In der politischen Berichterstattung über den Iran kehren verlässlich die gleichen Muster wieder. Reformkräfte versus Traditionalisten, Orientierung an der westlichen Kultur gegen Fundamentalismus. Das Interesse an den genauen Umständen ist sehr beschränkt, und wenn sie überdies nicht in die erprobten Muster passen, werden sie schnell ignoriert. Noch weniger als die sozialen und politischen Entwicklungen in entlegenen Gesellschaften dürften die jeweiligen Details aus dem literarischen Leben bekannt sein. Wie verlockend ist es folglich, diese Muster hier zu reproduzieren, Romane und Kurzgeschichten dahingehend zu beurteilen, inwieweit sie westlichen Genres folgen oder auf nationalen Überlieferungen und literarischen Formen insistieren? In den Erzählungen von Fattaneh Haj Seyed Javadi spielt zum Beispiel das Motiv der Religion keine Rolle. Ist daraus nun auf eine säkulare, westliche Orientierung zu schließen?
Immer wenn in diesen Stories der iranischen Autorin die Drei Musketiere gelesen werden oder über einen Dracula-Film gesprochen wird, könnte eben das vermutet werden, und die Form ihrer Erzählungen weist deutliche Bezüge zur Tradition der europäischen Kurzgeschichte oder der amerikanischen Short Story auf. Außerdem gilt ihr Interesse der Liebe, also jenem Thema, das, wie die amerikanische Kulturindustrie immer wieder unter Beweis stellt, wie kein anderes geeignet ist, universell verbreitet zu werden. Unter der Überschrift "Mann liebt Frau" lassen sich schnell regionale Besonderheiten ausblenden. Zudem meidet Javadi die Themen der älteren Generation iranischer Schriftsteller, also die Beschreibung sozialer Ungerechtigkeit, des Lebens in der Großstadt, der Konflikte mit religiösen Bewegungen.
Die acht Erzählungen aus In der Abgeschiedenheit des Schlafs sind in einer Atmosphäre bürgerlicher Gepflegtheit gehalten, die in Europa schon wieder fremd wirkt, wo den Bürger schon so lange die Krise begleitet, dass dieser komplett hinter eben jener verschwunden ist. Alles ist hier an seinem Platz, Stil und guter Geschmack stecken sowohl im Inhalt als auch in der Form. Eine klare Struktur, einfache, suggestive Sätze, kunstvolle Variationen des Liebesmotivs, eine zuverlässig wiederkehrende Vorliebe für eine überraschende Schlusswendung - diese Erzählungen hinterlassen einen ungeheuer aufgeräumten Eindruck. Alles befindet sich an einem unmittelbar plausiblen Platz und kann mit großem Vergnügen und Gewinn gelesen werden.
In den Variationen über das Thema Liebe wird nach der Balance zwischen Liebesschmerz und Glück gesucht. Fast alle der Hauptfiguren sind zum zweiten Mal verheiratet. In Die Farben der Bindung folgt im Leben Assads der Liebesheirat der Tod der angebeteten Gattin und die erneute Bindung. Diesmal erfolgt sie mit einer Frau, die allein mit Langmut und vielen nostalgischen Gedanken an die frühere Zeit und die verflogenen Träume der Jugend ertragen werden kann. Die Hauptfigur Lala in der gleichnamigen Geschichte muss in ähnlicher Weise nach einer Liebesbeziehung eine mehr als fragwürdige Erscheinung als Mann ertragen. Die Frau aus In der Abgeschiedenheit des Schlafs trauert in zweiter Ehe ihrer stürmischen ersten Beziehung nach. Im Alter befragt sie ihren Mann, der um diese Trauer weiß, ob er sie dennoch wieder heiraten würde. Als er bejaht und ihr somit die Verzeihung großer Liebe gewährt, entdeckt sie ihr Lebensglück und macht ihren Frieden mit dieser Ehe. Vieles aus dieser Erzählung ist bereits aus Javadis im Iran sehr erfolgreichen Roman Der Morgen der Trunkenheit bekannt, in dem ebenfalls einer Liebesheirat die Trennung und danach eine Art Konventionsehe folgt, die zu Zufriedenheit und Glück führt. Auch wenn Javadi das Thema Liebe phantasievoll variiert - immer kehrt die Alternative romantische Liebe oder Vernunftehe wieder.
In westlichen Gesellschaften gilt es als ausgemacht, dass die romantische Liebe das ultimative Beziehungsmodell darstellt. Im Single-Zeitalter ist Liebe zuerst Verliebtheit, und alles andere als ein ewiges Candle-light-dinner mit wechselnden Teilnehmern weckt Bedauern. Der Soziologe Karl Otto Hondrich hat zwar in seinem Buch Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft entdeckt, dass - global betrachtet - die Konventionsheirat das Zukunftsmodell ist. Hier würden ungleich mehr Kinder geboren, wohingegen die Regionen mit dem Ideal ewiger Verliebtheit demografisch auf dem absteigenden Ast sitzen. Aber so schnell ist dem westlichen Leitbild und Exportschlager natürlich nicht beizukommen.
In den Erzählungen von Fattaneh Haj Seved Javadi wird nun nicht einfach das Gegenmodell zur romantischen Liebe propagiert. Die unterschiedlichen Formen, die die Liebe annehmen kann, stehen gleichberechtigt nebeneinander. Sie können sich im Laufe eines Lebens abwechseln und keine wird im Sinne eines empfohlenen Verhaltenskodexes diskreditiert, allein deshalb nicht, weil jede von ihnen sich binnen kurzem überlebt hat. Am deutlichsten wird dies in der Schlusspointe von Lala belegt. Die gesamte Erzählung lang wird das Leben, werden die Wohnungseinrichtung, die Kinder und der Mann Lalas aus der Perspektive eines gehobenen bürgerlichen Blickes betrachtet. Das Mietshaus in Isfahan ist heruntergekommen, Lala nur noch ein übergewichtiger Schatten jener einnehmenden Gestalt aus vergangenen Zeiten. Mit der Erzählerin ist der Leser froh, diesem chaotischen Heim zu entkommen und in eine stilvoll eingerichtete, ruhige Wohnung zurückzukehren. Als eben diese Erzählerin dort ihre Spitzenhandschuhe ablegt, kommen jedoch abgearbeitete Hände zum Vorschein sowie der Umstand, dass sie von ihrem Mann verlassen wurde und nur mit Mühe, Aufopferung und viel Arbeit die Kinder ernähren und die bürgerliche Ordnung verteidigen konnte.
Von Lala erfuhr sie überdies die wahren Umstände der schwärmerischen Jugendliebe. Da sich diese überraschend in Gestalt eines bereits verheirateten Kuwaiters als pures Unglück erwies, verkehrt sich Anschein und Wahrheit. In diesen Erzählungen bleibt es nie so, wie es ist. Die Wahrheit entfaltet sich erst in der Zeit, deshalb sollte das Urteil über die Figuren zurückhaltend sein, denn wer kann wissen, welche Volte, inklusive der Neubewertungen und unvorhersehbaren Katastrophen das Leben noch bereit hält.
Im Hintergrund drohen nicht nur unerwartete Beziehungsdebakel. Der Krieg zwischen Irak und Iran, die Kollision eines Linienflugzeugs mit einer Militärmaschine, brechen in das Leben der Protagonisten ein und lenken es in eine andere Richtung. Das friedliche und geruhsame bürgerliche Leben, das als stets präsentes Ideal im Hintergrund zu sehen ist, findet auf dünnem Eis statt. Insofern sind die unerwarteten Wendungen und Schlusspointen Beispiel für eine offene Form und, darüber hinaus, für eine Offenheit in Bezug auf kulturelle Modelle, von der alles andere als sicher ist, ob sie beim Thema Liebe auch so im Westen existiert. Schließlich hat Eva Illouz in ihrem viel diskutierten Buch Der Konsum der Romantik den systemischen Druck beschrieben, mit dem die Utopie romantischer Liebe propagiert, oder besser: verkauft wird. Den Erzählungen von Fattaneh Haj Seyed Javadi nach scheint die Situation im Iran, bezogen auf die gesellschaftlich sanktionierten Modelle des Zusammenlebens, aktuell etwas entspannter zu sein.
Fattaneh Haj Seyed Javadi: In der Abgeschiedenheit des Schlafs. Erzählungen. Aus dem Persischen von Susanne Baghestani. Insel, Frankfurt am Main 2004, 311 S.,
19,80 EUR
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