Von der Geschichte und ihrem Gang, ihren Wechselfällen und Verwerfungen, und was der Bilder und Metaphern mehr ist, ist immer wieder gern die Rede. Aber hin und wieder befällt den lesenden Westeuropäer Zweifel an der Kompetenz und den Erfahrungen, hier mitreden zu können. Dies geschieht vor allem, wenn mit den Konjunkturen des Literaturbetriebs plötzlich bis dato unbekannte Biografien wie die des koreanischen Schriftstellers Hwang Sok-yong bekannt werden.
In einer koreanischen Familie, die vor der japanischen Besetzung geflohen war, 1943 in der Mandschurei geboren, erlebte er nach der Rückkehr in Seoul den Korea-Krieg und die Teilung des Landes. Anfang der sechziger Jahre entstanden erste literarische Arbeiten, die aber durch den Vietnam-Krieg und die erzwungene Teilnahme an einem koreanischen Expeditionskorps auf der Seite der Amerikaner unterbrochen werden. Drei Jahre währte der Militärdienst. Danach schrieb Hwang Sok-yong zahlreiche Erzählungen, 1972 den ersten Roman Die Geschichte des Herrn Han. Aber das autoritäre Regime Südkoreas unter Park Chung-hee sorgte weiterhin für eine hochpolitisierte Atmosphäre. Sok-yong wurde Zeuge, wie 1980 der Kwangju-Aufstand gewaltsam unterdrückt und in den nachfolgenden Studentenunruhen und Massendemonstrationen für eine Direktwahl des Präsidenten und demokratische Rechte gekämpft wurde.
Sok-yong reiste in den neunziger Jahren nicht nur nach Berlin, wo er sich zwei Jahre als Gast der Akademie der Künste aufhielt, sondern ebenso in die Vereinigten Staaten, um Sanktionen zu entkommen, die er auf Grund seiner Reisen nach Nordkorea 1989 und 1990 befürchten musste. Als er dennoch in sein Heimatland zurückkehrte, wurde er verhaftet und für fünf Jahre ins Gefängnis gesperrt. "Verstoß gegen die nationale Sicherheit" lautete der Vorwurf, weil Sok-yong Kontakte zur nordkoreanischen Kulturszene geknüpft hatte. Erst eine Amnestie des Präsidenten Kim Dae-jung ebnete ihm den Weg in die Freiheit und, Ironie der Politik, beförderte ihn im offiziellen Staatsauftrag nach Nordkorea, um dort kulturelle Kontakte zu pflegen.
Der Gang der koreanischen Geschichte und der Lebensweg dieses Intellektuellen sind also aufs Engste miteinander verknüpft. Die Politik seines Landes, die Weltpolitik der Großmächte, haben sein Leben verkompliziert, vielfach seine Wege gekreuzt und abgelenkt und Spuren bis in den Satzbau und die Stilmittel hinein hinterlassen. Einer französischen Zeitung sagte er einmal: "Wir haben geschrieben, wie man Billard spielt, unsere Metaphern haben wir über drei Banden laufen lassen."
Diese Wechselfälle, Unglücke, Katastrophen finden sich in stark verdichteter Form in seiner Literatur wieder, vor allem in dem Roman Die Geschichte des Herrn Han. Vor über 30 Jahren geschrieben, behandelt er die Jahrzehnte nach dem Koreakrieg. Herr Han ist Mediziner, Professor für Gynäkologie in Pjöngjang. Während des Krieges muss er seine Familie und den Norden verlassen. Die dortigen Kommunisten befinden, er habe seinen "Kopf nicht ausreichend mit Gewissheiten vollgestopft". Eines allerdings besitzt er zur Genüge. Er weigert sich, Parteigenossen eine bevorzugte Behandlung zu gewähren, versorgt im Krieg alle gleich, fällt in Ungnade und endet schließlich als verschrobener und schäbiger Alter in einem Mietshaus.
Es ist nicht einmal ein ausgeprägtes Berufsethos, das Credo des hippokratischen Eides, das die Handlungen der Hauptfigur motiviert. Viel mehr ist es Anständigkeit, die der Autor als eine Art Sonde in die koreanische Gesellschaft einführt. Alle anderen Figuren spiegeln sich in ihr, teilen sich in Freunde, dezidierte Gegner und in jene, die den Anstand des Herrn Han für ihre Zwecke ausnutzen. In einer von Hauptsätzen geprägten, präzisen wie gleichmäßigen Sprache, selten unterbrochen von Metaphern, fließen die Jahre und Jahrzehnte vorbei. Niedertracht, Vorteilsnahme und Stumpfsinn ringen mit Anstand, Teilnahme und Freundlichkeit, sowohl im nördlichen wie im südlichen System, die beide auf ihre Weise die ersteren begünstigen. Zuweilen fällt es dem westlichen Leser schwer, dabei nicht an Brechts unnachahmliche Diktion zu denken, in der auch darüber geschrieben wird, dass die Güte wieder schwächlich war, die Bosheit an Kräften wieder einmal zunahm.
Dieser Herr Han ist eine so eingängige wie einfache Figur; Konflikte ergeben sich für ihn nur, wenn sein Anstand in Frage steht. Für Probleme sorgen wechselnde Regime. Auch in seinem Roman Der ferne Garten, im Jahre 2000 in Seoul erschienen, befindet sich der politische Konflikt im Vordergrund. Der Ich-Erzähler Oh Hyunuh wird 1999 nach 17-jähriger politischer Gefangenschaft entlassen. Natürlich findet er sich in der hochtechnisierten Welt nicht mehr zurecht. Er erfährt, dass seine Freundin Man Yunhi, eine Malerin und Kunststudentin, gestorben ist und findet einige ihrer Notizen und Bilder. Er liest und schaut, nimmt auf diese Weise teil an dem Leben, das sie während seiner Inhaftierung führte und erfährt dabei, dass er eine Tochter hat.
Auch formal weitet sich die Perspektive, denn es stehen mehrere Personen im Mittelpunkt. Neben oppositionellen Studenten ist das zuerst Man Yunhi, deren Notizen und Tagebücher die Rückblenden des freigelassenen Hyunuh und sein gegenwärtiges Leben unterbrechen. Man könnte es eine dezente Form der Montage nennen, aber die Zuordnung zum literarischen Modernismus ist problematisch. Hwang Sok-yong hat mehrfach auf die vertrackte Verbindung von Modernismus und Realismus in den Ländern der Dritten Welt hingewiesen und schließlich bekannt, er versuche moderne Inhalte in die traditionelle koreanische Erzählform fließen zu lassen. Die Geschichte des Herrn Han ist in diesem Sinne traditionell. Der Roman Der ferne Garten hingegen ist komplexer und offenbart, dass das westliche Modell von eindeutiger historischer Abfolge von Realismus und Modernismus und der Überlegenheit des letzteren hier nicht funktioniert.
Die Malerin Man Yunhi begibt sich nach Berlin und erlebt hier die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Aber es ist nicht nur die Vielzahl der Schauplätze und Personen. Mindestens ebenso entscheidend ist die Vielzahl von Fluchtpunkten, die sich innerhalb des Romans öffnen. Auf der politischen Ebene ist dies natürlich die Vorstellung, irgendwann werde auch die Teilung Koreas überwunden. Yunhi und Hyunuh erlebten eine Zeit der Freude in einem Dorf und einem Garten, der dem Roman den Titel gibt. Dieser Garten war der Ort erlebten Glücks, das vergangen und in der Erinnerung stets gegenwärtig ist.
Auch die Vielzahl von Essensszenen weist in die gleiche Richtung. Es wird ungeheuer viel geschnitten, gekocht und gegessen in diesem Roman, und jedes Mal, wenn einige zum Beispiel der südkoreanischen Studenten sich zum gemeinsamen Essen versammeln, retten sie sich in eine Enklave, eine Zwischenzeit, in der der politische Druck, die Gefahr und Bedrängnis nicht spürbar sind. Unbehelligt von äußeren Bedrängnissen den alltäglichen Verrichtungen nachzugehen, könnte schon eine kleine Utopie sein. Die Unabhängigkeit, die Hoffnung, nicht angetastet zu werden, von den Regimes unbehelligt leben zu können, durchzieht dieses Buch. Die Episode der Malerin Yunhi in Berlin, einer Koreanerin, die weit entfernt von ihrem Land, inmitten von Verhältnissen lebt, die ihr Bewegungsmöglichkeiten, ungeahnte Perspektiven gestatten, zählt zu den herausragenden in einem großartigen Roman.
Auf der literarischen Ebene wäre der Fluchtpunkt die Überwindung des Modernismus mit seinem Pathos und seiner Überspanntheit. Hierin liegt eine eminente Anregung für den Westen. Die Schriftsteller in der vormaligen Dritten Welt versuchen in ihrer Literatur, den westlichen Modernismus zu überwinden, der in Literatur und Kultur in großen Teilen der Ersten noch immer das Maß aller Dinge ist. Vielleicht gilt auch hier das Motto des listigen Brecht, nicht an das gute Alte anzuknüpfen, und die hier üblichen literaturhistorischen Periodisierungen und Bewertungen einer Revision zu unterziehen.
Hwang Sok-yong: Die Geschichte des Herrn Han. Roman. Aus dem Koreanischen von Oh Dong-sik, Kang Seung-hee und Torsten Zaiak. dtv, München 2005, 137 S., 12 EUR
Hwang Sok-yong: Der ferne Garten. Roman. Aus dem Koreanischen von Oh Dong-sik, Kang Seung-hee und Torsten Zaiak, dtv, München 2005, 520 S., 15 EUR
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