Kultur im Ruhestand

Lebenskunst Die neue Linke, die sich hier und da formiert, kommt um ein zeitgemäßes Kulturverständnis nicht herum

Die linke Theorie wird gerade emeritiert und gleichzeitig ist in diesen Wochen ein linker bundesweiter Studentenverband dabei, sich zu gründen. Jetzt könnte man unken, die Situation sei vergleichsweise komfortabel, schließlich begannen die Studenten in den sechziger Jahren mit ungleich weniger. Sie mussten die Bücher und Theorien mühsam ausgraben, wurden allerdings mit einem sicheren Platz an den Hochschulen oder anderswo entlohnt. Heute ist vieles, gerade auch an linker Theorie, auf dem Buchmarkt wie dem Marktplatz der Ideen vorhanden und verfügbar. Nur der Zugang wird verstellt, institutionell untergraben und durch ein rigides neoliberales Zeitregime verhindert.

Ein nahe liegendes Beispiel ist die deutsche Kulturwissenschaft, die zu den wenigen gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen zählt, die noch mit Mitteln versorgt und ausgebaut werden. Wer sich die dortigen Forschungen ansieht, versteht aber sofort den Grund. Des kritischen Gehalts weitgehend beraubt, häufig auch reduziert auf einen nationalen Hintergrund an Texten und empirischem Material, wird man dort sowohl die britischen Cultural Studies vergeblich suchen wie die amerikanische Theorie einer kulturellen Logik des Spätkapitalismus (Jameson).

Wer auf diese Erkenntnisse zurückgreifen will, muss Umwege und Anstrengungen in Kauf nehmen und zunehmend auf außeruniversitäre Einrichtungen zurückgreifen, auf linke Verbände, Online-Netzwerke, Kongresse und Publikationen. Ein paar Beobachtungen auf dem Frankfurter Hochschulkongress für eine "Neue Linke", der am vergangenen Wochenende das Projekt eines linken studentischen Verbandes forcieren und gleichzeitig Alternativen zur neoliberalen Hochschul- und Bildungspolitik suchen wollte, mögen das illustrieren.

Dia taz hatte sich gefreut, der neue Verband könne sich womöglich wieder SDS nennen und bei dem Gedanken bereits vorab über all die Häme jubiliert, die über diese Organisation ausgegossen werden kann. Tatsächlich setzte sich in Frankfurt Oskar Lafontaine aufs Podium und forderte lauthals einen neuen SDS. Und der komplette Hörsaal applaudierte. Eine merkwürdige Szene: Sind die Studierenden aus Unsicherheit oder Schwäche so anlehnungsbedürftig, dass sie Vorbilder suchen, statt selbstbewusst einen eigenen Weg einzuschlagen? Oder ist das ominöse Kürzel "SDS" mittlerweile für die Generation, die mitten im Studium steckt, ein eher unspezifisches Synonym für Bewegung und Widerstand, so dass langwierige Distanzierungen und das zuweilen mühselige Arbeitsprogramm der Zwischengeneration, die sich mit ihren Vorgängern schwerfällig abplagten, unterbleiben können?

Einer breiten Unterstützung jedenfalls können sich die Studierenden sicher sein. Die zahlreichen Abgesandten von Verbänden und Gewerkschaften wünschten sich einen starken linken Studentenverband, aber wie häufig liegen direkt neben den schönen Hoffnungen die Probleme. Das beginnt mit den Universitäten, die kaum noch als Orte kritischer Reflexion zur Verfügung stehen, mit der Folge, dass der Typus des emeritierten Professors zum festen Bezugspunkt wird. Die britische Kunsthistorikerin Gen Doy hat bereits eine marxistische Theorie des Ruhestands gefordert, um die Theorieproduktion und Wissensvermittlung prominenter linker Einzelforscher kritisch zu begleiten.

Sicher, Prekarität lautet der Begriff, der Koalitionen und Bündnisse ermöglicht, die vorherigen Generationen ungleich schwerer zugänglich waren. Soziale Unsicherheit wird als Herrschaftsressource identifiziert, die Intellektuelle und Arbeiter ergreift und bis in die oft beschriebene Mitte der Gesellschaft ausstrahlt. Für viele Bereiche, seien es Hochschul- oder Arbeitsmarktpolitik, wurde bereits analysiert, wie progressive Forderungen umgemünzt und in das neoliberale Konzept eingebaut wurden und nun mit dafür sorgen, dass diese Politik ertragen wird. Prekär Beschäftigte erfahren in ihrer Arbeit auch Selbständigkeit und Freiheiten, die ihnen vorher verwehrt waren. Für die Durchsetzung des Neoliberalismus waren kulturelle Codes entscheidend, aber gerade im kulturellen Bereich, sowohl dem der Alltagskultur wie in den im engeren Sinn künstlerischen Domänen, stellt sich die Situation seltsam ungleichgewichtig dar.

Auf linken Kongressen findet mittlerweile nicht einmal mehr die obligate Veranstaltung zur Kulturindustrie statt, während die Kulturwissenschaften akademisch präsent sind und nach Fächern ausdifferenziert werden, um das ökonomisch erforderliche, kulturelle "content management" zu gewährleisten. Von Kulturgestaltung, praxisnah und als Bachelor, Kulturwirtschaft, die für "wirtschaftliche Fragestellungen sensibilisiert", Kulturmarketing ("bei mehr als 75 % der Kunst- und Kulturschaffenden wird fehlendes betriebswirtschaftliches Wissen als Manko der eigenen Qualifikation empfunden", wirbt ein Fachbereich, damit seine studentischen Kunden zum Erwerb der Ware Kulturvermittlung schreiten), Kulturpädagogik, -informatik, -geographie bis zur Kulturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Religion reicht die bunte Palette.

Alle können darauf setzen, dass ihr Angebot nachgefragt wird, und das nicht nur, weil Kultur als Standortfaktor für prekär Beschäftigte trotz aller Kürzungen noch immer relevant ist. Von den Soft Skills der Corporate Identity bis zur harten Ökonomie von Produktion und Vertrieb reicht der Bedarf. Die Verfügung über kulturelle Codes, ihre flexible und kompetente Handhabung, wird zum ökonomisch verwertbaren Distinktionsmerkmal. Noch die digitale Boheme von Friebe und Lobo (Freitag 49/2006) zählt hierzu, ebenso Kathrin Passig und die Zentrale Intelligenz Agentur. Sie präsentieren als Freelancer, was auch in den Betrieben gefordert ist, mit dem Unterschied, dass sie das Geschäft öffentlicher und kenntlicher betreiben und die Grenze zum Unernst verwischen. Auch die Ironie hat ihren Preis, selbst wenn der nicht immer die materielle Grundversorgung der Anbieter garantiert.

Auf dem Hochschulkongress für eine neue Linke war von Kultur keine Rede. Während des abendlichen Kulturprogramms sahen protestwillige Studierende in einem Film, wie Studierende gegen Studiengebühren protestierten. Auf der Marxismuskonferenz, die im April in Berlin stattfinden wird, zehn Jahre nach der ersten und bislang letzten, hat sich bislang nicht einmal ein Workshop zur linken Kulturtheorie gefunden. Dafür gibt es diverse Schulungen in Keynesianismus. Erst abends gibt es den bei solchen Veranstaltungen sehr beliebten Brecht-Abend. Den zu kritisieren fällt schwer, denn wer hört die alten Lieder nicht immer mal wieder gern. Aber selbst Brecht ist als Kulturpfeiler der Zukunft nur begrenzt belastbar.

In der Hochschul- oder Arbeitsmarktpolitik wird es allmählich zum Standard linker Argumentationen, die unter dem Terminus "neoliberal" zusammengefasste Entwicklung nicht komplett zu verdammen und zu negieren. Erstens wurden dort progressive Vorstellungen integriert und umgearbeitet und des Weiteren stecken darin wiederum emanzipatorisch zu nutzende Möglichkeiten. Die Doppelstrategie von Verteidigen und Umfunktionieren ist natürlich auch hier zu empfehlen. Schließlich war es nur möglich, einen kommodifizierten, kapitalfreundlichen Kulturalismus zu etablieren, weil es der Linken im 20. Jahrhundert gelungen war, den reaktionären Kulturbegriff der Jahrhundertwende progressiv zu wenden und durch Vorstellungen von Freiheit und kollektiver Emanzipation zu besetzen.

Es gibt keinen Grund, von dieser Perspektive abzulassen und nicht mit den Cultural Studies nach einer widerständigen Alltagskultur oder mit einer ästhetischen Theorie nach einzelnen Kulturprodukten zu suchen, die in dieser Tradition zu verstehen sind. Ebenso ist die selbstverliebte und verspielte Praxis medialer Code-Arbeiter nicht notwendig nur das Begleitprogramm zu Hartz IV. Aber diese Debatten wurden bislang kaum geführt und finden ausgesprochen selten Eingang in theoretische Überlegungen. Sie könnten unter den Stichworten Anti-Kapitalismus, Medienkompetenz oder Lebenskunst stattfinden. Und bei Lebenskunst sind wir glücklich beim kulturellen Abendprogramm marxistischer Konferenzen angelangt, denn das eben diese Kunst in Brecht ihren herausragenden Exponenten gefunden hat, kann als gesicherte Erkenntnis linker Theorie und Praxis gelten.

Auf dem Hochschulkongress für eine neue Linke wurde eine kleine Geschichte des SDS vertrieben und die Geschichte der vorhergehenden Studentenverbände in der Bundesrepublik repetiert. Dort war aber nicht zu vernehmen, welch ein zuweilen unlösbares Problem es darstellte, ein den Namen wertes Kulturprogramm dort unterzubringen, und folglich ebenso wenig, dass dieser Mangel ganz gewiss nicht das Florieren der Bewegung förderte.


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