Immer noch der alte Sozi

Medienzombie Ex-SPD-Chef Oskar Lafontaine wirkt mit den Parolen seines neuen Buches "Politik für alle" seltsam aus der Zeit gefallen

Nun steht er also wieder hinter Transparenten und lächelt. Das war so in den Achtzigern und nach seiner Demission als Minister und Parteivorsitzender macht Oskar Lafontaine das wieder. Nur die Message, Politik für alle heisst sein neues Buch, ist braver geworden und ihr Absender ist kein innerparteilicher Rebell mehr, sondern ein Politrentner.

Die Zeit dazwischen fällt etwas aus dem Rahmen. Da war er nicht dagegen, sondern versuchte, in der großen Politik mitzuspielen. Es lag nicht an ihm, dass dieses Vorhaben misslang. Jürgen Habermas schrieb in einem hellsichtigen politischen Moment bereits vor dem ersten Sieg der Koalition aus SPD und Grünen, dass das rot-grüne Projekt mit der Niederlage von Lafontaine bei der Bundestagswahl 1990 beendet war. Damals hätte einiges von dem, was auf den Straßen, in den Bürgerinitiativen und Bewegungen, an ökologischen oder demokratischen Ideen entwickelt worden war, in offizielle Politik konvertiert werden können. Nicht, dass Lafontaine das alles vollbracht hätte, aber mit ihm als Kanzler wäre das eine oder andere möglich gewesen.

Im Vergleich zu 1990 ist die Krise der Demokratie viel tief greifender geworden, und es ist keine Massenbewegung vorhanden, die demokratische Energien ins System einspeisen könnte. Einer wie Lafontaine wirkt da auf seltsame Weise ungleichzeitig. Er ist fallweise ein ehrenwerter Aussteiger, ein nerviger Besserwisser, ein etwas erträglicherer Medienzombie als die anderen oder sogar ein Adressat für linkssozialdemokratische Hoffnungen, so etwas wie eine neue USPD aus der Taufe zu heben. Auch sein neues Buch ist irgendwie zwischen die Regale gefallen. Es ist nicht so peinlich wie die Propagandabücher der aktiven Politiker, enthält aber auch keine Enthüllungen. Heißt es nicht immer, alte Männer sind gefährlich, sie haben nichts mehr zu verlieren und plaudern hin und wieder etwas von den Machtspielen von ehedem aus? Für sein erstes Buch galt das noch, aber mittlerweile kann darauf nicht mehr gehofft werden.

Lafontaine nennt sein Buch eine Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft. In den letzten Jahren hatte er seine Rolle als Geißel der neoliberalen Sozis gefunden und selbige mit seinen öffentlichen Auftritten gepeinigt. Aber diesem Buch ist deutlich anzumerken, dass dieser Effekt sich allmählich verbraucht. Es ist zwar weiterhin von den "größten Pfeifen", die die Parolen der Neoliberalen nachplappern, die Rede; in seiner Partei sieht Lafontaine "arrivierte, gesättigte Spießer" am Werk und das Gerede von den hohen Lohnnebenkosten hält er für einen einzigen Betrug.

Theoretisch tiefschürfend ist er nicht, seine Argumente können als eingängige Kompilation dessen, was in seinem politischen Spektrum gedacht wird, gelesen werden. Zu erfahren ist einiges über den Zustand eines SPD´lers der alten Schule. Er ist humanistisch gebildet, kennt die Probleme von Taxifahrern und Hartz-IV-Opfern und trauert dem sozialen Konsens der alten Republik nach. Ludwig Erhards Parole "Wohlstand für alle" wird unbeschadet ihrer ideologischen Funktion in den Fünfzigern als Leitbild erkoren und der Autor gedenkt gerne der Zeit, als nach 1945 alle anpackten. Auch Anti-Amerikanismus ist im Angebot. Die USA seien mehr eine Plutokratie als eine Demokratie und Anglizismen hartnäckig zu bekämpfen, denn sie förderten eine geistige Unterwerfung unter die Großmacht USA.

Hinter jedem Strauch lauert unser alter Kumpan, der Konsens. Einst stand er in hohen Ehren, nun wird er mit Füßen getreten, und zwar vor allem von habgierigen Managern und neoliberalen Sozis. Dem Konsens folgt auf dem Fuße die Halbwahrheit. Ehedem galt es als gewiss, dass eine Gesellschaft, die den zivilen Konflikt in Anerkennung unterschiedlicher Interessen pflegt, eine gute, demokratische genannt werden kann, doch nach der jahrelangen Zermürbung durch den Klassenkampf von oben ist diese Einsicht vergessen und einer Sehnsucht nach der guten, alten Einigkeit gewichen.

Sicherlich ist ein Konsens darüber erstrebenswert, dass eine unmäßige Bereicherung auf Kosten der Mittel- und Unterklassen verhindert werden und eine entwürdigende Behandlung der Armen oder Arbeitslosen unterbleiben sollten. Letztlich aber wird mit der sozialen Gerechtigkeit der sozialdemokratische Erfolgsschlager der siebziger Jahre zum Fetisch gemacht. Debatten um das Verhältnis von Gerechtigkeit und Gleichheit gehören der Vergangenheit an, und vor allem das auf Lohnarbeit und Arbeitsdisziplin basierende Gerechtigkeitskonzept ist historisch völlig überholt und wirkt als reformerische oder gar linke Gesellschaftskritik anachronistisch.

Regelrecht naiv wird es, wenn dieser Autor davon schreibt, wie es besser werden kann. Betriebsversammlungen, Mitgliederentscheide und andere plebiszitäre Veranstaltungen sollen seiner Ansicht nach die gesellschaftlichen Missstände beenden. Aber noch niemals ist einer Krise der Demokratie durch Plebiszite abgeholfen worden. Die Forderung ist sicherlich ein Reflex auf die Abgehobenheit und Arroganz der Mächtigen in Wirtschaft und Politik. Es braucht jedoch einen immensen Konsensglauben, sich diese Versammlungen und Entscheide in Betrieben und Parteien vorzustellen.

Aus der Verlegenheit geboren ist auch ein anderes Schwerpunktthema des Buches. In seinem letzten Buch Die Wut wächst bereits kurz angeschnitten, wird die Sprachkritik zum wichtigen Anliegen dieses Autors. Er nimmt zutreffend den neoliberalen Neusprech wie "Umbau des Sozialstaates", "Agenda 2010" oder "Lohnnebenkosten" auseinander. Dann wieder benutzt er Worte wie "arbeitsscheu" affirmativ, hierin ganz der alte Sozi, dem sich alles um die Lohnarbeit dreht. So mancher Lapsus und eine zuweilen arg aufdringliche Parolenprosa können kritisiert werden, um letztlich zu dem Ergebnis zu kommen, dass Berufspolitiker zu vielem, aber nicht zu Linguisten taugen.

Es gibt Bücher, die wirft man gerne über feindlichem Gebiet ab, um in den Linien des Gegners Unruhe und Verwirrung zu stiften. Mit Lafontaines ersten beiden Veröffentlichungen nach seiner Demission hätte man so verfahren können. Mit diesem Buch geht das nicht mehr, der Effekt lohnt den Aufwand nicht. Lafontaine lebt davon, dass er sich von dem, was sich auf der großen politischen Bühne sonst noch tummelt, wohltuend unterscheidet. Aber er sucht nach einer neuen Rolle, denn als Plagegeist von Rotgrün sind seine Tage gezählt. Mit diesem Buch jedenfalls wird er Schröder, Fischer Co nur treffen, wenn er es nach ihnen wirft. Und um als linke Kritik auf der Höhe der Zeit zu sein, müsste sein Bestand an reformerischen Ideen einer gründlichen Revision unterworfen werden.

Oskar Lafontaine: Politik für alle. Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft. Econ, Düsseldorf 2005, 303 S., 19,95 EUR

Oskar Lafontaine: Die Wut wächst. Politik braucht Prinzipien. Düsseldorf, Econ 2002, 271 S., 22 E; auch als Ullstein-Taschenbuch 2003, 7,95 EUR


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