Wende nach dem Ende

Operette Das Verrückte an der gegenwärtigen Finanzkrise: Jetzt werden plötzlich wieder ganz andere Formen von Zukunft vorstellbar

Laut Immanuel Wallersteins Prognose währt der Kapitalismus noch längstens dreißig Jahre. Für ein System, das trotz der gegenwärtigen Krise alternativlos dasteht, scheint das eine bemerkenswerte kurze Zeitspanne zu sein. Tatsächlich entspricht diese Vorstellung eines nahen Endes dieses zähen Gesellschaftssystems so gar nicht dem, was in unseren kollektiven Fantasien an Szenarien durchgespielt wird. Dort finden sich planetarische Katastrophen und Endzeitvisionen aller Art; allein das absehbare Ende des billigen Öls und damit des fossilen Zeitalters hat allerlei Untergangs- und Bürgerkriegsszenarien heraufbeschworen, genauso wie der zukünftige Kampf rivalisierender Nationalstaaten um knappe Ressourcen. Nur eines schien inmitten der allgemeinen Apokalyptik undenkbar: Das Ende des Gesellschaftssystems, das alles seiner Profitlogik unterordnet.

Bereits in seinem dreibändigen Hauptwerk, Das moderne Weltsystem, hatte der amerikanische Theoretiker Wallerstein sich mit Phasen des Übergangs von einer Gesellschaftsformation zur nächsten und mit der Geschichte des Kapitalismus und seiner Zyklen wie Krisen befasst. Jetzt verlängert er seine Theorie und meint, das gegenwärtige System sei nach dem Zusammenbruch der Finanzmärkte nicht mehr in der Lage, ein neues Gleichgewicht herzustellen. Mehrere finanzielle wie konjunkturelle Krisen bündelten sich zu einer systemischen Krise, die aktuelle Situation sei derjenigen vergleichbar, die zwischen dem fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert zur Etablierung des Kapitalismus geführt habe.

Andere Weltsystemtheoretiker wie Giovanni Arrighi erklären, eine Finanzblase habe es in der Vergangenheit immer dann gegeben, wenn ein hegemoniales Empire das andere abgelöst habe, doch Wallerstein geht einen Schritt weiter und meint, die Akkumulationsmöglichkeiten innerhalb des Kapitalismus seien ausgereizt - allerdings werde sich erst in den nächsten Jahrzehnten herausstellen, ob sich ein mehr an sozialer Gleichheit oder ein autoritäres Regime herausbilde.

Nun lässt sich aber über die Zukunft so ziemlich alles behaupten. Aber gerade die Kredit- oder Finanzkrise lässt Gedanken wie diesen aufkommen, gegen den Willen der Akteure in Wirtschaft und Politik, aber als Konsequenz ihres Handelns und ihres Aktionismus. Allein das Tempo, mit dem die alten Glaubenssätze des Neoliberalismus eingemottet werden, ist atemberaubend. Die Politik verändert sich radikal vor unseren Augen. Wenn schon das alles möglich ist, eine staatliche Unterstützung von hunderten Milliarden auf den Tisch gelegt werden kann, was könnte dann nicht alles noch möglich sein? Auf der Bühne, auf der dreißig Jahre lang die Tragödie des gnadenlosen Schicksals in der Maske des Sachzwangs der Märkte aufgeführt wurde, findet jetzt auf einmal eine flotte Operette statt: Hoch die Tassen, raus mit dem Geld.

Wenn dergestalt radikaler Wandel und damit auch Veränderbarkeit der Politik vorexerziert werden, lässt sich auch wieder über Zukunft und das bedeutet, über mehrere möglichen Formen derselben diskutieren. Natürlich wollen die Bankmanager und ihre Politiker die Tür sofort wieder zu schlagen. Damit das Wahlvolk nicht auf dumme, also kluge Gedanken kommt und sich fragt, welche Zukunft erstrebenswert sein könnte, werden allerorten Katastrophenszenarien entworfen. Unter der Überschrift „Die Unsicherheitskrise“ kommt zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung zu der Schlussfolgerung: „Die Weltwirtschaftskrise ist auch eine Weltsicherheitskrise. 2009 ist ein Schlüsseljahr für die Ordnung der Welt und für ihre Sicherheit.“ Wachsende Instabilitäten, in Großbritannien wurden schon wilde Streiks gesichtet, in Griechenland gewaltsame Proteste; und Island erst – da wurde sogar eine Regierung abgelöst. Menetekel überall - die Politiker als neue Experten dafür, das Undenkbare wahr werden zu lassen, müssen uns schützen, sonst droht gar eine „Massenpanik bei Sparern und Anlegern“.

Mit Katastrophen kannte sich der Neoliberalismus bestens aus, manche wie Naomi Klein halten sogar Neoliberalismus und Schock oder Katastrophe für Synonyme. Insofern flankieren die aktuellen Szenarien nur die Verlängerung des Gleichen, und „Sicherheit“ ist nur ein Codewort für die Bereitschaft, auch konservative, autoritäre Lösungen akzeptieren zu wollen.

Doch der Konflikt über die Zukunftsbilder, die die unterschiedlichen politischen Richtungen anzubieten haben, ist ausgebrochen. Irgendetwas ist zu Ende gegangen – der Neoliberalismus? Das amerikanische Empire? Oder hat Wallerstein Recht? „Le capitalisme touche à sa fin“, sagte er der französischen Zeitung Le Monde. Es wäre fahrlässig, nicht über mögliche Folgen dieser Aussage zu reden.



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