende der zwanziger Jahre aber galten in parteinahen Gruppierungen alle Außenseiter und Einzelgänger als bourgeoise Abweichler. Die Narren und Anarchisten, Revoluzzer und Revolutionsromantiker fungierten als historische Legitimatoren, deren Zeit vorbei war, denn der Proletarier war der letzte seiner Art; er markierte das Ende der Vor-Geschichte und seine Bevollmächtigten duldeten keine Konkurrenz.
Anna Seghers Position in dieser Frage blieb ungeklärt. Einerseits waren die literarischen Formen, die sie adaptierte - Märchen, Legenden, Sagen - nach dem Wortgebrauch der Zeit »volkstümlich«, aber da das Volk, wie Brecht im Exil anmerkte, nicht »tümlich« ist, lauerte in ihnen stets die Abweichung. Im Werk von Anna Seghers ist bezeichnend, dass sie zwar am Expressionismus teilnahm, aber das mit hohem Bedeutungswert ausgestattete Motiv Großstadt nicht verarbeitete. Neue literarische Techniken wie Reportage und Montage setzte sie ein, nicht aber den inneren Monolog. Ihre Hauptfiguren sind oft Bauern, Fischer und Handwerker. Sie bringen eine andere Tradition in die »proletarische Gegenkultur« ein und modifizieren damit deren zeitliche Orientierung. In Aufstand der Fischer von St. Barbara fährt der Spiritus rector des Aufbegehrens Johann Hull der Insel entgegen und erblickt »die weiße Narbe, die das Schiff dem Meere riß, die wieder heilte und wieder riß und wieder heilte und wieder riß.« Hull hat Angst vor der Küste, der Ankunft: »Er erschrak. Der braune Streifen war nicht mehr irgendeine Ferne, er war schon Land.« Ankunft aber war im Bund-proletarisch-revolutionärer-Schiftsteller« (BPRS), dem auch Anna Seghers angehörte, Pflicht. Die immer wiederkehrende Bewegung, der mythische Rhythmus des Schiffes auf dem Meer, ist mit einem linearen Geschichtsmodell nicht vereinbar. Die Erlösungssehnsucht, die viele Figuren von Anna Seghers antreibt, auch Arbeiter, Arbeitslose und selbst Nazis, geht nicht einfach in der Gegenwart auf, denn sie lag zu allen Zeiten tief in den Menschen; es gab sie und wird sie geben.
Es ist einfach, in den frühen Erzählungen von Anna Seghers Motive zu finden, die zu parteigängigen Literaturdoktrinen quer stehen. Selbst in ihren späteren Büchern sind hinreichend Belegen vorhanden; Seghers ist viele Kompromisse eingegangen, nicht nur in den Parteigremien der DDR oder den späten Romanen. Entscheidend aber ist eine Kontinuität der utopischen Haltung, wie sie sich in Johann Hull oder auch in Georg Heisler in Das siebte Kreuz zeigt. Für sie gibt es immer einen Punkt außerhalb des eigenen Lebens und ihres unmittelbaren Horizontes. Sie sind unzufrieden mit der Gegenwart und richten ihren Blick in eine Zukunft, die sie nicht kennen. Utopie ist hier keine Parteisache, die in einer Kaderakte abgelegt werden kann. Zuerst geht es Anna Seghers um die Bedingung der Möglichkeit utopischen Denkens und Fühlens und um die Notwendigkeit, ein adäquates Konzept zu besitzen, eines, das die Sehnsucht nach privatem Glück mit einer politischen Orientierung verbindet. Aus diesem Grund ist es kurzschlüssig, die auch immer zeit- und ortlosen, gemeinschaftssüchtigen Einzelgänger gegen die Parteisoldaten auszuspielen. Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre war das utopische Denken hochpolitisiert. In einem Roman wie Die Gefährten von 1932 ist es die Partei und ihr proletarischer Internationalismus, dem die Hoffnungen der ungarischen oder italienischen Genossen gelten. Nur ein undialektisches Denken wird hier zu der Aussage gelangen, dass damit die Utopie verraten wird. Anna Seghers gibt ihr in diesem Roman die zeitgemäße Form. Allerdings beginnt ihr Text mit dem Satz: »Alles war zu Ende.«
Vielfach ist in der Sekundärliteratur die Neigung der Autorin zu Märtyrergestalten hervorgehoben worden (und vor allem zu Märtyrerinnen, die nicht selten Marie heißen) und die Häufung misslungener, blutig beendeter Rebellionen. Der Weg durch den Februar behandelt den gescheiterten Aufstand österreichischer Arbeiter gegen das Dollfuß-Regime, in Die Gefährten wird die ungarische Räte-Republik niedergeschlagen, und in Die Toten bleiben jung die deutsche Novemberrevolution. Doch dieser ÂDefaitismus ist Bestandteil eines jeden utopischen Konzepts.
Als Alfred Döblin im Exil sein Romanwerk November 1918 schrieb, entwarf er damit ein mythologisches Programm, das die deutschen Revolutionäre beerdigte und ihnen einen Platz auf der Ahnengalerie zuwies. Döblin beschäftigte die Frage, wie sich ihre Geschichte zukünftig erzählen lassen wird. Er entdeckte den Mythos und versuchte ein einer mythischen Erzählung vergleichbares Potential in den Figuren Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts zu finden. Anna Seghers musste nach 1933 kein neues poetisches Verfahren suchen. Ihre Tradition waren die noch dem mündlichen Erzählen verpflichteten Formen von Märchen und Legenden. In ihrem einfachen, oft mit kurzen Sätzen und dem Verzicht auf eine ausgefeilte Metaphorik operierenden Stil - und wie bei Brecht gilt auch bei Anna Seghers, dass es sich um kein irgendwie naives, »authentisches« Erzählen handelt, sondern um eine kunstvoll und virtuos hergestellte Einfachheit - entsprach sie den Vorbildern.
Das auf diese Art »einfache« Erzählen von Geschichten war bekanntlich sogar für Hollywood geeignet. Spencer Tracy in Fred Zinnemans Verfilmung von Das siebte Kreuz war der kongeniale Interpret der Figur Georg Heislers. Das Märchen aus Nazideutschland enthielt ausreichend melodramatisches Potential, um kulturindustriell vermarktet zu werden. Auch Seghers' Opferfiguren taugen häufig genug zum tränenseligen Rührstück. Aber ihre Form des Erzählens enthält eben auch andere Möglichkeiten der Aktualisierung. Soziale Unruhen auf entlegenen Inseln oder das Schicksal von Flüchtlingen sind Teil der postmodernen Wirklichkeit. In dem Roman Transit geht es um das Visa-Problem von Emigranten, die vor den Nazis flüchten müssen. Wenn heutige Migranten und Flüchtlinge daran interessiert sind, ihr Schicksal zu erzählen und anderen zuzuhören, finden sich bei Anna Seghers literarische Formen, mit denen das möglich ist.
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