Empörte, Occupy und die Mosaiklinke in Europa

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Nach über drei Jahren Krise hat auch in Europa und den USA mit den „Empörten“ und „Occupy Walls Street“ endlich ein neuer Bewegungszyklus eingesetzt. Es ist offen, was daraus wird. Zumindest markieren sie einen Bruch im Bewusstsein über eine vermeintliche Krise ohne Protest.

Dabei ist mit Zyklus nicht gemeint, dass hier einfach das Erbe vorangegangener Bewegungen angetreten wird. So wenig die 68er-Bewegung die Nachfolge der Arbeiterbewegung antrat, und auch die Frauen- und Ökobewegung nicht einfach nachfolgten, so entstanden die neuen Bewegungen nicht aus den erfolgreichen Kämpfen der globalisierungskritischen Bewegung der Bewegungen. Jede der genannten Bewegungen tradiert Erfahrungen der vorangegangenen Bewegungen, zum Teil unbewusst, trägt teilweise politische Kämpfe weiter. Ihre Entstehung markiert fast immer aber auch einen Bruch mit den Vorgängerbewegungen, sowohl ihre Ziele betreffend, als auch ihre Kampfmittel und Organisationsprinzipien. Immer handelt es sich auch geht es um eine andere gesellschaftliche Zusammensetzung der Bewegung, neue tragende Gruppen.

So stellt jeder Zyklus immer auf neue und komplexere Weise die Frage der Vermittlung der Bewegungen und ihrer jeweils unabgegoltenen Ziele und Erfahrungen. So war jeder neue Zyklus immer auch mit neuen Fragmentierungen und Spaltungen innerhalb der Linken verbunden.

Wirkliche Demokratie

Die Bewegung der Empörten und auch Occupy Wall Street reagiere auf eine Krise der Repräsentation, die Herrschaft des 1% gegen die 99% der Bevölkerung, treten für direkte, horizontale und inklusive Formen von Partizipation ein. Insofern sind sie tatsächlich eine Bewegung für „wirkliche Demokratie“. Ihr Beweggrund ist die handfeste Verletzung breiter sozialer Interessen, die Verunmöglichung eines würdevollen Lebens, einer sinnvollen Arbeit, von der die Menschen nicht in Armut leben müssen, einer bezahlbaren Ausbildung, einer Perspektive. Und nicht zuletzt empfinden sie die Verteilung der Krisenkosten und der Lasten der Kürzungspolitik als ungerecht. Insofern trifft auch nicht zu, die Bewegungen formulierten keine Forderungen. Sie formulieren sie nur nicht in der üblichen Weise, denn es gibt niemanden, an den sie diese Forderungen adressieren könnten oder wollten. Das Repräsentationsprinzip an sich wird hier in Frage gestellt. Zurecht. Denn es geht nicht um die eine oder andere Forderungen. Es geht um die Ablehnung einer im Neoliberalismus entleerten formalen Demokratie. Es geht um die Öffnung von Diskussionsräumen für grundlegende gesellschaftliche, „systemische“ Veränderungen, um neue Fragen und Sichtweisen. Immer geht es um ein Gefühl und die Erfahrung der Verletzung von Gerechtigkeitsprinzipien.

Strategiedefizite von Linksparteien und Bewegungen

Diese Bewegungen könnten auch ein Weckruf für die linken Parteien, Gewerkschaften und übrigen Bewegungen in Europa sein, die bislang mit der Krise überfordert sind. Denn die linkssozialistischen Parteien jenseits von Sozialdemokratie oder regierender Sozialisten haben keine Strategien, um auf die Veränderungen zu reagieren. Parlamentarische Opposition verfängt nicht bei den „Empörten“. Sie hat wenig zustande gebracht angesichts der Krise. Die traditionellen Gewerkschaften vertreten nur noch schwindende Teile der Beschäftigten, nicht aber ein wachsendes Prekariat. Die Rituale vieler linksradikaler Bewegungen werden als sektiererisch empfunden, ihre Mobilisierungsfähigkeit in der Krise war – abgesehen von Griechenland – bescheiden. Eine europäische Koordinierung, wenigstens Debatte, ist bisher bei keiner dieser Gruppen substanziell zustande gekommen. Der Zorn der neuen Bewegung trifft somit auch die institutionelle wie die Bewegungslinke. So wurden etwa in Spanien Solidarisierungsversuche der Izquierda Unida (Vereinigten Linken) mit Wasserduschen und Pfiffen beantwortet. In den USA sieht das anders aus, dort gibt es ein starkes Bemühen von Occupy, Gewerkschaften, Organizern aus den People of Color communities, wechselseitige Unterstützung zu leisten. Doch in Europa lassen sich große Teile der Linken nur zaghaft auf die neuen Bewegungen ein. Es dominieren Abwarten und Abgrenzung. Politische Kulturen, Zusammensetzung, Ziele scheinen zu unterschiedlich.

Strategische Probleme des Protestes

Zugleich müssen auch die noch fragilen Bewegungen der „99%“ in Europa einer solidarischen Kritik unterzogen werden. Mit der Haltung eines „Que se vayan todos!“ („Alle sollen gehen!“), der Ablehnung vorgefertiger Antworten, dem Wunsch nach Offenheit in alle Richtungen, werden auch Erfahrungen und Errungenschaften abgeschnitten. Im Gegensatz zu anderen Bewegungen herrscht eine überraschende Geschichtslosigkeit (vielleicht deswegen auch ihre Verwechslung als „Jugendbewegungen“). Statt kritischer Durcharbeitung bestehender Erfahrung, der Prüfung, was aufgehoben, verändert werden kann, wird das Rad von neuem Erfunden. Das in der breiten Linken angesammelte Wissen wird – anders als in New York – auf der Puerta del Sol, dem Syntagma Platz oder vor dem Bundestag kaum abgerufen.

So soll Horizontalität gewahrt bleiben, alles soll von unten organisch wachsen, basisdemokratisch, keine Sprecher oder Anführer. Führung bzw. eine spezifisches Verständnis hierachischer Führung durch die traditionellen Organisationen wird häufig zurecht abgelehnt. Doch die simple Ausblendung von Wissensunterschieden und Erfahrungen, verhindert die Suche nach einem produktiven Umgang damit, ebenso wie die notwendige Verdichtung und Artikulation gemeinsamer Positionen. Die simple Proklamation von Horizontalität verhindert nicht, dass sich Führungsfiguren praktisch doch herausbilden – wie so oft schlägt auch in diesen Bewegungen die vermeintlich politisch-korrekte Ablehnung traditioneller Führung hinter dem Rücken dialektisch in informelle Hierarchien und Führungsgruppen um, die als informelle schwerer zu bearbeiten sind. Natürlich sprechen sie nicht für alle, nur „für sich“, aber es sprechen, moderieren, organisieren immer die gleichen und akkumulieren dabei informelle Macht.

So attraktiv die Offenheit für alle, für bislang nicht politische Menschen und neue Gruppen ist, mobilisierend die unbestimmte Forderungen nach Würde und Gerechtigkeit, so anschlussfähig sind diese Bewegungen auch in vielerlei Richtungen: rechtsnational in Griechenland, esoterisch in Spanien, oder in den Mainstream der öffentlichen Meinung in Italien und Deutschland.

Hierzulande wird die Occupy-Bewegung von Regierenden und Medien umarmt, die Polizei charakterisiert sie öffentlich als „lieb“, während linke Positionen und Proteste weiter ausgegrenzt und lächerlich gemacht werden. Zwar geben Meinungsmacher wie Frank Schirrmacher (FAZ) abstrakt linken Positionen recht, räumen Fehler ein, schwingen sich zu den härtesten Kritikern der Regierenden und des „Systems“ an sich auf – diejenigen, die schon seit Jahren und Jahrzehnten diese Wahrheiten in Erinnerung rufen, gelten immer noch als Ewiggestrige. Occupy-Berlin oder Occupy-Frankfurt werden so freundlich aufgenommen, weil ihre Forderungen nicht die alten sind, sondern so unbestimmt, dass sie leicht zu integrieren sind und so freundlich vorgetragen, dass sie niemanden bedrohen. Selbst Bänker und Polizisten wundern sich darüber. Es mangelt an einem etwas deutlicherem Antagonismus, ohne die alten Selbstisolierungen zu reproduzieren. Die Indignados in Spanien sind hier ein gutes Beispiel und sind nach der Besetzung der großen Plätze in der zweiten Phase der Organisation in den Barrios auch zu Besetzungen von Häusern und Hospitälern übergegangen (ähnlich die Verbindung von Anti-Eviction-Initiativen und Occupy in Oakland).

Das größte strategische Defizit zeigt sich aber im Umgang mit der bestehenden formal-repräsentativen Demokratie: Deren Ablehnung, einschließlich der Linksparteien, durch die Bewegung führt zu weitgehender Wahlenthaltung. In Portugal, Griechenland oder Spanien bringt dies konservative und rechts-nationalistische Kräfte in die Regierung. Überall in Europa verlieren Linksparteien an Rückhalt, während sozialdemokratische und formal-sozialistische Parteien, aber auch Grüne, für ein Festhalten an einer massiven Kürzungspolitik eintreten.

Es ist fast schon eine Farce der Geschichte, dass ausgerechnet Berlusconi das letzte Bollwerk gegen die deutsch-französische (und niederländische) Kürzungsdiktate war. Während in Europa offen Demokratie als „Gefahr“ und die Forderungen nach einem Referendum in Griechenland als „Verrat“ gebranntmarkt werden, verpuffen die Impulse der neuen Demokratiebewegungen, wie die Proteste der institutionellen und der Bewegungslinken.



Vermittlungsintellektuelle im Mosaik

Es Bedarf eines popularen Projekts einer Mosaiklinken, die Bewegungen, Gewerkschaften und Parteien neu verbindet. Die Forderung nach direkteren Formen der Partizipation, eine Demokratisierung von Staat und Ökonomie, ist dabei essentiell. Da kein Teil der pluralen Linken, keine Partei, keine Gewerkschaft, keine linke Avantgarde, mehr eine Führungsrolle beanspruchen kann, wir aber vermeiden sollten, dass Pluralität in Spaltung umschlägt, bedarf es der Entwicklung einer Mosaiklinken, die bislang trotz der Debatte um sie, nicht existiert (vgl. Candeias 2010). Dies entspricht nicht einfach einer Akzeptanz der unterschiedlichen Positionen, meint nicht einfach ein neues Bündnisprojekt, sondern den produktiver Umgang mit Fragmentierungen und Differenzen, mit Machtungleichgewichten und unterschiedlichen Funktionslogiken zwischen Parteien und parlamentarischer Politik, Großorganisationen wie Parteien, Bewegungen und kleinen Initiativen. Eine Neubestimmung der jeweiligen Funktion innerhalb des Mosaiks ist notwendig.

Erforderlich ist auch ein neuer Typ von Intellektuellen. Die im gramscianischen Sinne kollektiven organischen Intellektuellen, die aus der Bewegung selbst erwachsen, organisierend wirken, paradigmatisch ihren Ausdruck repräsentieren, sind in einer so vielfältigen und fragmentierten Linken nicht mehr ausreichend, die Anforderungen in einer Mosaiklinken andere, als in einer einzelnen Bewegung oder Partei. Vielleicht bedarf es eines Typs der Vermittlungsintellektuellen, die die jeweiligen politischen Orientierungen, Funktionen und Kulturen innerhalb des Mosaiks zu vermitteln, ohne die jeweiligen Eigenheiten und Stärken, ohne Differenzen auszublenden, bis ein gemeinsames Bild entsteht.

Schuldenkrise politisieren

Was könnte ein Einstiegsprojekt für eine europäische Mosaiklinke in dieser Situation sein? Wie kann die Schuldenkrise von links politisch aufgegriffen werden. Die Debatte verläuft meist abstrakt-technisch. Die Geschehnisse auf den Finanzmärkten sind an sich schon schwer begreiflich. Vorschläge zu Rettungsschirmen, Eurobonds, Eigenkapitalvorschriften, Reregulierung, Finanztransaktionssteuer, Kapital- und Vermögenssteuern, Trennung von normalem Kundengeschäft und Investmentbanking, Verbot von Leerverkäufen, Kapitalverkehrskontrollen, Wirtschaftsregierung etc. – das ist alles weit weg vom Alttagsverstand. Auch von links liegen zahlreiche und gut ausgearbeitete Ansätze zu Reregulierung der Finanzmärkte und dem Abbau der Schulden vor. Eine Politisierung muss auch anders ansetzen. Letztlich geht es auch bei den Protesten der Empörten oder von Occupy! darum.

Muss der Schuldendienst an jene, eben noch vom Staat geretteten Finanzinstitutionen geleistet werden? Sind diese Schulden nicht zu großen Teilen illegitim, also unrechtmäßig? Darüber wäre in demokratischen Konsultations- und Entscheidungsprozessen zu beraten, ein Schuldentribunal, ähnlich wie in Island oder zuvor in Ecuador:

2007 gründete Ecuador die erste regierungsoffizielle Rechnungsprüfungskommission über Auslandsschulden („Auditoria“). Nach einem sehr kritischen Bericht, indem zahlreiche dieser Schulden als „illegitim“ bezeichnet und für ihre Nichtbedienung plädiert wurde, beschloss die Linksregierung von Raffael Correa über die Unrechtmäßigkeit weiter den Schuldendienst von 38 Prozent des Staatshaushaltes im Jahr 2006 auf 11,8 Prozent im Jahr 2010 drücken. Die sozialen Investitionen und der Ausbau der Infrastruktureinrichtungen sollten im Gegenzug stark steigen.

Welche und in welcher Höhe sind Schulden zu bedienen? Wie viel soll für den Schuldendienst oder Investitionen frei bleiben, und für welche? Dies ist kein Problem nur peripherer Staaten. Benötigen wir nicht generell einen Schuldenschnitt (nicht nur für Griechenland), einer Währungsreform vergleichbar? Dies würde über Appelle zur Solidarität mit Griechenland hinaus gehen, unmittelbarer gemeinsame Interessen verknüpfen. In Verbindung mit einer gerechteren Steuerpolitik, die Kapital und Vermögende wieder stärker zur Finanzierung des Öffentlichen heranzieht, also das gesellschaftliche Mehrprodukt wieder der Allgemeinheit zurückführt, könnten so Umverteilung gestoppt, umgekehrt, Spielräume für eine andere Politik überhaupt wieder eröffnet werden. Benötigt wird ein Rettungspaket für eine erneuerte solidarische Sozialversicherung für alle und von allen statt privater Eigenvorsorge, Zweiklassenmedizin und billiger Pflege, und zwar im Sinne einer umfassenden Idee eines sozialen Europa mit gemeinsamen Mindeststandards und transnationalen sozialen Rechten. Umverteilung ist wesentliche Voraussetzung jeder linken Politik.

Perspektivisch wäre damit eine schrittweise Sozialisierung der Investitionsfunktion notwendig: Denn wer entscheidet eigentlich über den Einsatz der Ressourcen in der Gesellschaft und darüber, welche Arbeiten gesellschaftlich notwendig sind? Der Markt als effizientester Allokationsmechanismus für Investitionen hat sich blamiert. Das neoliberale Kredit- und Finanzsystem sammelt zwar noch die vereinzelten (latent produktiven Geld-)Kapitale ein, es gelingt jedoch nicht mehr, sie in ausreichend produktive Investitionen zu lenken. Stattdessen produziert die Überakkumulation von Kapital Wellen spekulativer Blasen, gefolgt von Kapital- und Arbeitsplatzvernichtung, während immer größere Bereiche gesellschaftlicher Reproduktion (z.B. Erziehung und Ausbildung, Umwelt, Hungerbekämpfung, Infrastrukturen und öffentliche Dienstleistungen) liegen bleiben bzw. kaputt gespart werden. Dann muss auch die Investitionsfunktion stärker zur öffentlichen Aufgabe werden, über internationale Finanzregulierung hinaus etwa über die Vergesellschaftung von „systemrelevanten“ Banken, den Ausbau eines Netzes öffentlicher Banken und breiter Einführung partizipativer Haushalte auf allen Ebenen. Sozialisierung partizipative Entscheidung über Investitionen ist Voraussetzung eines linken Projekts der gesellschaftlichen Umgestaltung.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

MarioCandeias

ist Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa Luxemburg Stiftung. Wir arbeiten an sozialistischer Transformation + einer Mosaiklinken.

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