In der Freitag-Serie zu den Perspektiven der Linken in Deutschland fragte der Berliner Soziologe Wolfgang Engler vor zwei Wochen danach, wie die vielen kleinen politischen Meinungen der Menschen und die ganz große politische Orientierung zusammenhängen. Im zweiten Teil der Serie versucht der Frankfurter Publizist Mario Scalla Umrisse eines neuen linken Projekts zu skizzieren, das die kritischen kulturellen Ansätze der neunziger Jahre aufnimmt und weiterentwickelt.
Als die neoliberale Politik sich Ende der siebziger Jahre zu formieren begann, waren die Bedingungen für ihre Durchsetzung nicht gerade günstig. Der Kapitalismus hatte gerade sein goldenes Zeitalter durchlaufen; die Bürger des Westens waren als Konsumenten mit der Gesellschaft im Überfluss versöhnt. Die Reallöhne stiegen, sozialer Aufstieg, Bildung und Kultur für alle - es herrschte, verglichen mit den Katastrophen des Jahrhunderts, eine hohe Zufriedenheit im Land. Diesen sozialen Konsens klein zu arbeiten, war ein erhebliches Stück Arbeit - zumal die Etablierung der neoliberalen Herrschaft in den achtziger Jahren - in Großbritannien, in der BRD, in Frankreich - sofort beträchtlichen Protest hervorrief.
Zivile und vergleichsweise sozial gerechte Intermezzi entfalten durchaus ihr Eigenleben. In den Vereinigten Staaten ist es der New Deal, der im Prozess kollektiven Erinnerns verdrängt werden muss und doch nostalgisch bis verklärt und in verkleideter Form in der Massenkultur wiederkehrt; in Deutschland ist es der Sozialstaatskompromiss der Nachkriegszeit. In Willy Brandts Formulierung von einer Mehrheit "links von der CDU", oder aktuell der von einer arithmetischen linken Mehrheit hallt noch der Wunsch nach, es könne wieder so werden wie einst.
Zusätzlich kursieren noch Umfragen, die linke Phantasien beflügeln. Eine breite Mehrheit ist gegen die Rente mit 67, gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr, gegen diese oder jene Reform. Die Erhebungsinstitution Allensbach erklärt sogar, die Hälfte aller Deutschen hätte Sympathie für sozialistische Ideale. Was immer dort für sozialistisch gehalten wurde, immerhin ist dieses Ergebnis ein erfreuliches Zeichen dafür, dass die alten Bannflüche sich abschwächen und nicht alles, was so etikettiert ist, mit Stalin und Gulag assoziiert wird - mehr aber auch nicht.
Aber dieses Bekenntnis ist mehr anti-neoliberal als in irgendeinem Sinn politisch offensiv. Was sollen alle, die das, was ist, nicht weiter ertragen wollen, denn sonst sagen? Eines scheint sicher. Die neoliberale Hegemonie bröckelt, sie ist nicht mehr so stabil wie in den vergangenen zwanzig Jahren. Die parlamentarische Legitimation zu einer Fortsetzung des Immergleichen ist schwieriger zu erlangen. Bereits in der letzten Bundestagswahl entsprach das Wahlvolk nicht der Vorgabe, sich eine schwarz-gelbe Regierung zu geben. Die Formierung einer linken Partei wie die parlamentarische Ausdehnung auf die alten Bundesländer ist Fortsetzung und Verstärkung dieses Prozesses. Aber es wäre kurzschlüssig und voreilig, daraus eine deutliche Wendung des politischen Koordinatensystems nach links abzuleiten. Dieser Linksruck ist entweder Wunsch oder grell an die Wand gepinseltes Schreckensbild.
Eine Periodisierung des Neoliberalismus kann das verdeutlichen. Nach der Formierung und der politischen Etablierung eines neoliberalen Blocks konnte sich das neue Regime nicht dauerhaft auf die Zustimmung einer hinreichenden Zahl verlassen. In einer zweiten Phase wurde es nötig, bislang widerstrebende, oppositionelle soziale Gruppen und Parteien zu integrieren. In der Folge verstärkten sozialdemokratische Regierungen in den neunziger Jahren die marktradikale Politik und stellten sie gleichzeitig auf eine breitere soziale Basis. Die verbleibende Linke war geschwächt, denn ihr fehlten nunmehr parlamentarische Repräsentation und politische Perspektive.
Diese Phase ist abgeschlossen. Ob nun bereits eine post-neoliberale Periode beginnt, deren Umrisse sich noch nicht kenntlich abzeichnen, oder womöglich, da die Hegemonie schwindet, eine Verschärfung der autoritären Staatspolitik bevorsteht, ist nicht entschieden. Die parlamentarische Situation nach der Wahl in Hessen mit ihren fünf Parteien ist so gesehen Ausdruck eines tiefer sitzenden Problems, und es ist durchaus berechtigt, es als einen Erfolg der Linken zu sehen, dies sichtbar gemacht zu haben. Das etablierte System muss sich nicht zwingend von den parlamentarischen Problemen beeindruckt zeigen. Mit autoritären Modellen hatte es bislang wenige Probleme. Das erste Land, das die Chicago-Boys von Hayek und Friedman marktradikal umbauten, war bekanntlich das Chile Pinochets.
Moralische Standards oder demokratische oder verfassungspatriotische Grundorientierungen werden bei den regierenden Politikern jedenfalls derzeit vergebens gesucht. Die Politik dient zunehmend als Karriereleiter in die Konzernetagen. Die marktradikale Ethik des Enrichessez Vous ist in der Politik angekommen und dadurch mit ihren asozialen Folgen auch ein gutes Stück kenntlicher geworden. Hohe Ex-Politiker sind mittlerweile nur noch Lobbyisten und die, denen sie dienen, zählen nicht einmal zu dem vorzeigbaren, eher zum lichtscheuen Segment. Das ist keine Frage individueller Moral, vielmehr ein strukturelles Problem, das seine Ursache in der Ökonomisierung der Gesellschaft hat.
Aber angesichts dieser Schwundformen der Politik ist eine Verklärung früherer Zustände das Letzte, was nötig ist. Vielmehr ist damit die Dringlichkeit verdeutlicht, neu über eine politische Gestaltung und demokratische Verfasstheit dieser Gesellschaft nachzudenken. Dabei ergeben sich durchaus widersprüchliche Szenarien. Auf der einen Seite existiert ein Massiv neoliberaler Herrschaft, von dessen Höhen hinab das eine und einzige Konzept durchgeprügelt wird. Der britische Geograf und Marxist David Harvey und andere haben beschrieben, dass dieses zutreffend als Klassenkampf von oben betrachtet werden kann, als radikale Rekonfiguration der Klassenbeziehungen zugunsten der Geldeliten. Diese offensive Restitution einer Klassenmacht, die durch den Zweiten Weltkrieg, seine keynesianischen Folgen sowie die sozialen Bewegungen der sechziger Jahre erschüttert worden war, ist nach wie vor ausgesprochen wirkungsvoll.
Umfragen, denen zufolge konkrete Vorhaben oder Gesetze von einer Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt werden, sind nicht ohne weiteres politisch verwertbar. Neoliberale Herrschaft bestand stets darin, nicht über die dazugehörige Politik abstimmen zu lassen. Insofern ist der Hoffnung, in für Linke erfreulichen Umfragen bereits eine Wende zu sehen, gründlich zu misstrauen, denn das System konnte von Beginn an herzlich gut mit dieser Ablehnung konkreter Gesetze oder ganzer Regierungen leben. In Wahlen kam dann, natürlich national sehr unterschiedlich, eine Verschiebung zugunsten nationaler, religiöser oder werteorientierter Themen zum Tragen, unterfüttert von Xenophobie oder militärischer Mobilmachung. Diese Verschiebung ist konstitutiv für das System.
Andererseits hat sich diese Herrschaftstechnik abgenutzt. Umfragen und Wahlen beginnen allmählich zu konvergieren. In Deutschland hat der beinahe unverhoffte Aufstieg der Linkspartei diesem Widerstand Ausdruck und eine politische Repräsentanz verschafft. Die aktuelle Orientierungslosigkeit in einem Fünf-Parteien-System ist ein Erfolg der Linken, der in keinem anderen großen europäischen Land erreicht wurde.
Ob eine linke Position hierzulande wirkungsvoll etabliert werden kann, scheint dabei von mehreren Faktoren abzuhängen. Sicherlich ist die reformerische Energie eines rot-grünen Projektes nur bis 1990 wirksam gewesen, und die parlamentarische Konstellation, die sie damals hätte nutzen können, ist diskreditiert, gesellschaftlich nicht mehr herstellbar und in Anbetracht dessen, was unter dem Etikett rot-grün geleistet wurde, auch nicht wünschenswert.
Weitet sich aber die Perspektive, rücken andere Möglichkeiten in den Fokus. Was als Globalisierung verschlagwortet wurde und marktradikalen Sachzwang verspricht, ist alles andere als nur in dieser Version vorstellbar. In den neunziger Jahren war mit vollem Recht von Kulturen der Globalisierung die Rede. Weltweit sanken die Verteidigungsetats. Der Code, der politische und soziale Verhandlungen, Verständigungen und Konflikte regelte, war primär kulturell - und das besaß eine beträchtliche emanzipatorische Potenz. Die Militarisierung - und Festigung neoliberaler Herrschaft - folgte erst nach der Jahrtausendwende. Wie immer ein zukünftiges linkes Projekt im Ganzen und im Detail beschaffen sein wird - es wird an die neunziger Jahre anknüpfen und sowohl weltbürgerlicher als auch kultureller sein als die Vorgänger.
Viel war in den vergangenen Jahren die Rede davon, dass eine wichtige Antriebskraft des postmodernen Kapitalismus die Integration des primär kulturellen Protestes der 68er und neuen sozialen Bewegungen war. Der Kapitalismus durchlief eine kulturalistische Wende. Heute gibt es an den Universitäten zahlreiche Studiengänge für Kulturwirte, Kulturwirtschafter und Kulturmanager aller Art. Von der radikalen und kritischen Positionierung linker Kulturtheorie ist in diesen Studiengängen nicht viel übrig geblieben. Gemacht wird, was die Konzerne brauchen, und das ist das content managment, das für die globale Produktion und Vermarktung erforderlich ist. Was einstmals kritisch möglich war, ist weitgehend, bis auf ein paar Relikte und Exoten an den Universitäten, abgeräumt worden - und damit ebenfalls ein theoretisch anspruchsvolles Niveau. Ob es so schlimm ist wie der britische Kulturtheoretiker Terry Eagleton meint, der von einem Zustand "After Theory" spricht, in der "an interest in French philosophy has given way to a fascination with French kissing", sei dahin gestellt. Kulturtheorie jedenfalls war einst eine Stärke der Linken - wohlgemerkt in der Spitze, weniger in der Breite. Kritische Theorie und Cultural Studies koexistierten mit einer häufig bornierten Kulturpolitik in den Parteien und Verbänden.
Nützlich könnte jetzt eine Quadratur des Kreises sein. Dazu zählt eine avancierte Theoriearbeit, in der die Integrationsleistung des Kapitalismus reflektiert und das verdrängte emanzipatorische Potential wieder re-formuliert wird. Dazu zählt ebenso die Anerkennung und Nutzung alltagskultureller Veränderungen. Was unter den Stichwörtern Individualisierung, individuelle Freiheit, Selbstverantwortung verhandelt und praktiziert wird, ist eben mehr als nur die ordinäre Wendung einstmals kritischer Forderungen ins Affirmative.
Medienkompetenz etwa muss heute niemand mehr fordern. Sie ist einfach vorhanden, ebenso wie die Fähigkeit, sich versiert und flexibel in unterschiedlichen kulturellen oder nationalen Kontexten bewegen zu können. Für die alltäglichen, politischen Positionskämpfe sind diese Fähigkeiten essentiell, und sie sind ebenfalls geeignet, große Ziele auf eingängige Formulierungen, Schlagworte, plausible Konzepte zu bringen und zu verbreiten. Produktive Widersprüche entstehen, wenn der Primärcode Emanzipation lautet.
Mario Scalla, geboren 1961, lebt als freier Publizist für Hörfunk und Print in Frankfurt am Main.
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