Protestentfaltung

Berliner Abende Kolumne

Nach dem ersten Winter, der kein Winter war, folgt ein Frühling, der kein Frühling ist, sondern ein Sommer. Und so wie ich sind viele hinausgetreten aus ihren Berliner Wohnungen, um im Straßencafé einen Straßenkaffee einzunehmen und sich von der Abendsonne blenden zu lassen. Mit zugekniffenen Augen und der Hauswand im Rücken schaue ich hinüber zur Volksbühne, an die man die Fassade des Palastes der Republik geheftet hat. Ein Relikt, denn der Palast selbst gibt in der Zwischenzeit den Blick frei zum Alexanderplatz. Herrlich emotionslos kann ich auf dem Schlossplatz stehen/ und durch den Palast der Republik hindurch zum Funkturm sehen/. Alle Proteste gegen den so genannten Rückbau waren vergeblich gewesen. An keiner Protestveranstaltung habe ich mich beteiligt, obwohl ich auch gegen den Abriss des Palastes hätte sein können, wie ich auch gegen das Wegsprengen des Schlosses gewesen wäre. Ich bin einfach nur verdutzt, weil sich die Dinge wiederholen.

Niemals nehme ich an einer Demonstration teil, denn mein Wunsch nach Individualität verbietet mir das. Aber wenn ich protestwillig wäre, dann fiele mir doch einiges ein:

SOFORTIGER BAUSTOP UND RÜCKBAU VON ALEXA!

WEG MIT DEN LEGGINS!

Da hocken und stehen sie, die jungen Berlinerinnen und tragen Leggins. Leggins in den gängigen Legginslängen 3/4. 7/8, 5/7, 6/8 und bis ganz runter. Dazu die Ballerinas oder weite sackartige Stiefelchen. Die für Berlin typische Hauptsachescheißemode hat wieder zugeschlagen.

In den letzten Jahren gab es viele Modebefehle, den Sportjäckchenbefehl, den Klappradbefehl und den Befehl, dass sich erwachsene Frauen Zöpfe flechten sollen. Jetzt herrscht der Legginsbefehl. Die Modeindustrie folgt und näht Leggins, die Außendienstmitarbeiter verteilen Legginskataloge und nehmen Legginsbestellungen an, der Einzelhandel kauft große Mengen Leggins ein und füllt damit Legginsregale, die von der Legginsverbraucherin gesehen und gekauft werden, so dass riesige Legginsumsätze gemacht und gewaltige Legginsgewinnmargen eingefahren werden.

Noch was? Ja:

Jonathan Meese ist der Grund, weshalb ich mich überhaupt hier in diesem Café aufhalte mit Blick hinüber zum Palast-der-Republik- Fassaden-Plagiat, der mir verstellt wird von legginstragenden Frauen und um Gottes Willen Männern.

Jonathan Meese, der laut Modebefehl Sportjäckchen, Retrosneaker (Turnschuhe) und langen Bart trägt, darf mich nämlich zu seinen Fans zählen. Gleich sehe ich mir zum zweiten Mal seine "Nun ja-Inszenierung" (Zitty) an, deren Eintrittspreise bei freier Platzwahl zwischen 10 und 30 Euro schwanken. Es darf/soll während der Vorstellung Bier getrunken werden, und gerne dürfen zwischendurch Rauchpausen eingelegt werden. "Das Theater ist ein Tank, der von innen gereinigt werden muss." (Meese)

Etwa die Hälfte der Zuschauer wird die Vorstellung vorzeitig verständnislos verlassen. Die andere Hälfte bleibt und säuft und raucht und freut sich, dass hier mehrere Grenzen auf einmal überschritten werden. Dann trauen sie sich, einen anderen Platz zu besetzen, als den, den sie zum Rauchen eben mal kurz verlassen haben, während oben auf der Bühne Jonathan Meese zusammen mit Bernhard Schütz zu Alphaville Runde um Runde dreht und zum tausendsten Mal die Frage nach dem Reibert stellt, weil er das Recht hat, "20 Mal nacheinander die Instrumentalversion von Sounds Like A Melody zu hören".

WEG MIT DEN KOPFSCHÜTTLERN UND IHREM DER-IST-DOCH-TOTAL-DURCHGEKNALLT-UND-FINDEST-DU-NICHT-AUCH-GRINSEN

Der ist überhaupt nicht durchgeknallt. Ich sage

JA zur Revolution der Kunst!

JA zu Ahab und Captain Bligh!

JA zur Herrschaft der Tierbabys!

JA zum Herausschneiden einzelner Claudia-Schiffer-Teile aus überdimensionalen Bauplanen!

JA zum VfB Stuttgart!

JA zum Townhouse!

Warum sollte man nicht mitten in der Stadt im Reihenhauskubus mit zwei Dachterrassen wohnen, wenn man sich den Rest seines Lebens mit Häuslichkeiten aufhalten will.

JA zu Jogi Löw!

JA zur Party!

JA zur Rente!

JA zum Lichtschlauch!

JA zur Bauchmuskulatur!

JA zum Deutschen Film!

JA zum Campingurlaub in der Prignitz!

JA zum Rundrücken!

JA zu neuen Schuhen!

JA zu Mission Impossible IV!

JA, ich mach mich locker.

Aber Mädels, bitte, zieht die Leggins aus!


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