Über alle Grenzen

Versuche in Empathie In seinen Romanen »Ein Ort fernab der Welt« und »Ein Fisch aus Gold« versucht sich der französische Autor Le Clézio an der Kolonialgeschichte

Weltflucht ist eine schäbige Sache, selbst in schlechten Zeiten, in denen diese Welt einen dezidiert miserablen Eindruck hinterlässt. Darüber herrscht von links bis rechts schnell Einigkeit. Eskapismus kommt meist romantisch-individualistisch, wenn nicht gar mystisch oder reaktionär daher, mag vielleicht noch einem verständlichen Impuls geschuldet sein, gilt aber letztendlich als eine Regung, mit der das verabscheute System sehr gut leben kann. Aber vielleicht hat sich das Problem von selbst erledigt. Gibt es überhaupt in dieser Welt irgendwo noch ein idyllisches Plätzchen, wo es sich mehr als eben nur aushalten lässt, was ist mit den alten Sensuchtsplätzen Sansibar, Samarkand, Mauritius? Sind sie alle schon zu Offshore-Zentren mutiert?

Wenn einer es wissen sollte, dann der französische Autor Le Clézio, der seit seinem Debüt 1963 darüber schreibt, warum das Unbehagen an der westlichen Zivilisation wächst. Die Voyages de l´autre coté, wie eines seiner Bücher hieß, die unaufhörliche Suche nach der anderen Seite, sollte jene »exstase matérielle« erbringen, die die Trennung des Menschen von der ihn umgebenden Dingwelt aufhebt. Die Essays, in denen Le Clézio dieses Programm entwirft, stammen aus den siebziger Jahren. Seine neueren Romane Ein Ort fernab der Welt und Ein Fisch aus Gold haben sich davon entfernt, ohne es vollständig aufzugeben. In ersterem träumt sich die Hauptfigur Leon in die längst vergangene Familiengeschichte und versucht, dem rätselhaften Schicksal eines Verwandten gleichen Namens nahe zu kommen. Ende des 19. Jahrhunderts befindet sich dieser auf einer Reise von Frankreich nach Mauritius, wo seine Familie ein Gut betreibt. Die Fahrt endet jedoch in einer Quarantänestation, auf einer Insel, unweit von Mauritius. Durch das unwirtliche Gelände verläuft eine Grenze, die weiße Durchreisende von indischen Auswanderern trennt. Alle sind von einer Pockenepidemie bedroht, Scheiterhaufen verbreiten den Aschegeruch des Todes unter den Lebenden, die auf die Ankunft des rettenden Schiffes hoffen. Leon verliebt sich in die Inderin Suryavati und muss sich, als endlich die Überfahrt nach Mauritius bevorsteht, zwischen dem elterlichen Gut und seiner Liebe entscheiden. Die Wahl fällt ihm nicht schwer, in der Familie gilt er seitdem als verschollen.

Etwa hundert Jahre später macht sich ein verwandter Namensvetter auf die Suche nach seinen Spuren, landet auf der Quarantäneinsel und rekonstruiert das Leben dieser Zeit. Er erzählt in der Ich-Form, als wäre es tatsächlich er, der 1891 sehnsuchtsvoll nach Mauritius blickt, von den Pocken bedroht ist und zwischen den verschiedenen Gruppen auf der Quarantäneinsel hin und her pendelt. Innerhalb der Geschichte wechselt dieser Erzähler die Zeiten. Die klassische Erzählzeit, das Imperfekt, signalisiert eine Plausibilität, wie eine historische Recherche sie hervorbringt. Es könnte so gewesen sein, der Erzähler besitzt eine Distanz zum Erzählten und vermittelt das Wissen, das seine Reise ihm erbracht hat. Plötzlich jedoch geht es im Präsens weiter, der Zeit, in der ein unmittelbares Erleben beschrieben wird und die hier für Traum- und Phantasieepisoden eingesetzt wird, letztlich also eine Fiktion zweiter Ordnung. Der Erzähler versetzt sich in die Situation des Vorfahren und schiebt ihm Begebenheiten unter, die so unwahrscheinlich sind, dass er sie nur geträumt haben kann.

Das hört sich nach einer komplizierten Konstruktion an, und es wird noch verwickelter, wenn die Familiengeschichte der indischen Freundin Suryavati in ähnlicher Weise eingefügt wird. Der Roman ist auch nicht ohne Raffinesse. Aber in Le Clézios Verfahren werden die Grenzen zwischen den Zeiten, zwischen den Figuren, zwischen Traum und Wirklichkeit nicht überquert, sondern aufgehoben. Der Erzähler schwebt über ihnen, als könnte er sie transzendieren. Mit dem Gefühl, alles umfassen und in sich aufnehmen zu können, bringt er es zwar zu einem Samenerguß in den indischen Ozean, schwimmt aber lediglich einer Dämmerung entgegen, in der alle Katzen grau sind. Die »extase matérielle« kennt keine Unterschiede, nur eine weite Seele, die die Kolonialgeschichte nur schemenhaft wahrnimmt und alles Welthaltige, Konkrete hinweg imaginiert. Eine Ejakulation ins Meer ist nicht mehr als ein touristisches Happening, verblüffend ist allenfalls, dass Michel Houllebecq die Idee noch nicht hatte.

In Ein Ort fernab der Welt steht sich der Autor selber im Weg. Aus einem interessanten Erzählverfahren wird durch das pathetische Bemühen, alle Differenz auszulöschen, durch gekünstelt einfache, metaphern- und stilmittelfreie Sätze, ein langatmiger Text. In Ein Fisch aus Gold hingegen, dem Roman, der in Deutschland jetzt neu, in Frankreich 1995 herauskam, erweist sich Le Clézios Verfahren als überzeugender Kunstgriff, denn hier durchzieht seine Einfühlungsmanie nicht programmatisch den Roman, sondern erscheint als begründete Einfühlung des Autors in seine Hauptfigur. Der weiße Franzose Le Clézio verfasst hier eine Erzählung aus der Perspektive einer schwarzen, marokkanischen Frau. Das ist anmaßend, denn natürlich kann das nicht aufgehen, abgesehen davon, dass kein westlicher Leser beurteilen kann, ob die Identifikation gelungen ist. Aber diese Frage ist nicht entscheidend.

Le Clézio erzählt die Geschichte der kleinen Laila, die im Süden Marokkos geraubt wird und sich unfreiwillig auf eine lange Odyssee begibt, konsequent aus der Figurenperspektive. Laila rekapituliert die Stationen ihres Lebens: wie sie in den Norden des Landes gebracht wird, dort von einer Frau als Magd und Tochter aufgezogen wird, zwischenzeitlich in einem Bordell unterkommt, nach Paris und Boston ausreist und am Schluss wieder in Marokko ankommt. Die Erzählung enthält pikarische Elemente, da Laila von unten auf ihre Umgebung blickt, und nähert sich später dem Entwicklungsroman an. Laila bekommt in Pariser Studentenzirkeln Die Verdammten dieser Erde von Frantz Fanon in die Hände gedrückt, sie absolviert Sprachkurse, lernt Gesang und Klavier und feiert als Künstlerin erste Erfolge - bevor sie ertaubt und ihre unfreiwillige und zufällige Reise beendet.

Den Blick von außen auf Gesellschaften zu simulieren ist noch nicht originell. Fremde oder Aliens blicken alle Jahre wieder auf die westlichen Zivilisationen. Uns interessiert dabei vor allem, wie wir gesehen werden, weniger wer dort schaut und wie er oder sie dies macht. Le Clézio versucht, diese eurozentrische Übung zu hintertreiben, indem er jegliche Durchbrechung der Figurenperspektive vermeidet. Vieles wird nicht erklärt oder aufgelöst. Die rechtlose Immigrantin sieht sich permanenten Zudringlichkeiten ausgesetzt. Sie erwirbt westliche Bildung, spielt sogar mit Plänen für das Abitur und Studium, muss jedoch einen hohen körperlichen Preis dafür zahlen. Als sie einer gut situierten Französin den Haushalt führt, erinnert sie sich dunkel an einen betäubenden Tee und eine Vergewaltigung. Was genau geschehen ist, bleibt unklar, einzig Lailas Deutungen und Vermutungen werden mitgeteilt. Auch ihre Anstrengungen, sich die Topographien der Städte anzueignen, bleiben fragmentarisch. Wer einmal Paris durch die Augen einer marokkanischen Immigrantin sehen will, wird enttäuscht, denn was sie sieht, ist eben nicht das, was im Westen Paris genannt wird, sondern lediglich einige U-Bahn-Stationen, Straßenzüge, schwarze Studenten- und Einwandererzirkel. Das Schlüsselloch, hinter dem sie die Wahrheit über den Westen enthüllt, bietet der Autor nicht an. Sein Versuch der Einfühlung, der Verwandlung in eine Fremde kann letztlich nicht funktionieren, doch das heißt nicht, dass er unterbleiben sollte. Fisch aus Gold artikuliert das Bemühen, sich empathisch zu verhalten, und die Sehnsucht, die eurozentrische Brille einmal ablegen zu können, nicht die Behauptung, es wirklich getan zu haben.

Jean-Marie G. Le Clézio: Ein Ort fernab der Welt. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. Kiepenheuer , Köln 2000, 567 S., 24,90 EUR

Jean-Marie G. Le Clézio: Fisch aus Gold. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. Kiepenheuer, Köln 2003, 254 S., 19,90 E

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