Das menschliche Monster

Individualgeschichtsschreibung Die "Mao"-Biografie von Jung Chang und Jon Halliday ist auf absonderliche Weise unpolitisch

Die heilige Einfalt stand Pate bei dieser Biografie, daran wird nicht herumzudeuteln sein. Bei Jung Chang und Jon Halliday ist Mao Zedong ein machtgieriger, geiler, skrupelloser Schlächter. Irgendeine Ambivalenz oder auch eine Einordnung in historische Umstände, die doch immerhin die handelnde Person im Rahmen des in ihrer Zeit Möglichen agieren lassen, sind ausgeschlossen. Bei diesem Buch handelt es sich um ein im roten Umschlag daherkommendes Schwarzbuch Mao.

Bereits nach dem ersten Drittel drängt sich der Eindruck auf, eine Liste statt eines ausformulierten Fließtextes wäre womöglich sachdienlicher gewesen: Warum Mao ein Schwein war, ihm nichts zugute gehalten werden darf, in Stichworten und synoptisch allen irgendwie den Sachverhalt komplizierenden Sichtweisen gegenübergestellt. Aber dann hätten hundert Seiten gereicht und diese Biografie hätte nicht eine so große Resonanz bekommen.

Nachfragen werden mit Superlativen erledigt: Mao "war verantwortlich für über 70 Millionen Tote in Friedenszeiten"; der von ihm propagierte "Große Sprung nach vorn" zwischen 1958 und 1961 führte zur "größten Hungersnot des 20. Jahrhunderts", und wer da noch überlegt, was auf dieser Liste nachfolgt, wird belehrt, es handle sich auch um "die größte in der Geschichte der Menschheit".

Auch in Bezug auf die internationale Politik werden Fragen ultimativ entschieden. Historische Kongresse, die sich um die Frage, was den Konflikt zwischen China und Taiwan in der Vergangenheit auszeichnete, wer mit welchen Interessen involviert war, sind zukünftig entbehrlich. Alle Wege führen in Maos Schlafzimmer. Dort, zwischen allerlei sexuellen Ausschweifungen, hatte sich Mao überlegt, was für eine gute Idee es doch wäre, den Taiwan-Konflikt eskalieren zu lassen, damit ihm erst Stalin, später Chruschtschow die Atombombe und andere Waffensysteme überlassen. Das ist nicht alles falsch. Vielleicht hat Mao Zedong tatsächlich so gedacht. Es wäre nicht ratsam, diesen Punkt bei der Betrachtung des Taiwan-Konfliktes außer Acht zu lassen. Aber die Argumentation ist so monokausal und simplizistisch, die Zurechnung auf das Monster Mao so deutlich, dass Zweifel nicht ausbleiben. Mao figuriert hier als ein Dr. No, der, da kein James Bond sich blicken lässt, ungestört seine Kreise ziehen darf.

Ohne Zweifel gehört Mao Zedong in die Galerie der großen Staatsverbrecher des 20. Jahrhunderts, und das in herausgehobener Position, direkt neben Stalin und Pol Pot. In seiner Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts lässt etwa Eric Hobsbawm keinen Zweifel daran, dass Mao mit seinen Irrlehren, wie dem "Großen Sprung nach vorn", der China in wenigen Jahren einen Grad an Industrialisierung bescheren sollte, für den andere Länder Jahrhunderte benötigt hatten, persönlich verantwortlich war für Grausamkeiten, Hungersnöte, millionenfachen Tod. Die Kulturrevolution der sechziger Jahre entsprang Maos Anti-Intellektualismus und hatte kaum weniger desaströse Folgen. Bei Hobsbawm ist aber auch nachzulesen, dass die Bevölkerung Chinas unter Mao von 540 auf 950 Millionen anstieg, die durchschnittliche Lebenserwartung von 35 auf 68 Jahre, und dass das Bildungssystem in bedeutendem Maße verbessert wurde. Ist wirklich jede Ambivalenz ausgeschlossen, und vor allem, welche Rolle spielten die sozialistische Bewegung und Ideologie in Maos China?

Tatsächlich ist davon in diesem Buch keine Rede. In den kurzen Passagen, die dem jungen Mao gewidmet sind, wird nur geschlussfolgert, dass er für die Bauern zeitlebens Verachtung besaß und stets nach Privilegien und Luxus, später dann Frauen gierte. Ein kultur-, sozial- oder wirtschaftshistorischer Hintergrund wird ausgeblendet und gerät nur dann ins Blickfeld, wenn die Dimension von Maos Schuld plausibilisiert werden soll. Dieses dicke Buch über einen Diktator des 20. Jahrhunderts ist auf absonderliche Art vollkommen unpolitisch.

Wären nicht wenigstens ein paar Zeilen über die nationalen oder sozialen Komponenten in der Kuomintang von Sun Yat-sen bis Chiang Kai-shek möglich gewesen, oder vielleicht ein Hinweis darauf, warum in einem zersplitterten, ständig von außen attackierten und besetzten Land sozialistische Ideen auf fruchtbaren Boden fielen? Nicht jedenfalls in dieser Abrechnung.

Jung Chang hat lange Jahre, so liest man, an dieser Biografie gearbeitet. Sie hat China durchreist, zahllose Interviews geführt und bislang nicht veröffentlichte Quellen ausgewertet. Über vieles wird zu diskutieren sein, zum Beispiel über die Rolle Chiang Kai-sheks während des langen Marsches. Ob er tatsächlich Mao und die Kommunisten gewähren ließ, die leicht mögliche Vernichtung der gegnerischen Armee verpasste und falsch taktierte, weil er hoffte, regionale Warlords und die chinesischen Kommunisten würden sich bekämpfen, werden die Historiker diskutieren.

Jung Changs und Jon Hallidays Buch liefert in diesen und anderen Fragen viel neues Material. Chang hat auf ihren Reisen auch mit Augenzeugen in entlegenen Regionen gesprochen. Sie hat zum Beispiel herausgefunden, dass eine von Mao stets mythisierte, Flussüberquerung während des langen Marsches nur in der Fantasie bedrohlich, in der Realität eine sehr profane Operation war. Die historische Wahrheit konnte im gegenüber der restlichen Welt rigide abgeschotteten China häufig vortrefflich verborgen werden. Dieses Buch und die jahrelangen Recherchen der Autoren werden helfen, die Legendenbildungen und Halbwahrheiten in der chinesischen Überlieferung zu entdecken.

Dazu gehören auch die Konflikte in der KP Chinas. Zur Zeit der Auseinandersetzung zwischen dem Vorsitzenden Mao und dem chinesischen Präsidenten Liu Shao-chi war schwer zu entscheiden, wer für welche Position stand. Die Texte der deutschen 68er offenbarten damals in dieser Frage eine große Zurückhaltung und Vorsicht, wie die innerparteilichen Konflikte einzuschätzen waren. Heute ist das Wissen darüber vorhanden: Mao Zedong wollte, koste es, was es wolle, die Industrialisierung und Aufrüstung Chinas vorantreiben, wohingegen Liu Shao-chi, wie Jung Chang schreibt, auf Reisen durch das Land das Leiden seines Volkes sah und gegensteuerte. Er war zunächst auch erfolgreich, und Mao musste einlenken und die den Bauern aufgezwungenen Getreideabgaben reduzieren. Aber er sann auf Rache und in der 1966 einsetzenden Säuberung der Partei ließ er alle Kritiker ausschalten.

Doch auch wenn in dieser Biografie vieles Verborgene enthüllt wird, bleibt die Einschätzung, dass Chang/Holliday ein unpolitisches Buch ist, bestehen. Alles wird auf Mao, das menschliche Monster, reduziert. Die Biografin kann nicht erklären, warum diesem von Anfang an skrupellosen Politiker viele Menschen gefolgt sind; sie hat viele Worte, aber keine Begriffe. Alles gerät den beiden zu Machtgier. Mao reiht sich ein in die Riege der Tyrannen von der Antike bis heute, alle vereint durch ihre Bösartigkeit und ihre skrupellose Ausbeutung der Bevölkerung. Die Empörung ist hoch, der Erklärungsgehalt gering. Geschichtsschreibung wäre hier eine gute Idee. Isaac Deutscher hat es noch immer vorgemacht, in seinen in den vierziger und fünfziger Jahren geschriebenen Biografien über Stalin und Trotzki und er hat durchaus Nachahmer gefunden. Aber wenn aus dieser biografischen Sozial- eine Individualgeschichtsschreibung wird, bleibt auch eine Empörung, die nicht wirklich verstehen will, am Anfang einer langen Strecke stecken.

Jung Chang, Jon Halliday: Mao. Das Leben eines Mannes. Das Schicksal eines Volkes. Blessing, München 2005, 975 S., 34 EUR


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