Die Entdeckung der Orangenschale

Dreisternekoch Ingo Schulzes Erzählungen "Handy" leben von einem raffinierten Understatement

Man mag über große Werke denken, was man mag. Da Ereignisse auch stets an ihren Folgen zu messen sind, zählt das, was danach kommt, dazu. Mit Neue Leben hatte Ingo Schulze einen voluminösen Briefroman gestemmt. Jetzt folgen ein paar lockere Geschichten hinterher, die auch noch "in alter Manier" geschrieben seien, wie der Untertitel herausstellt, und die, der Entstehungszeit zufolge, neben und kurz nach dem Großprojekt entstanden. Was ist das für eine schöne Einladung an die Kritiker. "Alte Manier", also haben wir hier die "33 Versuche", natürlich Simple Stories - zurück zu den Wurzeln. Der Autor ist wieder, der er war.

Zugegeben, das ist ein verlockendes Spiel. Die Regeln lauten Werkübersicht, Einteilung, Wertung. Der bedeutende gesamtdeutsche Autor Ingo Schulze ist nach einem Ausflug ins Große wieder zu seinem Frühwerk zurückgekehrt - der Germanist im Kritiker fühlt sich unmittelbar angesprochen. Postmodern gestimmt ließe sich auch sagen: Der Autor spielt mit seinem Publikum. Wirklich sehr amüsant, da wird man direkt zum literarischen Gourmet.

Glücklicherweise verhält es sich ein wenig komplizierter, und das hat zuerst mit der haarsträubenden Unauffälligkeit dieser Geschichten zu tun. Es gibt Sylvesterpartys, Nachbarschaften, und da der Erzähler sich häufig als Schriftsteller zu erkennen gibt, der mit dem literaturhistorisch registrierten Schulze, Ingo, bedeutender Autor von Kurzgeschichten in amerikanischer Manier, einiges gemein hat, auch Reisen ins Ausland, auf eine Schriftstellerkonferenz in Ägypten oder nach Estland. Das ist zuweilen so banal, dass der Leser nicht anders kann, als in notdürftig getarnte Falltüren zu tappen.

Bei Die Verwirrungen der Sylvesternacht handelt es sich um eine Love-Story. Die Hauptfigur trifft nach langen Jahren des beruflichen Erfolgs die große Liebe Julia wieder, ist aber mit Ute beisammen, die wiederum weiß, dass ihre Beziehung nun vor einer grundlegenden Bewährungsprobe steht. Das ist eine klassische Dreiecksbeziehung, früher und später, Jugendliebe und Ehefrau, das gab es zu allen Zeiten. Nun spielt aber die Jugendzeit der Hauptfigur in den heroischen Tagen des Neuen Forums zur Wendezeit, und der Protagonist besitzt einen Kopierladen. Er kann sogar expandieren, sein Geschäft auf drei Kopierläden ausweiten.

Postmodern geschulte Westler denken bei Kopie an Simulacrum und Baudrillard, assoziieren Verrat an der Realität, das perfekte Verbrechen, ergo die Ersetzung der Realität durch die Welt der Zeichen, im nächsten Abstraktionsschritt die Ersetzung der Geschichte durch den Erfolg. Wem das zu abgedreht ist, der mag erdnah und östlich an sozialistische Universitäten denken, das Verbot des unreglementierten Kopierens, das nachweislich nicht zur Stabilisierung des Systems beigetragen hat. Wer weiß, was passiert wäre, hätte Hans Modrow frühzeitig Copyshops durchgesetzt. Das Motiv ist alles andere als harmlos, die Konnotationen sind zahlreich.

Nur ein wenig anders verhält es sich in der Erzählung Schriftsteller und Transzendenz. Eine Frau wird von einer Nachbarin um fünfhundert Mark geprellt. Sie sinnt nach Abhilfe, die Situation sieht verfahren aus, doch die Betrügerin war Zuträgerin für die Stasi, und so genügt ein dezenter Wink mit der Stasi-Akte, in der alles verzeichnet ist, und schon ist der Konflikt beigelegt. Wenig später kehrt dieses Modell wieder. Bei einem Möbeltransport verschwindet ein Tisch, rücksichtslose Gesellen haben ihn sich widerrechtlich angeeignet. Ein kleiner wie haltloser Hinweis auf eine mögliche enge Mafiaverbindung der bestohlenen Person schafft das vermisste Stück augenblicklich wieder herbei. Ein Anti-Michael-Kohlhaas treibt sich dort herum, versehen mit ein wenig plebejischen Witz und der Fähigkeit, zivile wie listige soziale Regelungsmechanismen zu ersinnen, wo auf andere, abstrakte Gebilde wie, sagen wir, den Rechtsstaat, nicht zu hoffen ist. Die Unaufdringlichkeit, mit der all dies mitgeteilt, oder besser: nahe gelegt, oder noch besser: höflich ins Reich der assoziativen Möglichkeit gerückt wird, ist zweifellos meisterhaft und nötigt höchste Bewunderung ab.

Die kleine Form - insgesamt erhält dieses Buch dreizehn Geschichten - eignet sich hier vorzüglich, ein Thema durchzuspielen. Ende der zwanziger Jahre meinte Brecht einmal, man brauche kleine, wendige Formen, Muster, die variiert werden können, die deshalb in einer krisenhaften Zeit der Literatur Möglichkeiten böten, schnell zu reagieren und Modelle bereit zu stellen, die auf soziale Nützlichkeit hin erprobt werden könnten. Nun soll Ingo Schulze auf keinen Fall in diese Tradition gestellt und eingemeindet werden. Natürlich haben alle recht, die im Falle von Ingo Schulze die berühmten Bände mit den amerikanischen Short Storys schwenken. Und dennoch: Die Flexibilität und Beweglichkeit dieser Geschichten ist beeindruckend. Vieles ähnelt einer Versuchsanordnung und enthält ein hohes Maß an Selbstreflexivität.

Wenn in Erzählungen erzählt wird, wird meist der Ruf nach dem Theoretiker laut, der berufen die Moderne herbeizitiert und das narrrative Projekt würdigt. Bei Ingo Schulze ist das möglich, aber nicht empfehlenswert. Sicherlich wird in diesen Geschichten viel erzählt. In Zwischenfall in Kairo wird sogar die Frage nach der therapeutischen Wirkung des Schreibprozesses gestellt - und verneint. Allen, die hier nun eine richtige, große Poetik wittern, ist die darauf folgende Geschichte Keine Literatur oder Epiphanie am Sonntagabend gewidmet. Dort heißt es: "Wir begriffen das Wunder, dass es uns gibt." Schlichter, auch ergreifender lässt sich kein versierter Poetologe auf die Erde herunterholen.

Schulze treibt ein listiges Spiel mit seinen Motiven, Themen und Figuren. Er probiert Erzählsituationen aus, variiert bekannte Sujets, hält das schriftstellerische Handwerk nicht verborgen, stellt es aber auch nicht so offensiv heraus, dass der Gestus des Experimentellen aufdringlich würde. Understatement ist unverkennbar. Der Autor hat den Gestus des Dreisternekoches, der ein Filet Wellington serviert, als habe er nur eine Pizza abzuliefern - und der weiß, dass er sich diesen Luxus der Bescheidenheit leisten darf, weil die Sterne draußen gut sichtbar angeschlagen sind.

Vermutlich werden Vergleiche mit seinem Briefroman Neue Leben angestellt werden, und nicht wenige könnten zu der Erkenntnis gelangen, dass die kleine Form die bessere Wahl ist. Aber auch in diesen "dreizehn Geschichten in alter Manier" schimmert die Neugierde durch, etwas auszuprobieren, einen Dreh- und Angelpunkt zu finden, der eine unvorgesehene Wendung erlaubt. Die Schlichtheit vieler Sätze kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass in ihnen so manche Überraschung steckt. Insofern enthält der Zusatz "Geschichten in alter Manier" eine schöne Ironie.

Ingo Schulze: Handy. Dreizehn Geschichten in alter Manier. Berlin, Berlin 2007, 280 S., 19,90 EUR


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