Arbeiten, Konsumieren, Ausgrenzen

Transformationen In Studien zum neuen Kapitalismus von Luc Boltanski und Dirk Baecker zeichnet sich die Rückkehr zur Kritik einer scheinbar alternativlosen Gesellschaftsform ab

Schwarzbuch Globalisierung, Der parasitäre Konzern, Der Terror der Ökonomie, Titel wie diese, in Buchhandlungen gerne und häufig auch in Stapeln ausgelegt, signalisieren, dass mit der Kritik am System ein Geschäft zu machen ist. Genauso offensichtlich ist durch Enthüllungen dieser Art nicht viel gewonnen. Wer etwas über affirmative Kritik lernen will, findet dort reichhaltiges Material vor. Bevor jedoch den glücklichen Zeiten nachgetrauert wird, als der Kapitalismus noch unter dem Dauerfeuer einer theoretisch fundierten Gesellschaftsanalyse stand, ist es sinnvoll, das Verhältnis von Kapitalismus und Kritik näher zu betrachten, und das nicht nur, um affirmative von zuverlässig unverdaulichen Beschreibungen und Thesen zu trennen.

Radikale Kritik scheint nicht mehr selbstverständlich gegenüber einem Gesellschaftssystem, das sich trotz aller sichtbaren sozialen Katastrophen als alternativlos deklarieren kann. Eine solche ahistorische und mystifizierende Position lässt einen Versuch aussichtsreich erscheinen, wie ihn Walter Benjamin um 1921 unternahm. In einem zu Lebzeiten unpublizierten Fragment mit dem Titel Kapitalismus als Religion denkt er darüber nach, inwiefern auch der bürgerlichen, vermeintlich so rationalen Epoche eine religiöse Struktur zugrunde liegt. Anders als Max Weber, der den Kapitalismus aus der protestantischen Kultur erwachsen sah, wies ihm Benjamin eine eigenständige, mehr als nur genetische Religiosität zu, die sich in einem Punkt von der klassischen Religion unterscheidet: "Es hat ihn ihm (dem Kapitalismus) alles nur unmittelbar mit Beziehung auf den Kultus Bedeutung, er kennt keine spezielle Dogmatik, keine Theologie."

Der Systemtheoretiker Dirk Baecker hat Benjamins Fragment zum Anlass eines Sammelbandes genommen, der diesem Kultus auf die Schliche kommen will. "In God we trust" prangt auf dem Dollar, Schuld und Schulden sind etymologisch verwandt, und Gott und Geld bilden ein Duo infernale. Die Essays in diesem Buch, die sich mit Benjamins Gedankenexperiment beschäftigen, offenbaren vieles an der religiösen Grundierung des Kapitalismus, ob es nun um mythologische Abbildungen auf Banknoten oder die Geschichte der Wirtschaftsethik geht. Ob allerdings die Implikation der Herausgebers zutrifft, ist die Frage. Baecker schreibt: "Wenn der Kapitalismus eine Religion ist, dann hat er in jenem Sinne Geist, als daß ihm das Bewußtsein einer Transzendenz, einer Undurchschaubarkeit, einer Unberechenbarkeit eingeschrieben ist."

Das hätte er sicherlich gerne, dieser Kapitalismus, denn wer undurchschaubar ist, kann nicht leicht bekämpft werden. Nun haben Systemtheoretiker wenig Interesse an Gesellschaftskritik. Niklas Luhmann meinte immer mal wieder, die Beobachtung dieser Kritiker bereite ihm kein sonderliches Vergnügen. Wenn der Kapitalismus eine Religion ist, sollte ihm also nicht naiv aufklärerisch, im Sinne von Voltaires "Écrasez l´ infame" oder lamentös konzernkritisch begegnet werden, sondern der Komplexität des Gegenstandes angemessen, so dass auch Systemtheoretiker dabei nicht über die Maßen gelangweilt werden.

In ihrem Buch Der neue Geist des Kapitalismus haben sich der französische Soziologe Luc Boltanski und Ève Chiapello dieses Problems angenommen. Sie versuchen, die Rolle der Kritik bei den Transformationen des Kapitalismus zu bestimmen. Boltanski begann bei Pierre Bourdieu seine wissenschaftliche Arbeit und stützt sich wie sein ehemaliger Lehrer auf die empirische Forschung. Die Auseinandersetzung mit Max Weber und seinem protestantischen "Geist des Kapitalismus" signalisiert bereits der Titel des Buches.

Durch das Buch zieht sich die Vorstellung, dass der Kapitalismus allein durch die Ökonomie nicht zu legitimieren ist. Arbeiten und Konsumieren genügten historisch nie. Der erste Geist des Kapitalismus musste im 19. Jahrhundert einen Kompromiss mit der Familienwelt und ihren Werten eingehen, der zweite beruhte auf einem Ausgleich von Industrie und Bürgerwelt. Sicherheit für sich und die Familie, liberale Grundrechte und anderes mehr sorgten für Zustimmung zum kapitalistischen Wirtschaften.

Auf diese Weise können Boltanski und Chiapello die Rolle der Gesellschaftskritik bestimmen, die zur Legitimation des Systems unentbehrlich ist und darüber hinaus ökonomisch verwertbare Energien mobilisiert. Zuletzt in den sechziger Jahren wurde eine Kritik artikuliert, die gegen das System als Ganzes gerichtet war und Emanzipation einforderte. Viele Forderungen wurden integriert. Selbstverwirklichung, Authentizität, Flexibilität, Selbstverantwortung, dies alles findet mittlerweile innerhalb wirtschaftlicher Unternehmen statt.

Boltanski und Chiapello stellen zu recht fest, dass die Erfüllung dieser Forderungen, sei es als gelungene Vorspiegelung oder teilweise Realisierung der ursprünglichen Intention, auf bestimmte Gebiete beschränkt bleibe und zudem neue Unterdrückungsstrukturen in sich berge. Seit Jeremy Rifkins Buch Access. Das Verschwinden des Eigentums wird zum Beispiel viel über Ein- und Ausschlussmechanismen innerhalb der neuen Netzwerke geredet, und vor allem der inflationäre Gebrauch der Netzmetapher provoziert gelegentlich Hinweise, dass auch derer gedacht werden möge, die sich nicht vernetzen können. Boltanski und Chiapello gehen einen Schritt weiter. Bezogen auf Frankreich analysieren sie genau, wie die Transformation des gesellschaftlichen Systems seit den sechziger Jahren vonstatten ging, wie Kritik integriert wurde und jetzt ein Gebilde vorhanden ist, das sich erfolgreich als emanzipatorisch und modern deklarieren kann, so viel soziale Ungerechtigkeit produziert wie lange nicht mehr und dennoch unangreifbar scheint. Sie konstatieren einen "Kompetenztransfer von der linken Protestkultur zum Management" und wollen herausfinden, wie auf der Seite der Kritiker des nunmehr dritten Geistes des Kapitalismus wiederum eine erneuerte, adäquate Kompetenz akkumuliert werden kann.

Viele ihrer Vorschlägen gehen in eine gute Richtung. Chiapello und Boltanski plädieren für einen neuen Ausbeutungsbegriff, der dem gegenwärtigen Kapitalismus gerecht wird. Dieser soll ergänzt werden um einen Begriff der Ausgrenzung, der das Leben in den Netzwerken erfasst. Die Flexibilisierungen innerhalb des neuen Kapitalismus sollen nicht revidiert, sondern durch Sicherheitsgarantien für alle Bürger sozial gerecht gestaltet werden. Werden diese Hinweise bedacht, würde die marktgängige und wohlfeile Empörungsliteratur mit einer soziologisch fundierten konkurrieren müssen.

Luc Boltanski und Ève Chiapello haben nicht die Transformation des Kapitalismus untersucht und eine neue Theorie vorgelegt. Die Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus hatte Habermas bereits 1973 konstatiert und andere sind ihm nachgefolgt. Vieles, wie die Frage, welche sozialen Akteure welche Form der Kritik artikulieren und tragen können, bleibt ausgespart. Aber im Sinne einer kritischen Theorie der Kritik werden hier Standards gesetzt, die alle, die lamentieren, wie ungerecht es doch zugehe und periodisch Gerechtigkeitslücken erspähen, nicht unterschreiten sollten.

Über allen guten Argumenten schwebt in diesem Buch der Wunsch nach einem sozialen Ausgleich, einer Bändigung der ökonomischen Destruktivkräfte durch eine effektive Kritik. Offensichtlich existiert letztere nur an den Rändern und hat lange noch nicht die Ausmaße erreicht, die eine neuerliche Integration der Kritik, mit allen Nebeneffekten wie erhöhter Zustimmungsrate, Lebensverbesserungen für Viele, erwarten lässt. Der Kapitalismus kann zur Zeit mit dem Ausschluss größer Bevölkerungsgruppen hervorragend leben, und ob und wann der Zyklus von Kritik und ihrer Integration sich in ähnlicher Form widerholt, ist ungewiss. Doch falls dies geschieht, ist Boltanskis und Chiapellos Buch eine wichtige Lektüre für all jene, die hoffen, der Kapitalismus möge beim nächsten Mal nicht wieder so gut wegkommen.

Luc Boltanski, Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. UVK, Konstanz 2003, 736 S., 49 EUR

Dirk Baecker: Kapitalismus als Religion, Kadmos, Berlin 2003, 314 S., 22,50 EUR


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