Republik ohne Bürger

Kündigung In Christoph Heins neuem Roman "In seiner frühen Kindheit ein Garten"steht weniger die RAF als die Frage nach dem sozialen Konsens der Bundesrepublik im Vordergrund

Häufig ist zu lesen, wir lebten in einer Übergangsgesellschaft. Meistens wird beiläufig davon gesprochen, denn das auffällige Kennzeichen einer solchen Gesellschaft ist, dass feste Koordinaten und Fixpunkte fehlen und jedes Wort, das die Gegenwart bezeichnen soll, die Bemerkung mit sich führt, dass es ein Besseres eben nicht gebe. Die drängende Frage bleibt, wie tief die Zäsur ist, die gegenwärtig beobachtet und erfahren werden kann. Die sozio-ökonomischen Veränderungen sind beträchtlich, die Frage, was erhalten bleibt, was irreversibel verloren ist, steckt latent oder manifest in fast allen politischen oder theoretischen Debatten der letzten Jahre.

Was für eine verwegene Idee ist es da, ausgerechnet beim Stand der Beamten nach Antworten zu suchen, also bei eben jenen, deren literarische Verwendbarkeit und Variabilität stets überschaubar bleibt. Von den Figuren Wolfgang Koeppens bis zu den Lehrern Martin Walsers dient ihre Anwesenheit zuvörderst dazu, die Beschaffenheit des Staates und über ihn vermittelt von Republik und Gesellschaft zu bestimmen. In Christoph Heins neuem Roman In seiner frühen Kindheit ein Garten (Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, 271 S.) ist die Hauptfigur eine, die die Bezeichnung Staatsdiener nicht abwertend fände. Als Direktor eines Kleinstadtgymnasiums in der Nähe von Wiesbaden unterwies Richard Zurek Generationen von Schülern und wollte aus ihnen gute Staatsbürger machen. Nach seiner Pensionierung genießt er mit seiner Frau den Ruhestand.

Soweit folgt die Handlung dem von Heins Romanen gut bekannten Verfahren. Der Autor siedelt sie räumlich und ereignishaft am Rande eines Geschehens an. Die kleine Welt ist mit der großen Geschichte und ihren Wechselfällen verknüpft, besitzt aber soviel Eigenständigkeit, dass sie nicht als Abziehbild der großen Welt gesehen werden kann. Hein beschreibt das Leben des alten Ehepaars, die Kleinstadt, den Gemeindekirchenrat, die Lehrer der ehemaligen Schule, die schleichende Veränderung im Bewusstsein der Hauptfigur, mit einer Meisterschaft, die ihresgleichen sucht.

In einer für diesen Autor ungewöhnlichen Volte wird dieses unauffällige Leben direkt von einer staatspolitischen Aktion durchkreuzt. Die Ereignisse vom 26. Juni 1993 in Bad Kleinen, als der gesuchte Terrorist Wolfgang Grams erschossen und seine Begleiterin Birgit Hogefeld verhaftet wurden, bilden die Folie für die Handlung des Romans. Hein hat seinen Figuren andere Namen gegeben und einen fiktiven Text geschrieben, dem das historische Geschehen nur Anlass und Handlungsgerüst ist. Aber zuweilen folgt er bis ins Detail den realen Ereignissen, der einseitigen Ermittlung, der Vertuschung, Verschleierung und den absurden offiziellen Versionen, die notwendig wurden, weil aus Staatsräson die Version des aufgesetzten Kopfschusses und ergo des Mordes nicht zugelassen werden durfte. Selbst eine Sitzung des Innenausschusses des Bundestages vom 18. August 1993 findet sich eingearbeitet, auf der ein Abgeordneter moniert, dass die Leiche in jedem Bericht woanders zu liegen komme, und ein Kollege ihm entgegnet, es hätten sich die Gleise verschoben.

Diese Dreistigkeit der Mächtigen motiviert die Veränderungen bei Richard Zurek. Von ferne erinnert die Konstellation an den Film Missing (1982) von Costa-Gavras. Dort sucht der kreuzbrave, konservative Ed Horman, gespielt von Jack Lemmon, nach seinem in Chile während des Militärputsches verschwundenen Sohn und muss im Zuge der Recherchen seine apologetische Sicht der eigenen, US-amerikanischen Regierung revidieren.

Dieser Vergleich ist nicht wegen vordergründiger politischer Analogien sinnvoll, sondern aufgrund einer dramaturgischen Ähnlichkeit. Beide Male inszeniert ein politisch linker Autor die persönliche Krise eines staatstragenden Bürgers, weniger um zu beweisen, dass dieser Staat in einer kritischen Situation seine Fassade fallen ließ und eine Veränderung zur Kenntlichkeit die wahre Fratze offenbare. Er inszeniert die Krise vielmehr als eine Bitte um Unterstützung, damit das verteidigt werde, das wahlweise Demokratie oder Rechtsstaat heißt. Anfang der achtziger Jahre betraf das nur die Außenpolitik, mit dem Roman von Christoph Hein ist dieses Thema in der Innenpolitik dieser Republik angekommen. Am Ende des Buches, in einem stark übertriebenen, aufgesetzt wirkenden Akt, widerruft Ex-Schuldirektor Zurek seinen Amtseid und setzt damit die zugehörige Beamtenpension aufs Spiel. Autor Hein verlässt hier die Bahnen des "Chronist(en) sine ira et studio", als den er sich selbst sah.

Der symbolische Akt findet zwar in einer Provinzschule vor einer Handvoll Beteiligter statt, aber es ist klar, dass der Autor den jahrzehntelang gültigen Konsens der Republik aufgekündigt sieht. Von wem allerdings, das ist die Frage. Der Beamte steigt zwar aus seinem Vertrag aus, jedoch ist offensichtlich, dass er ohne eigenes Zutun und Veränderung sich auf einmal draußen befindet. Nur die soziale Trägheit verhindert diese Erkenntnis bei der bislang fest im System verwurzelten Mittelschicht.

Noch deutlicher wird dies bei Ansicht der verbliebenen Staatsfreunde. Neben einigen Opportunisten figuriert hier Richard Zureks Tochter Christin. Gut betucht, mit einem Mann versehen, der schemenhaft durch den Roman geistert und irgendwie am Neuen Markt rumwerkelt, verteidigt sie nicht sich, persönliche Werte oder politische Ideale, vielmehr nur ihren sozialen Status. Sie tut dies in einer so geschwätzigen und bigotten Weise, dass die Karikatur sehr nahe ist. Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr. Es entsteht im Laufe des Romans eine Republik ohne Bürger, zusammengehalten von einer Allianz aus Macht und Medien sowie dem Allheilschmiermittel Geld.

Deutlich wird dies vor allem, wenn die metaphorische Qualität zentraler Motive bedacht wird. Der Staatsangestellte und der Eid, das sind zwei Sujets, die in der Nachkriegsliteratur der jungen Bundesrepublik eine herausragende Rolle spielten, am prominentesten bei Wolfgang Koeppen und Alfred Andersch. In Die Kirschen der Freiheit von Andersch werden Desertion und Widerruf des militärischen Eides zu symbolischen wie existentiellen Handlungen stilisiert, und in Koeppens Roman Das Treibhaus der Selbstmord des Bundestagsabgeordneten Keetenheuve beschrieben, der merkt, dass diese Republik nicht seine ist. Nach dem zweiten Weltkrieg war der neue Staat zwar formal gegründet worden, aber seine stabile, republikanische Gestalt erhielt er erst in den sechziger Jahren, als dem Begehren wirtschaftlichen Wohlstands eine westliche, demokratische Gesinnung hinzugefügt wurde. Letztere erlahmte in den neunziger Jahren und der nationale Konsens, demzufolge der materielle Wohlstand allen zumindest potentiell erreichbar sein muss, wurde nach dem Ende der sozialliberalen Koalition schleppend und unter der Rot-grünen Regierung entschlossen beerdigt. Eine Debatte allerdings, wie tief die Zäsur ist, welch ein Einschnitt hier vorliegt, findet nicht nur nicht statt, sie ist öffentlich ausgesprochen unerwünscht. Die regierenden Reformer singen das Schlaflied vom intakten Wohlfahrtsstaat und der schönen Demokratie, unbeschadet aller urdeutschen Schlager vom Sparen und all den anderen Gassenhauern aus dem Reichstag.

Demgegenüber kritisieren Linke, dass die sozialpolitischen Zugeständnisse Bismarcks und der Sozialstaat der Nazis revidiert werden. Der Historiker Götz Aly listet auf, was neben dem Ehegattensplitting, der Steuerfreiheit von Sonn- und Feiertagsarbeit, einer vermehrten Zahl von Urlaubstagen, Hitler alles einführen lies, um es sich mit seinem Volk nicht zu verderben. Wie weit geht der Konsens zurück, der jetzt gekündigt wird? Die gesellschaftliche Verstörung müsste beträchtlich sein. Aber mehr als linke Einzelstimmen melden sich nicht zu Wort. Eine öffentliche Verständigung über den gegenwärtigen state of mind wird unterbunden, es herrscht in dieser Beziehung eine bleierne Ruhe, die nur durch die Ansage von Wirtschaftsdaten unterbrochen wird.

Es wäre eine verlockende wie schlichte und irreführende Analogie zu fordern, die Literatur könne wie in den fünfziger Jahren versuchen, diese Leerstelle zu füllen. Die Unterschiede zwischen den Zeiten sind zu beträchtlich. Aber der neue Roman von Christoph Hein enthält eine explizit politische Signatur. Hein hat immer über soziale Kälte geschrieben, von Der fremde Freund, über das Napoleonspiel bis zu Willenbrock. Motive der Versöhnung finden sich bei ihm selten, zuletzt in Landnahme, wo Bernhard Haber auf seine Rache verzichtet, nicht Edmond Dantes spielt, sondern glücklich in der neuen Republik angekommen ist.

Der Roman In seiner frühen Kindheit ein Garten dagegen hat etwas ausgesprochen offizielles. Zuvor beschrieb Hein ausgiebig, wie Sex oder Spiel als Kompensation in einem beschädigten Leben eingesetzt werden kann. Mit solchen Verhaltensweisen lässt sich zwar leben, wenn auch nicht gut. Doch jetzt ist der Einsatz höher. Wenn Richard Zurek den Amtseid widerruft, besiegelt er, soziologisch gesprochen, die Kündigung des Klassenkompromisses zwischen Kapital und Mittelstand und damit eine Epoche, die oft als das Golden Age in einem Zeitalter der Katastrophen beschrieben wurde.

Der neue Roman kann als Fortsetzung von Willenbrock gelesen werden, denn dort war bereits von einem Regelverstoß die Rede. Der Autohändler Willenbrock griff zu einer Schusswaffe und gebrauchte sie in einer Situation, in der eine staatlich garantierte, zivile Konfliktregelung unter Wahrung aller Interessen nicht mehr vorauszusetzen und das kodifizierte Recht, Metapher eines sozialen Konsenses, zu einem Muster ohne Wert verkommen war. In seinem neuen Roman geht Hein einen Schritt weiter und schreckt doch vor den Konsequenzen zurück, indem er einen biederen Kleinbürger als Hauptfigur erwählt. Zurek verhält sich wie jemand, der aus einer Vereinigung austritt und doch auf nichts anderes hoffen kann als einen baldigen Wiedereintritt. Er wirkt also wie eine Art Karikatur von Günter Grass. Mit einer solchen Figur lässt sich ermessen, wie weit sich dieser Staat von seinen goldenen Zeiten entfernt hat, mehr nicht, und da diese Figur den Roman dominiert, reduziert sich der Erkenntnisgewinn.

Sicherlich kann dieser Roman auch als Text über den Terrorismus verstanden und in die literarische Beschäftigung mit diesem Thema, von Heinrich Bölls Katharina Blum, über Christian Geisslers kamalatta bis zu F.C. Delius´ Trilogie Deutscher Herbst, eingeordnet werden. Aber es spricht einiges dafür, ihn nicht darauf festzulegen. Hein hat oft darauf verwiesen, er habe insgesamt elf Mal den Untergang der DDR beschrieben. Jetzt hat er einen Roman über das Ende einer Republik verfasst, der viele im Westen nachtrauern und in der viele im Osten meinten anzukommen. In den DDR-Romanen lief die Alternative stets unausgesprochen mit. Hier bleibt nur eine Leerstelle, denn was an die Stelle des Alten tritt, ist ungewiss. So gesehen ist die klaustrophobische Stimmung des Ehepaars Zurek eine zutreffende Beschreibung des Status quo. Nach draußen wagen sie sich selten. Dort stehen sie unter Verdacht und Beobachtung, dort lauern allerorten potentielle Bedrohungen. Selbst wenn die Eheleute am Ende, nach dem großen Befreiungsschlag, wieder meinen, frische Luft atmen zu können: Klaustrophobie als kollektives, gesellschaftliches Gefühl tritt ein, wenn jede andere Zukunft als eine verlängerte Gegenwart verbaut ist, und diese Stimmung ist das, was diesen Roman und diese Gesellschaft durchzieht.


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