Als Alexander Kluge pünktlich zur Jahrtausendwende die Chronik der Gefühle veröffentlichte, ließ er verlauten, an so ein Riesenprojekt setze er sich nie wieder. Wenig später sickerte allerdings durch, dass er weiterschreibe. Das Ergebnis sind 1.000 Seiten neue Geschichten, die von der enormen Produktivität des Autors zeugen, das Phänomen Kluge aber immer noch nicht erschließen.
Dabei sind es nicht einmal der Mangel an Kontinuität oder das Fehlen wiederkehrender Motive, die es so schwer erscheinen lassen, sein auf dramatische Weise unübersichtliches Schaffen zu inventarisieren. Kluges literarisches Verfahren ist seit Schlachtbeschreibung (1964) das gleiche geblieben. Er schreibt nach eigener Genrebezeichnung "Geschichten". So allgemein sich das anhört, so offenkundig sind die sich ergebenden Freiheiten. Häufig sind die Geschichten um historische Ereignisse wie Stalingrad, den Zweiten Weltkrieg, Tschernobyl oder den Untergang der DDR gruppiert, sprengen diesen Rahmen aber immer wieder durch historische oder geographische Exkurse auf und nutzen dabei Formen wie Bericht, Kommentar, Dokumentation oder Chronik.
Querverbindungen zu seinen Filmen sind naheliegend, Überschneidungen zu den zusammen mit Oskar Negt verfassten theoretischen Arbeiten Öffentlichkeit und Erfahrung und vor allem Geschichte und Eigensinn offenkundig. Der Aufstand gegen eine schlecht eingerichtete Welt, die drängende Frage nach einer möglichen Emanzipation von Herrschaft und Unterdrückung, durchzieht seine gesamten Arbeiten. Wer, außer einigen begriffsstutzigen Juroren, denkt da nicht an Georg Büchner? Kluge ist nicht der erste, der an diesem linken Projekt arbeitet, ohne dass die Jury des renommiertesten deutschen Literaturpreises das zur Kenntnis nimmt. In seinen Tagebüchern lästerte Peter Weiss, welche Anstrengungen an dieser Stelle unternommen werden, um ihn zu übergehen.
Aber trotz aller Konstanten in den Arbeiten Kluges überwiegt das Erstaunen über das in seinen Büchern zusammengetragene Material - nicht gemeint im Sinne eines faktischen, historisch gesicherten Wissens. Gerne verwendet er auch dieses, aber nur, um das, was als Wissen in Gesellschaften fungiert, wieder in lebendige Arbeit zu übersetzen. In der Chronik der Gefühle geht es zurück bis zu Gilgamesch und dem alten Zweistromland, zuweilen sogar bis in vorgeschichtliche Epochen. Wer sich fragt, was Kluge eigentlich mit diesen Geschichten bezweckt, welches in aller Welt der Zusammenhang oder die aktuelle Relevanz sein könnten, ist ihm bereits auf den Leim gegangen, assoziiert und konfrontiert das Gelesene mit den eigenen Erfahrungen.
Das erste Kapitel in Die Lücke, die der Teufel läßt erinnert an das Verhältnis von lebendiger und toter Arbeit, wie es Marx beschreibt. Aber der Theoretiker des Kapitals konzentrierte sich auf den Produktionsprozess. In Geschichte und Eigensinn wollten Negt und Kluge Marx´ Analyse des kapitalistischen Produktionsprozesses die Politische Ökonomie der Arbeitskraft hinzufügen. Diese Arbeitskraft nennt Kluge gelegentlich "Mensch", und das ist bei ihm weder eine abstrakte, ideologische Anthropologisierung noch naives humanistisches Pathos, mehr eine pragmatische Lösung. Dieses eigensinnige, vom ständigen Streben nach Lebensglück angetriebene Wesen, sieht sich überall von toter Arbeit umstellt, von bürokratischen Apparaten, Machtgebilden oder kulturellen Traditionen und Verhaltensweisen, die sich zu einem Korsett verfestigt haben. Beides passt nicht zusammen, fügt sich, aus der Sicht der Arbeitskraft, nicht zu einem befriedigenden Lebenslauf. Die Welt ist schlecht eingerichtet, aber aus Sicht der Systeme Macht oder Militär spielt das keine Rolle. Sie bewegen sich in kühler Luhmannscher Betriebsamkeit, angetrieben von abstrakten Systemcodierungen.
Ihnen gegenüber haben die Menschen einen entscheidenden Nachteil. Sie haben keine Zeit, jedenfalls nicht genügend für eine Gedankenarbeit, die erforderlich wäre, um der akkumulierten toten Arbeit wirkungsvoll zu begegnen. Kluges Sprechweise, seine Geschichten sind auf eigentümliche Weise atemlos, als bestehe ein Überschuss an Energie, das überall herumliegende, scheinbar übermächtige Rohmaterial durchzuarbeiten und sich anzueignen. Wer der Schwerkraft der Apparate und Systeme widerstehen will, muss versuchen, Zeit zu gewinnen, in den Lücken, Spalten und Rissen herumzuwerkeln, die sich im historischen Verlauf ständig auftun.
Dieser Eigensinn der Arbeitskraft ist durchaus ambivalent. Er ist den Menschen nicht auszutreiben, ohne ihn wäre Widerstand nicht denkbar. Er gerät jedoch auf Um- und Abwege, findet sich in Stalingrad, Tschernobyl oder sich auflösenden Gesellschaften wieder. Dieser Gewalt setzt Kluge eine "Schatzbildung" entgegen. In den Einzelnen häuft sich die lebendige Arbeit an, verursacht durch ihr unermüdliches Streben nach erfüllten Beziehungen und Lebenssinn. "Alle Gefühle glauben an einen glücklichen Ausgang", aber sie sind auch unfertig, ein Rohstoff, der in den Menschen lagert und der ebenso gut von einer feindlichen Übermacht ausgebeutet werden kann.
Faszinierend an Kluges Arbeiten sind die Intensität und Offenheit, mit der er seine Themen wieder aufnimmt und variiert. Seine Bücher sind wie Labyrinthe, in denen Autor und Leser gemeinsam nach nützlichen Landkarten und Wegmarkierungen suchen. Ein Verirren oder ein Stranden in Sackgassen sind jederzeit möglich. Die Vielzahl der Geschichten stellen eine einzige Überforderung dar, die nur deshalb erträglich ist, weil es dem Autor nicht viel besser als den Lesern geht. Was verbindet im ersten Kapitel aus Die Lücke, die der Teufel läßt die Pläne des KGB, die Tochter des Reeders Onassis und damit dessen Tankerflotte in die Verfügungsgewalt zu bekommen, mit Adornos Geliebter und dem Versicherungsrecht, das auf das Attentat vom 11. September angewendet werden muss? Alles das ist Beziehungsarbeit, zwischen Einzelnen oder vermittelt über große Institutionen, und der Anteil an lebendiger oder toter Arbeit entscheidet über das Schicksal der Figuren. Dem Agenten des KGB, der mit der Onassis-Tochter anbändelt und sie heiratet, wäre sein letztendliches Scheitern leichter gefallen, wenn nicht gänzlich unideologische Gefühle in die Quere gekommen wären. Die Onassis-Tochter hingegen ist so von toter Arbeit eingekesselt, dass sie keine Chance für eine materiell interessefreie Beziehung besitzt.
Diese lose nur miteinander verbundenen Geschichten führten in einer Zeit, in der es noch nicht rufschädigend war, zu dem Etikett des "letzten Modernisten". Sicherlich liegt die Montagetechnik nicht fern, und die offene Form von Kluges Texten ist eine der gelungensten Weisen öffentlichen Nachdenkens seit der literarischen Moderne. Selbst seine Tätigkeit als Medienmanager und Projektemacher erinnert an eine frühere Zeit, als die Massenmedien noch neu und vieles möglich war. Liegt diese Epoche tatsächlich zu weit zurück, als dass heute eine Zuordnung zu ihr noch als Lob verstanden werden könnte? Kluge hat unbeeindruckt von Moden und Zeiterscheinungen vieles von der Moderne übernommen, nicht zuletzt die Überzeugung, dass die Emanzipation der Menschen eines der sehr seltenen Projekte ist, das keinen oberflächlichen Konjunkturen unterliegt.
Alexander Kluge, Die Lücke, die der Teufel läßt. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003, 949 Seiten, 29,90 EUR
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.