Vermutlich gibt es so viele Bistros wie Bücher über Paris. Besucher dürften sich einig sein, dass es von beiden nicht genug geben kann. Nur ein Banause würde widersprechen, denn wenn der Name der Metropole genannt wird, fehlt kaum einmal der Hinweis, dass es sich hier um einen Mythos handelt, und da das nüchterne Bürgertum von diesen nur wenige hervorgebracht hat, ist Wertschätzung angesagt.
Karl Heinz Götze nun, Germanist aus Frankfurt und Aix-en-Provence, will aber nicht weiter am Mythos stricken, ebenso wenig will er ein Standardwerk verfassen. Das hat vor wenigen Jahren erst Karlheinz Stierle mit seinem Buch Der Mythos von Paris geschrieben. Götze beschreibt in acht Kapiteln elf von zwanzig Pariser Arrondissements, darunter bekannte wie Montmartre und das Marais, dazu weitgehend unbekannte wie "La Goutte d´Or". Letzteres dürfte in jedem Reiseführer fehlen, schließlich mangelt es dort nicht nur an baulichen Monumenten aus einer gloriosen Geschichte, sondern auch jenes begehrten örtlichen Surplus. In diesem sozial brisanten und - wie der Autor versichert - durchaus gefährlichen Bezirk, leben vor allem afrikanische Emigranten, zwischen Billigkaufhäusern, kleinen Läden und Plakaten, die Besucher auf unbekannte afrikanische oder arabisch-amerikanische Musiker hinweisen und allenfalls ahnen lassen, wie die Vermischung der Kulturen hier aussehen könnte.
Karl Heinz Götze verbindet überzeugend eigene Erfahrungen, historische Exkurse und soziologische Erklärungen. Mit seinem Buch lassen sich nicht nur Entdeckungen jenseits touristischer Trampelpfade machen. Auch die Kapitel über Allbekanntes sind interessant, informativ und gut zu lesen. Der Autor spart nicht mit Geschmacksurteilen - den Place des Vosges mag er - wer mag ihm da nicht folgen -, er forscht dem Charme des Marais hinter den Nobelgeschäften nach, schildert genau die Stadterneuerung der vergangenen Jahre und gewinnt selbst den aktuellen konsumistischen Veränderungen auf den Champs Elysées etwas ab. Das Kapitel über die Rive gauche steht, da kann einer machen, was er will, im Zentrum eines Buches, das einen intellektuellen Anspruch hat. Götze verfährt bei seiner "Besichtigung eines Mythos" souverän, indem er vorausschickt, dass man einen Mythos nicht besichtigen kann, und danach Historisches über die Sorbonne referiert. Sartre und Althusser treten auf, doch wer hofft, jetzt folge ein Defileé der Stars, geschmückt mit Anekdoten, wie sie so zahlreich nirgendwo anders kolportiert werden, wird enttäuscht. Stattdessen fügt sich eine trockene Beschreibung des französischen Ausbildungssystems an, das der Pariser Esprit durchlaufen muss.
Immer Paris ist auch von Paris-Kennern mit Gewinn zu lesen, ebenso wie es für Erstbesucher reiseführermäßig zum Flanieren auf den mehr oder weniger berühmten Boulevards benutzt werden kann. Wohltuend ist der Verzicht auf nationalkulturelle Vergleiche. Götze schreibt nicht, wie so viele Reisende vor ihm, mit Deutschland im Kopf über ein Gegenbild. Gerade weil er keine Negativfolie mit sich herumträgt, sind seine Beschreibungen instruktiv und münden eben nicht in Gedankenpoesie und Anekdote - auch wenn letzteres immer zu vermeiden wohl über jedermenschs Kräfte ginge. Die Geschichte von Ernest Hemingway jedenfalls, der mit dem amerikanischen Militär in Paris einrückte, zuerst die deutschen Scharfschützen in der näheren Umgebung des wohlbekannten Buchladens von Sylvia Beach entfernen ließ, um dann zu erklären, als nächstes werde er den Weinkeller des Ritz befreien, ist zu schön, um nicht erzählt zu werden. Zumal der Autor sich in seinen Büchern und Artikeln über Frankreich als Kenner der französischen Gastronomie erwiesen hat.
Das französische Nationalgut Wein ist geschichtenträchtig, und das liegt nicht nur an prominenten Intellektuellen. Als die Nazis Paris besetzten, hatten die lokalen Führer nichts Eiligeres zu tun, als sich in die bekannten Nobelrestaurants zu begeben und dort das Beste und Feinste Frankreichs zu verzehren. Klar, die Nazis als Parvenüs und Raffzähne, Kleinganoven, die ihre Geschäfte nun im großen Stil und ungestört betreiben konnten, davon erzählt schon die Racket-Theorie der Frankfurter Schule. Aber wussten sie, was wirklich gut ist, konnten sie tatsächlich einen Romanée-Conti von einem Bordeaux supérieur unterscheiden? Nun, sie hatten ihre Leute, wie Don und Petie Kladstrup in ihrem rege diskutierten Buch Wein Bordeaux, Champagner und die Schlacht um Frankreichs größten Reichtum berichten. Kurzerhand beförderten die Nazis bekannte deutsche Weinhändler zu "Weinführern", die kenntnisreich die Beschaffungen übernahmen und dabei versuchten, ihre ehemaligen Handelspartner in den großen Chateaus nicht zu arg auszuplündern.
Das Buch über einen französischen Kulturkampf der besonderen Art beginnt mit Hitlers Berghof in der Nähe von Berchtesgaden. Im Mai 1945 fanden alliierte Truppen dort etwa eine halbe Million Flaschen vom Edelsten und Teuersten, was auf französischen Weinbergen gewachsen ist - Hitler trank keinen Wein, allenfalls mal ein Bierchen. Nach Erscheinen des Buches 2001 in den USA fuhren Weinfreunde und Historiker zum Berghof und bezweifelten, dass eine solche Menge an Flaschen dort untergebracht gewesen sein könnte. Dieses und andere Details sollten die schlichte Dramaturgie des Buches, hier die habgierigen Boches, dort die widerständlerischen Franzosen, ins Wanken bringen. Tatsächlich konnten viele französische Chateaus anfangs ganz gut mit der Besatzung leben. Der Handel florierte, einige schlechtere Jahrgänge wurden an den Mann gebracht, die Preise blieben im Rahmen des Handelsüblichen. Mit dem Fortgang des Krieges aber änderte sich das und die Franzosen mussten sehen, dass sie ihre guten Jahrgänge sicher verwahrten. Viele Geschichten des Buches wurden bestätigt, darunter jene, wie in den großen und kleinen Weinkellern Abschnitte zugemauert wurden. In einer der rührendsten Episoden kommt ein Nachfahre einer Wein-Dynastie zu Wort, der sich noch daran erinnern kann, wie er, damals ein kleiner Junge, nach einer solchen Schnellmaueraktion beauftragt wurde, im Keller Spinnen zu suchen, sie auf die neue Wand zu setzen und ihr damit den Schein des Ältlichen zu geben. Natürlich hatten die Nazis schnell heraus, dass Stein und Mörtel verschärft zum Einsatz kamen. Sie hatten nur keine Zeit, jede Cave akribisch zu untersuchen, und in den kilometerlangen unterirdischen Gängen, etwa in der Champagne, auch nicht immer den Mut. Es war bekannt, dass die Résistance dort Waffenlager unterhielt.
Von diesen Geschichten aus dem uns wohlbekannten gallischen Dorf finden sich hier viele, manche sind fast zu schön, um wahr zu sein. John Frankenheimer hatte 1964 in seinem Film The train eine andere aus dem französischen Widerstand erzählt. Dort wird ein Zug an der Weiterfahrt gehindert, der eine Ladung berühmter Gemälde außer Landes schaffen soll, ein wunderbar heroischer Film, der mit diesem Buch, etwas weniger pathetisch, aber nicht minder spannend, seine Fortsetzung gefunden hat. Noch immer sind die Nazis ein dankbares Sujet, um eine Horde fieser Raffkes vorzuführen. Die Bücher über Parvenüs und Profiteure, wie ein anderer Titel über nazistische Funktionäre lautet, mehren sich. Könnte nicht ein Grund für dies Interesse auch darin liegen, dass Gier wieder eine der hervorstechendsten Eigenschaften der Gegenwart geworden ist? Adornos Racket-Theorie wird wieder ausgegraben, die Ausplünderungen und Bereicherungen in der Gegenwart kommen nach dem Absturz der New Economy allmählich ans Licht. Noch sind sie allerdings nicht so schön, mit so viel Distanz zu erzählen. Und das Pathos des Widerstands, das Büchern wie diesen einen allgemein konsensfähigen, melodramatischen Touch verleiht, lässt auch noch auf sich warten. Mit Maurerkelle und Mörtel würden die renitenten Gallier von heute auch nicht weit kommen.
Karl Heinz Götze, Immer Paris. Siedler Verlag, Berlin 2002, 254 S., 19,90 EUR
Don und Petie Kladstrup, Wein Bordeaux, Champagner und die Schlacht um Frankreichs größten Reichtum. Klett-Cotta, Stuttgart 2002, 380 S., 24 EUR
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