Als Bertolt Brecht 1938 mit der Arbeit am Leben des Galilei begann, konnte er kaum ahnen, wie sehr prominente Naturwissenschaftler in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wieder eine politische Rolle spielen sollten. Nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki überarbeitete er das Stück und entfernte alles, was nach einer Rechtfertigung für Galileis Widerruf vor der Inquisition aussehen könnte. Die radikale Selbstkritik des Wissenschaftlers sollte für das Atomzeitalter eine Lehre sein.
Im Westen entsprach Albert Einstein, der mit seinen Briefen an den amerikanischen Präsidenten zur moralischen Instanz wurde, dem hohen Anspruch. In der Sowjetunion begann die Forschung und damit die Reaktion der beteiligten Physiker später. Anfang der vierziger Jahre war dort zwar bekannt, dass sowohl die Nazis wie die US-Amerikaner an der Bombe arbeiteten, aber erst nach dem Abwurf der ersten Atombomben, dem Signal, dass der Kalte Krieg begonnen hatte, ordnete Stalin die Intensivierung der wissenschaftlichen Arbeit an.
Forschergruppen wurden gebildet und begabte Physiker bekamen die Möglichkeit, sich mit Einsatz und Ideen hervorzutun. Wie wichtig diese Arbeiten waren, lässt sich bereits an dem Umstand ersehen, dass mit dem 31 jährigen Andrej Sacharow ein Naturwissenschaftler zum jüngsten Mitglied der Akademie der Wissenschaften aller sowjetischen Zeiten auserwählt wurde. Der damals übliche Patriotismus war es sicher nicht, der dem jungen Physiker zu dieser Auszeichnung verhalf. Sacharow hatte der Arbeitsgruppe die entscheidenden Impulse geliefert, den Erfolg der ersten sowjetischen Atombombenversuche ermöglicht und seinem Land einen Achtungserfolg in der Systemkonkurrenz verschafft.
Richard Lourie, amerikanischer Sachbuchautor und Übersetzer von Sacharow, Milosz und Gorbatschow, erzählt das Leben eines wissenschaftlich ehrgeizigen, schüchternen, eigenbrötlerischen, aber sympathischen Menschen, also eines Naturwissenschaftlers, wie er dem Klischee entspricht und wohl in der Realität tatsächlich vorkommt. Nebenbei bietet er gute Einblicke in die wissenschaftlichen Kuriosa in der Sowjetunion. Der brillante Physiker Sacharow begegnet auf einer Akademiesitzung dem Biologen Lyssenko, der heute immer gerne herbeizitiert wird, um das vulgärmarxistische Treiben der sowjetischen Wissenschaft zu belegen. Lyssenko hatte jegliche Relevanz der menschlichen Gene bestritten und soziales Verhalten allein auf Umwelteinflüsse zurückgeführt. Aus wissenschaftlichem Ethos heraus attackierte ihn Sacharow auf einer Vollversammlung der Akademie. Der Physiker konnte es nicht mit ansehen, wie moderne Biologie und Genetik brach lagen und die internationale Entwicklung vollständig an der Sowjetunion vorbei lief.
In der Physik entschied die Objektivität der wissenschaftlichen Forschung über den Einfluss in der Weltpolitik, die Biologie aber war ein weitgehend politikfreies Gebiet, so dass sich hier, ironisch genug, eine politische Doktrin breit machen konnte. Sacharow setzte sich übrigens in der Akademiesitzung durch und Lyssenkos Zeit war abgelaufen. Letztlich verdrängte gut materialistisch das Interesse die Ideologie. Sacharows fulminanter Auftritt markierte auch den Beginn seiner politischen Karriere. Die wissenschaftlichen Helden des Vaterlandes gewannen Privilegien und Prominenz. Richard Lourie rekonstruiert sorgfältig die Etappen von Sacharows Politisierung. Zuerst kamen ihm Bedenken über die Atombombenversuche. Die Naivität der ersten Stunde wich Zweifeln, ausgelöst durch Berechnungen über Nachfolgeschäden durch Fallout und radioaktive Verseuchung. Sacharow versuchte, die Zahl der Versuche zu minimieren und geriet in Konflikte mit der politischen Bürokratie, die das systeminterne wie internationale Renommee ausbauen wollte und sich um Marginalien wie auf lange Sicht hin einige zehntausend Tote und Kranke nicht scherte. Als 1968 ein Essay Sacharows in der New York Times erschien, reagierte die Partei und entzog ihm seine Privilegien und seine wissenschaftliche Arbeit. Er war jetzt ein internationaler Star und damit in der Sowjetunion persona non grata.
Richard Lourie hat viele von Sacharows Artikeln und Schriften ins Englische übersetzt und sich als Spezialist auf dem Gebiet der russischen und sowjetischen Geschichte profiliert. Kenntnisreich und detailliert beschreibt er das Leben eines begabten Physikers, der in seiner Arbeit aufgeht und beinahe wider Willen zum engagierten Intellektuellen, schließlich zu einer Art Märtyrer der Verfolgten des Regimes wird. Lourie beschreibt in bester Kolportagemanier einen Zweikampf. Sacharows Widerpart ist Jurij Andropow, der KGB-Chef und spätere Generalsekretär. In einem zähen Kleinkrieg belauern sich der Prominente und der Funktionär, erschweren sich das jeweilige Leben, natürlich mit Vorteilen auf Seiten des Mannes mit der Macht.
Sacharows politische Auffassungen ändern sich. Die Entwicklung reicht vom anfänglichen regimetreuen Patriotismus über eine Konvergenztheorie, die das beste aus zwei Welten kombiniert sehen möchte, bis zum Lob westlicher Demokratien. Die Konflikte mit dem KGB werden härter, bis die Leidenszeit anbricht mit Verbannung, Hungerstreik und Internierung. In diesem Teil des Buches ist der Biograph sehr nahe an seiner Hauptfigur. Beinahe jede Unternehmung des politischen Aktivisten wird vermerkt und in ihren konkreten Umständen geschildert. Besonders beliebt schienen bei allen KGB-Agenten die Autos ihrer Opfer zu sein. Von der ordinären Reifenstecherei bis zu hollywoodreifen Manipulationen reichte die Energie der Spezialisten. Über diesen Details aber verliert Lourie die politische Geschichte aus den Augen. Selbst Sacharows Rehabilitierung unter Gorbatschow und seine Wahl ins Parlament können nicht verhindern, dass Lourie sich im Familiären verliert. Auch das ist nicht ohne Ironie. Die Zeit des unbekannten Physikers wird in einer gelungenen Verbindung von Individual- und Sozialgeschichte erzählt, Sacharows Zeit als Menschenrechtsaktivist und politischer Funktionsträger hingegen in einer auf die Person konzentrierten Weise. Dem Autor scheint diese Phase besonders nah und wichtig gewesen zu sein. Interesse und Ideologie bekämpfen sich zuweilen auf eigenartige Weise, nicht nur in der Sowjetunion.
Richard Lourie: Sacharow. Eine Biographie. Übersetzt von Norbert Juraschitz. Luchterhand, München 2003, 637 S., 30 EUR
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