Der Börsenboom ist passé, und nur wenige sind wirklich betrübt über diesen Umstand. Aber auch wenn die Scherben zusammengekehrt werden müssen, bleibt doch die Anerkennung, vor allem über Wall Street, eine so außerordentliche Aufregung verbreitet zu haben. Man kann über ihn sagen, was man will, der Kapitalismus ist immer für Abenteuer und Überraschungen gut, und so ist es auch kein Wunder, wenn Bücher über das, was sich selbstherrlich New Economy nannte, Hochkonjunktur haben. Welch schöne Kolportagemotive bot nicht bereits die große Depression von 1929? Aber ist dieser Crash mit noch höheren Summen, der Totalpleite am Neuen Markt, seiner internationalen Dimension nicht noch spektakulärer? Fensterstürze vom Parkett direkt aufs Plaster gab es keine. Das Personal empfindet sich nicht mehr als tragisch, sondern beschäftigt brav den Staatsanwalt.
Unter den Kritikern des Börsengeschehens sind heute zwei Standpunkte anzutreffen. Die einen sind angeödet von der medial raumgreifenden wie penetranten Berichterstattung, sagen wir auf n.tv oder ARD, deren satirische Komponente sich schnell abnutzt. Andere reagieren doch immerhin interessiert und möchten wissen, wie das funktioniert, was die angeschlossenen Kommentatoren weder erklären können noch wollen. Vor allem jetzt, wo es vorbei ist, mehren sich die Erklärungsversuche. Bilanzfälschungen, Hintergehung der Aufsichtsbehörden, Bandenbildung, Gier und Bereicherung - wie viel Stoff wird hier freigiebig offeriert, um packende Geschichten zu erzählen. Reinhard Blomert knöpft sich die "Intermediäre" vor, also Analysten, Buchprüfer, Berater, Investmentbanker und Anwälte, die während des Booms eine entscheidende Rolle spielten, Gesetze umgingen, enorme Honorare einstrichen und sich zu einer verschworenen Clique mauserten, deren Beziehungen untereinander heute mühsam entwirrt werden müssen. Sie waren maßgeblich an den Übernahmeschlachten der neunziger Jahre beteiligt und sorgten vor allem dafür, dass das Gesetz des Shareholder-Value sich durchsetzte. Sie mehrten den Einfluss des Finanzkapitals auf die Unternehmen und setzten das Primat der Börsenkurse und kurzfristigen Gewinnerwartungen durch. Eine Geschichte der New Economy kann ohne diese "Intermediäre" nicht geschrieben werden. Die Rolle etwa der einflussreichen Unternehmensprüfer, die Blomert akribisch recherchiert hat, belegt, inwieweit die Trennung von legalen und illegalen Finanzoperationen hinfällig geworden ist.
Johann-Günther König untersucht den Fluss der weltweiten Geldströme und betitelt sein Buch treffend Finanzkriminalität. Er beschreibt, welche Ausmaße Geldwäsche und Steuervermeidung angenommen haben und umfassend Korruption als Folgeerscheinung auftritt. Wie Blomert erzählt auch König die Geschichte des renommierten Buchprüfungsunternehmens Arthur Anderson, das sich zum Spezialisten in Sachen betrügerischer Bilanzmanipulation entwickelte, sowie des Falls Enron, des texanischen Ölunternehmens, das in den Derivathandel einstieg, weil hier die ganz große Kohle lockte. Immer wieder ist es überraschend, in den Abgrund aus Habgier, Betrug und krimineller Energie zu blicken. Doch wie soll nun die Geschichte von Boom und Spekulationsblase erzählt werden? Als schlichte Gangsterstory oder als ein Roman darüber, wie eine Finanzclique für eine kurze Zeit Wirtschaft und Gesellschaft übernahm?
Reinhard Blomert wünscht sich den guten alten rheinischen Kapitalismus zurück, den "normalen", freundlichen Kapitalismus, von dem die Börsenhysterie nur eine unerfreuliche Abweichung gewesen sei. Von wegen You can´t go home again (Thomas Wolfe), gegenwärtig steht die Nostalgie wieder hoch im Kurs. Gegen nostalgische Anwandlungen aber hilft zuerst die Geschichtswissenschaft. Mit ihrer Hilfe ist es nicht schwer herauszufinden, dass Hausse und Baisse regelmäßig wiederkehren, und es bereits in der Vergangenheit Phasen gab, in denen der Einfluss des Finanzkapitals stieg (sogar regelmäßig, wie der amerikanische Soziologe Giovanni Arrighi aus Daltimore als These aufgestellt hat, jeweils zu Ende eines Empires).
Erstaunlich sind allein der Schwund historischen Bewusstseins und die immer wiederkehrende Sehnsucht, der Kapitalismus möge sich doch endlich normal und vernünftig verhalten, eine Hoffnung, die das System selbst hervorbringt und seine Analyse beträchtlich erschwert. In den USA ist dieses Gefühl weniger verbreitet, und so ist es kein Zufall, dass dort die grundlegenden Untersuchungen herausgekommen sind. Doug Henwood, Herausgeber der Zeitschrift Left Business Observer, hat ein Buch über das Zentrum der Spekulationsblase, über Wall Street geschrieben. Henwood war dort selbst aktiv und erhielt erste Einblicke und vor allem eine Grundschulung, wie das komplizierte Finanzsystem funktioniert. Akribisch erklärt er, wie der Derivathandel funktioniert, was Nasdaq und NYSE sind, und wer berechtigt ist, auf dem Parkett Handel zu treiben. Gängige Vorurteile über die Funktion der Börsen, also etwa die Meinung, sie dienten dem Zweck, produzierenden Unternehmen Geld zum Investieren zur Verfügung zu stellen, werden widerlegt: "Eine Sache, die die Finanzmärkte nur zu gut verstehen, ist, wie Reichtum konzentriert werden kann." Wie dieses genau geschieht, ist nun die bewegende Frage. In erster Linie, so Henwood, ist hier das Kreditsystem zu nennen: "Öffentliche Verschuldung ist ein sehr wirksamer Weg um zu gewährleisten, dass der Staat sicher in den Händen des Kapitals bleibt. Je höher die Schulden der Regierung sind, desto mehr muss er seinen Bankern zu Diensten sein." Die öffentlichen Schulden, die Reagan in den achtziger Jahren machen ließ, waren ein wichtiger Schritt, den Einfluss des Finanzkapitals auf die Politik zu sichern und den Monetarismus durchzusetzen. Die Inflation sollte niedrig bleiben, Arbeitslosigkeit erhöht und Löhne gesenkt und damit erfolgreich die Gewerkschaften bekämpft werden. Neu ist die Idee nicht, Rezessionen waren öfter schon ein willkommenes Mittel, um die Gegenkräfte zu schwächen. Henwood beschreibt trocken und zuweilen humorvoll, wie Wall Street seit den achtziger Jahren eine gigantische Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums bewerkstelligt hat. Er votiert dafür, die Macht des Finanzkapitals wieder, wie zu Anfang des 20. Jahrhunderts und nach dem Zweiten Weltkrieg, zu begrenzen, auch, wenn er seine Bewunderung zollen muss für die Leistungen der Investmentbanker, die ein System, "erhaben in seiner Komplexität und Macht", installiert haben.
Doug Henwoods Buch wäre zu wünschen, dass es übersetzt wird, denn es ist mit seiner theoretisch an Marx orientierten, detaillierten Analyse ein Standardwerk. Robert Brenner wurde dieses Glück zuteil. Im Jahr 2000 veröffentlichte er in der New Left Review einen langen Essay: The Boom and the Bubble über die Rolle der USA in der Weltwirtschaft. Der Beitrag sowie das zwei Jahre später folgende Buch werden im angloamerikanischen Raum ausgiebig diskutiert.
Brenner teilt in klassisch politisch-ökonomischer Weise die Zeit nach 1945 ein: Der Phase des Aufschwungs bis 1965 folgte eine Krise, die von 1973-93 durch eine lange Phase der Stagnation abgelöst wurde. Den Grund hierfür sieht er in erster Linie in einer weltweiten Überproduktion des verarbeitenden Gewerbes (Print-Medien, Nahrungsmittelverarbeitung, Chemie). Auch die Spekulationsblase der neunziger Jahre konnte keine wirksame Abhilfe schaffen, im Gegenteil wurden weitere Überkapazitäten im Hochtechnologiesektor angehäuft. Die New Economy mit ihrem "Börsen-Keynesianismus" brachte eben kein Wachstum der Profitrate. Die High-Tech-Firmen sorgten zwar für astronomische Börsenkurse, fuhren aber buchstäblich keine Gewinne ein, so dass sich an der lang anhalten Stagnation letztlich nichts änderte. Die Verluste durch den Crash haben die Gewinne der Jahre 1995-2000 komplett aufgefressen. Ein US-Ökonom wird mit den Worten zitiert: "Dies bedeutet, dass, rückblickend betrachtet, die späten neunziger Jahre gewissermaßen nie existierten."
Brenner konstatiert eine systemische Krise des Kapitalismus, die durch die Politik, die weiter im Sinne der Finanzmärkte agiert, zusätzlich verschärft wird. In der April-Ausgabe der New Left Review hat Giovanni Arrighi in einem ausführlichen Beitrag zwar eingewandt, dass am Ende des britischen Empire bereits einmal Crash und Rezession zu beobachten waren und doch die Prosperiät der Belle Epoque folgte. Doch gleich, ob mit Brenner über die Schwere und das nicht absehbare Ende der systemischen Krise gemutmaßt oder doch eine Tür zum wirtschaftlichen Aufschwung offen gelassen wird, Boom ist ein herausragendes Werk der Politischen Ökonomie, an dem sich auch die Kritiker orientieren werden.
Was die sozialen Konsequenzen betrifft, die aus den Veränderungen der vergangenen Jahre resultieren, beurteilt Brenner sie ähnlich wie Henwood: "Dies ist eine der spektakulärsten Enteignungen in der Geschichte des Kapitalismus." Henwood hat die naheliegende Lösung parat: "Schröpft die fetten Jungs", und er hat auch gleich ausgerechnet, wie eine Besteuerung der Reichen und Superreichen den westlichen Gesellschaften wieder aufhelfen könnte. Aber bekanntlich ist der Kapitalismus das System, in dem das Einfache schwer zu machen ist.
Brenners Buch hat auch die Frage entschieden, wie die Geschichte von Boom, Bubble und Bust am Besten erzählt werden kann. Die an Marx orientierte Politische Ökonomie hat keinerlei Probleme, das kolportagehafte Treiben des Finanzkapitals zu integrieren, wohingegen bei den Freunden des rheinischen Kapitalismus die Empörung groß, die Erklärungskraft aber gering ist.
Reinhard Blomert: Die Habgierigen. Firmenpiraten, Börsenmanipulation: Kapitalismus außer Kontrolle. Kunstmann, München 2003, 198 S., 17,90 EUR
Robert Brenner: Boom Bubble. Die USA in der Weltwirtschaft, VSA, Hamburg 2003, 345 S., 24,80 EUR
Doug Henwood: Wall Street. How it works and for whom. Verso, New York 1998,
372 S., 22,74 EUR
Johann-Günther König, Finanzkriminalität. Geldwäsche, Insidergeschäfte, Spekulation, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 197 S., 2003, 10 EUR
New Left Review, Mar/Apr 2003, 10 EUR
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