Die Geschichtsphilosophie ist eine gute Sache, und wenn sie auch nur zum Beweis dient, dass sie nicht weiterführt. Robert Menasse hat drei Romane und einen Essay darauf verwandt, sie zu demontieren, und er hat dabei jede Menge Spaß verbreitet. In seiner Trilogie der Entgeisterung strandet der Weltgeist in der Bar Esperanza in Sao Paulo. Er hat seine Hegelsche Würde verloren, von Alkohol und Kokain umnebelt existiert er so vor sich hin und schafft es nicht einmal mehr, seine Monologe zu verschriften.
Soweit bewegte sich Menasse im Rahmen des Posthistoire. Viele Intellektuelle beerdigten die Fortschrittsideologie und glaubten entweder wieder an die beste aller Welten oder malten die Apokalypse an die Wand. Menasse hat an dieser Übung teilgenommen, allerdings mit einem eigenen Programm. Bei ihm ist Hegel kein Codewort für Marx, und das düstere Ambiente wird von literarischen Formen wie Farce und Karikatur konterkariert. In der Trilogie wimmelte es von Engeln der Geschichte, Lukács ist der Name für einen Papagei, und die Helden des historischen Denkens befinden sich in einem wahrhaft trostlosen Zustand.
Der neue Roman Die Vertreibung aus der Hölle erweckt nun den Eindruck, der Autor habe die Geschichtsphilosophie verabschiedet, um sich desto ungestörter dem zuwenden zu können, was in den Trümmern dieser Philosophie herumliegt, nämlich die Geschichte. Bereits 1995, zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse, hatte Menasse kurz das Leben des Rabbis Manasseh erzählt, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts aus dem von der Inquisition beherrschten Lissabon ins tolerantere Amsterdam flieht. In den letzten Jahren erklärte Menasse immer wieder in Artikeln und Interviews, dass er keinen historischen Roman zu schreiben gedenke und grenzte sich von einem Genre ab, das allzu modisch geworden war und in dem die Geschichte als Selbstbedienungsladen fungierte, als Simulakrum und reiner Tauschwert.
Die Vertreibung aus der Hölle ist kein historischer Roman. Am Anfang tritt der Junge Manoel Soeira auf, dessen Vater von der Inquisition gefoltert wird. Der Familie gelingt die Flucht, Manoel wird zu Samuel ben Israel und später als Rabbi Manasseh einer der Lehrer Baruch de Spinozas. Auf einer zweiten Zeitebene wird die Geschichte von Viktor Abravanel erzählt, der auf einem Klassentreffen, 25 Jahre nach dem Schulbesuch, einen Skandal auslöst, indem er die NSDAP-Mitgliedsnummern der Lehrer bekannt gibt. Beide Geschichten werden mehrfach miteinander verbunden. Häufig weiß der Leser nicht, ob er sich im 17. oder 20. Jahrhundert befindet und so ist ihm aufgegeben, die Ähnlichkeiten und Differenzen zu entziffern. Aber dieser erzähltechnische Kniff verlagert nicht die Aufgabe, Beziehungen herzustellen, in den Kopf des Lesers, sondern er führt auf die inhaltliche Kongruenz der Geschichten, ebenso wie zeitübergreifende allegorische Bilder - etwa jenes einer Bande Jugendlicher, die im Sprechgesang, ohne Gürtel und Schnürsenkel durch die frühbürgerlichen Straßen Amsterdams rappen. Am Ende all dieser mehr oder weniger zarten Hinweise stehen die Spiegeleffekte, wie sie Menasse bereits in der Trilogie der Entgeisterung mit Finesse und Hintersinn hervorbrachte.
Der junge Manoel muss erleben, wie sein Vater von der katholischen Inquisition gefoltert wird. Als Rabbi Manasseh sieht er mit an, wie nun innerhalb der jüdischen Gemeinde diese Praktiken der Verfolgung modifiziert und reproduziert werden, indem ein Mitglied verfolgt und gedemütigt wird; zum Entsetzen seines Schülers Spinoza schweigt Manasseh dazu und beschränkt sich auf das Abfassen religionskritischer Traktate. Viktor Abravanel schließt sich in den späten Sechzigern einer linken Studentengruppe an, wird aber aufgrund falscher Anschuldigungen exkommuniziert und bekommt somit Anschauungsunterricht, um besser die Moskauer Prozesse verstehen zu können.
Aus diesen Ähnlichkeiten historischer Konstellationen folgt nun nicht, dass in der Finsternis der Repression alle Katzen grau und alle Opfer gleich sind. Die Erzählung changiert zwar zwischen den historischen Epochen, aber die Differenz bleibt bestehen. Letztlich entsteht eine Form von Gleichzeitigkeit, aber weniger die zweier Epochen, sondern der Charaktere und Haltungen, denen eine allegorische Bedeutung zukommt. "Was einmal wirklich war, bleibt ewig möglich", lautet der Lehrsatz des Rabbi Manasseh, ein Satz, den Menasse kurioserweise mit identischem Wortlaut bei Theodor Adorno wiederfand. Unterdrückung und Ausgrenzung kehren unter veränderten Umständen wieder, aber es gibt immer eine Mehrzahl möglichen Verhaltens in ihnen. Rabbi Manasseh schreibt ketzerisch und verhält sich opportunistisch: Ist das nun keunersche List oder verachtenswerte Feigheit? Aus der Sicht des Schülers Spinoza ist es eindeutig letzteres. Der ausgebildete Historiker Viktor Abravanel studiert Leben und Lehre des Rabbis; als Konsequenz des Studiums provoziert er auf dem Klassentreffen den Skandal. Das ist eine einsame politische Tat. Sie verschafft ihm subjektiv Befriedigung, führt aber nicht über den kleinen Kreis ehemaliger Schüler und Lehrer hinaus.
Menasse kommt es nicht darauf an, Haltungen moralisch zu bewerten. Er setzt das Spiel mit Bedeutungen und ihren Verschiebungen in Gang, das ohne feste Kodifizierungen verläuft. Diese Art zu schreiben ist nicht neu. Nachdem die von Hegel und Marx geschriebene Matrix nicht ohne weiteres mehr funktionierte, war das Spiel mit Bedeutungen eine Möglichkeit, sich ohne Primärcode in der Geschichte zu bewegen. Die Folge war, dass viele Autoren sich darauf verließen, irgendeine schlüssige Bedeutung werde sich wohl einstellen, egal wie das historische Material arrangiert wird. In den Romanen diverser Pseudo-Ecos verschwand vor lauter Bedeutungen die Geschichte.
Menasse beschreibt die Schauplätze Lissabon und Amsterdam sehr versiert und anschaulich, aber das verkaufsfördernde Etikett "barockes Erzählen" paßt hier nicht. Welcher Sinn könnte darin liegen, die Zeit des Rabbis und Viktors miteinander zu verknüpfen und auf einen gegenwärtigen Nutzen zu spekulieren? Womöglich ist Robert Menasse ja ein alter Hegelianer geblieben. Hauptfigur wäre dann nicht Rabbi Manasseh und auch nicht Viktor, sondern der im Roman nur am Rand auftretende Spinoza. Viel erfährt der Leser nicht über ihn, nur, dass ihn das taktische Lavieren und der Opportunismus seines Lehrers Manasseh abstößt. Das Ende des Romans bleibt folglich offen. Der Autor kann das Wissen über den pantheistischen Aufklärer, der die Persona non grata des 18. Jahrhunderts war, so wie Marx die des 19. Jahrhunderts, voraussetzen. Spinoza war nach den hegelianischen 68er Zeiten so etwas wie ein Geheimtip. In Johannes Agnolis Subversiver Theorie spielt er eine herausragende Rolle und in den letzten Jahren erfuhr er eine verstärkte Rezeption.
Rabbi Manasseh schreibt, aber handelt nicht; Viktor Abravanel ist die Antithese; er handelt politisch, erwirkt aber keine öffentliche Relevanz. Spinoza stellt die Synthese dar. Mit ihm führt Robert Menasse in seinem Intellektuellenroman wieder zurück in jene Zeiten, in denen das Pathos des Intellektuellen noch völlig intakt war. Menasse hat es zwar wieder geschafft, konventionalisierten Erzählformen und gegenwärtigen literarischen Tendenzen eine neue, originelle Wendung zu geben. Aber die Aussicht auf einen, der, moralisch integer, dereinst kommen möge, zu erklären und richten die Dinge, wirkt allzu konventionell. Doch vielleicht hat Menasse noch eine weitere Erzählform verfremdet und ein Intellektuellenmärchen geschrieben. Aus den Vereinigten Staaten hört man, es gebe ein "Desire called Marx". Für wen ist jetzt Spinoza das Codewort? Für Marx jedenfalls nicht.
Robert Menasse: Die Vertreibung aus der Hölle, Roman, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001, 494 S., 49,80 DM
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