Subjekte

Linksbündig Das Mäntelchen Demokratie ist dünn geworden

Der Freude, dass eine vereinigte parlamentarische Linke zur vorgezogenen Wahl antritt, folgte schnell die Ernüchterung, wie wenig damit erreicht, was noch alles nötig ist. Wer ein Stimmungsbild der gegenwärtigen Lage erstellen will, registriert auf der einen Seite, wie Linke die Nase in den Wind halten und verhalten erwartungsvoll nach einem Wetterumschwung Ausschau halten, und auf der Gegenseite einen "neoliberalen Block", der nicht allzu traurig darüber ist, dass nicht ganz gewählt wurde, was vorgesehen war.

Auf einer Konferenz mit dem Titel Kapitalismus reloaded konnte man am vergangenen Wochenende in Berlin erfahren, dass der Neoliberalismus seinen Höhepunkt überschritten hat, von einer "Krise seiner Hegemonie" und der immer schwierigeren Situation der USA, dieses westliche System zu organisieren, war die Rede. Teilnehmer aus Venezuela oder Afrika gaben ihrer Zuversicht Ausdruck, als sie erklärten, es sei heute viel einfacher, die Länder des Südens gegen das US-dominierte System zu vereinen. Es ist also, und dazu brauchte es nicht die Wahlen in Deutschland, etwas in Bewegung geraten, und doch wäre nichts leichtsinniger und gedankenloser, als jetzt einen Selbstläufer zu erwarten.

Die gut besuchte Konferenz in Berlin war ein kleines Zeichen, dass eine relevante Anzahl von Menschen genauer wissen will, was aktuell von diesem Kapitalismus zu halten ist. Gedanken wie jener des Historikers Giovanni Arrighi, ob die Vereinigten Staaten nun alsbald von einem Weltzentrum Ostasien/China abgelöst werden, belegen mehr den spekulativen Gehalt mancher Debatten, die in einer Zwischenzeit und angesichts eines Gesellschaftsmodells, das Zeichen der Erschöpfung aufweist, wohl unvermeidlich sind. Weniger von einer spekulativen Ader geprägt könnte sich Arrighis Prognose erweisen, die Länder der Südhalbkugel könnten sich künftig zu einem "neuen Bandung" zusammenfinden, in Anspielung auf den legendären Ort in Indonesien, an dem eben jene Konferenzen stattfanden, auf denen Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre das "Ende des Kolonialismus" auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Immerhin hätte sich so der Konferenztitel bewahrheitet, denn im titelgebenden Kinofilm sind es eben nicht die großen weißen Männer, die sich zum revolutionären Rave versammeln und eine eigene Matrix kreieren.

Doch vor all dieser Zukunftsmusik müssen zunächst mal einige sehr nahe Fragen geklärt werden. Sollen wir uns nun mehr für das System interessieren, das nach langen Jahren erstmals Risse und Sprünge im Gefüge aufweist, oder vielleicht besser erst um die Subjekte kümmern, die sie nutzen und vergrößern könnten? Gerade letztere haben sich in den vergangenen Jahren enorm gewandelt. Sie sind flexibel, aktiv, gerissen und erfindungsreich geworden und hatten gar keine andere Wahl, als sich diesem Schicksal zu fügen, um im alltäglichen, zähen Überlebenskampf zu bestehen. Völlig individualisiert und zu einem großen Teil technologisch geschult haben sie beträchtliche Kompetenzen und Energien akkumuliert. Wie unsinnig wäre es da, das alte stabile, bürgerliche Subjekt zu glorifizieren und neue Möglichkeiten bei der Subjektbildung zu verkennen. Wäre es nicht ungleich verlockender, sich vorzustellen, was all diese monadenhaften Sozialpartisanen vermöchten, wenn sie einem gemeinsamen Ziel folgten und zu vielen kleinen Neos und Trinitys mutierten? Aber da das schon wieder eine Melodie aus einer von vielen möglichen Zukünften.

Etwas anderes ist viel nahe liegender, nämlich: "to study the enemy", wie es Val Burris sagte, Vertreter der power structure research, wie sie in Deutschland der Soziologe Hans Jürgen Krysmanski vertritt. Auf jeden Fall ist es vernünftiger, statt über Sozialmissbrauch oder Kriminalität zu forschen, jene in den Fokus zu stellen, die ohne jedes Maß Geld und damit Macht akkumuliert haben. Wie Burris sagte, ist sehr vielen in den Vereinigten Staaten völlig klar, dass Demokratie nurmehr ein dünnes, abgetragenes Mäntelchen für eine real existierende Plutokratie ist. Das ist bekannt, aber eine Korrektur nur sehr schwer in Politik umzusetzen, zumal andere auf der Konferenz darüber sprachen, dass die etablierten Strukturen, mittels derer das in vergangenen Zeiten geschehen konnte, nicht mehr funktionieren. Die Spiegel-Krise war da nur eines von vielen Stichworten, um zu begründen, dass der bewährte Recherche-Journalismus in Deutschland keinen Ort mehr hat und neue Organisationsformen gefordert sind, um das, was bekannt ist, auch publik zu machen Das wäre doch ein Anfang für eine neue Linke.


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