Nathan in Turnschuhen

WO LESSING GEBOREN WURDE Das Gastspiel einer Hamburger Inszenierung mit Schülern vieler Nationalitäten, ein Schreib-Wettbewerb, ein theologisch gebildeter Bürgermeister. Kamenz in Sachsen.

"Wenn ich auf meiner Wanderschaft nichts lerne, so lerne ich mich doch in die Welt schicken."
Gotthold Ephraim Lessing

Fast hätten wir noch einen anderen als den Goetheschen Faust bekommen. Auch Gotthold Ephraim Lessing hatte sich an dem Stoff versucht. Dann aber hat er den Entwurf in einen Koffer gepackt, der nach Braunschweig abgesandt wurde und für immer verschollen blieb. Unauffindbar wie später der wahre Ring. Die Ringparabel aus Nathan der Weise haben ganze Schülergenerationen gelernt. Mehr oder weniger begeistert. Meist weniger, je wahrscheinlicher Religion etwas aus der Mottenkiste war.

Heute hat uns das Stück nichts mehr zu sagen. - So jedenfalls tönt es entschieden im Kamenzer Stadttheater. Auf der Bühne sitzen vierzehn Hamburger Schüler mit Plateauturnschuhen und schwarzen Kapuzenpullovern, gelbe Reclambändchen auf ihren Pulten, und man darf vermuten, Lessing geht ihnen ziemlich auf die Nerven. Auch wir, das Publikum, sind leicht gereizt, denn es ist Freitagnachmittag, kurz nach Zwei, man hätte anderes zu tun. Der Großteil der jungen Zuschauer will abends in die Disco, da zieht man sich nicht fünf Stunden vorher einen Klassiker rein, auch keinen, den Gleichaltrige aus der Partnerschule inszenierten. Der Spielleiter spürt wohl die Atmosphäre und sagt werbend zur Begrüßung, die Aufführung habe bereits in Tel Aviv und beim Berliner Jugend-Theatertreffen Furore gemacht. Heute spielt die Truppe zum letzten Mal, die meisten der Darsteller haben ihr Abitur inzwischen bestanden, studieren oder leisten Zivildienst. Zu diesem Gastspiel konnten sie noch einmal zusammenkommen, so möchten sie sich für die Einladung bedanken.

Inzwischen hat der Bürgermeister von Kamenz Platz genommen, Lothar Kunze, ein ernster, bärtiger Mann, dem man zutraut, dass er auch als Sportler bestehen würde; Rennrodeln vielleicht, etwas zwischen Risiko suchen und Ruhe bewahren. Auch er ist einmal Abiturient gewesen, 1961, im benachbarten Bischofswerda. Da sollte er das Manuskript der Abi-Zeitung zur Zensur vorlegen, obwohl der Direktor von Vertrauen gesprochen hatte. Der machtbewusste Stellvertreter versuchte, den Schüler zu erpressen, indem er das Zeugnis zurückbehielt. Lothar Kunze bekam bei der Feierstunde ein vorläufig leeres Blatt mit der Drohung: Ich hoffe, Sie wissen, was wir unter sozialistischem Humor verstehen.

Auf den Stühlen liegt das Programmheft, es enthält die Texte der Sieger des Literaturwettbewerbs, den Stadt und Museum alljährlich für Schüler ausloben, unter einem Motto von Lessing versteht sich. Diesmal hatte es gelautet: "Wenn ich auf meiner Wanderschaft nichts lerne, so lerne ich mich doch in die Welt schicken." Im Saal haben die Teilnehmer Platz genommen mit ihren Eltern, mit Fotoapparaten und Großmüttern, die ihre Handtaschen auf den Knien fest umklammern. In der ersten Reihe gut gekleidete Männer von der sponsernden Bank und eine Lehrerin aus der Jury, die besorgt nach der Länge der Veranstaltung fragt. Die Galgenfrist der Kamenzer Parkuhren währt nur eine Stunde, strafender Blick Richtung Bürgermeister.

"Es eifre jeder seiner unbestochnen/ Von Vorurteilen freien Liebe nach!", deklamieren ironisch die jungen Hamburger auf der Bühne, die jetzt das gelbe Reclambändchen vom Tisch gefegt haben und dem Publikum zeigen, was anno 2000 eine Unterrichtsstunde ist: Verbale Selbstbehauptung, brutale muskelbetonte Angeberei. Und schließlich Gewalt, die wie der erste Impuls scheint, aber eher das Ende von etwas lange unsichtbar Gewachsenem ist. Deren alte Wurzel plötzlich alle im Saal erahnen, und die jetzt ausgegraben wird von Lessings Stück, das die Darsteller anspringt, wenn sie wahrnehmen, wer sie sind. Wahrgenommen haben sie es natürlich schon lange, aber nie zur Sprache gebracht.

Dass etwas zur Sprache bringen keine geile Sache ist, sondern harte Arbeit, das hat die Truppe während der Proben erfahren. Darstellendes Spiel gehört zum Unterrichtsangebot auf dem Lessing-Gymnasium in Hamburg. Der verantwortliche Lehrer, Gunter Mieruch, hat die Schüler ermuntert, über ihre eigenen Erfahrungen mit dem Fremden zu schreiben. So bekam das Lessing-Stück eine zweite, authentische, nicht weniger kunstvolle Ebene. Denn die Darstellerin der Recha ist Kurdin, der Tempelherr ein junger wolgadeutscher Russe, der Sultan Afganistanflüchtling. Serben, Hindu, Türken machen das ethnische Babel komplett, der einzige waschechte Hamburger sieht wie ein Ire aus.

Die Rolle der Daja ist aufgesplittet für drei Spielerinnen. Was auf dem Profitheater ein Einfall der Ästhetik wäre, hier hat es den einfachen Grund, mehr Schülern Gelegenheit zum Mitspielen zu geben. Nach einer Stunde haben wir nicht mehr das Gefühl, im Laientheater zu sitzen. Auch die Frau aus der Jury hat ihre Parkuhr vergessen. Alles ist mit einer Feinfühligkeit vorgebracht, die das professionelle High-Budget-Theater längst preisgegeben hat. Auch die ungeheure körperliche Präsenz, mit denen Schauspiel heute gern auftrumpft, ist hier eine völlig andere, ein Rätsel, das man nicht gleich zu lösen versteht.

Als wir abends bei einem Kamenzer Italiener noch zusammensitzen und die jungen Mimen wagenradgroße Pizzen verspeisen, setzt sich aus der Erzählung das Geheimnis wie ein Puzzle zusammen. Max Gerbershagen zum Beispiel ist erst vor fünf Jahren nach Deutschland gekommen. Er konnte die Sprache kaum und spricht jetzt dank der Passagen des Nathan, die ihm seine Doppelrolle zu lernen aufgab, das wahrscheinlich gehobenste Deutsch zwischen München und Hamburg. In der Aufführung glänzte er mit einer atemberaubenden Breakedance-Einlage, von der ich mich fragte, was ich da eben gesehen hatte. Nun klärt es sich auf: Max war kasachischer Landesjugendmeister im Turnen, und Breakedance ist etwas wie auf der Erde geturntes Seitpferd.

So haben alle Schüler Fähigkeiten in das Stück eingebracht, die aus einem Vorleben stammen, das ihnen manchmal selbst wie ein Stück vorkommen mag. Fast verlegen schenken sie der Aufführung ihre Erfahrung. Beiläufig, nennt es Gunter Mieruch, wohlwissend, dass Beiläufigkeit oft die jugendliche Maske für etwas ist, das noch das Ganze meint, Hingabe, ohne Rest.

Beiläufig ist auch der Gestus, mit dem Gunter Mieruch den Anteil seiner Arbeit an der immensen intellektuellen Entwicklung beschreibt, die die Theaterarbeit für die Schüler bedeutet hat. Sie haben viel gelernt. Dass jüdischer Witz kein Judenwitz ist, Toleranz keine political correctness, Gewissen nichts Effizientes. Und dass wir in rascher Zerfallszeit der für Lessing noch ewigen Werte leben.

Der Bürgermeister sieht den Zerfall der Lessingschen Werte nicht so hyperkritisch. Ich spüre, dass ihm der traditionelle Lessing lieber ist als der verwandelte. Meinen Einwand, dass die herbeigefeierte Nähe, wie sie auf Lessingtagen gepflegt wird, doch auch etwas Unverbindliches habe, nimmt er hin. Nicht lächelnd, eher zäh und schweigend.

Lothar Kunze hat so manchen Kranz, immer im Januar, zu Ehren von Lessings Geburtstag niedergelegt. Dabei zählt er nicht zu jenen, die nach dem offiziellen Teil verschwinden und die Kultur anderen überlassen. Deshalb hatte ich auch gehofft, ihn am Sonntag in der St.Annen Kirche hören zu können, dort spielt Lothar Kunze nämlich manchmal auf der Orgel. Aber an diesem Wochenende fährt er zu seinen Kindern. Überhaupt wird es das letzte Mal sein, dass ich ihn als Bürgermeister treffe. Er will nach zehn Jahren Amtszeit nicht noch mal kandidieren. Er führt mich durch das abendlich leere Rathaus, mit dem tiefroten Putz und dem venezianisch anmutenden Baustil. Er rekapituliert den Gesetzes- und Verwaltungsmarathon, den die ostdeutschen Kommunen zurücklegen mussten. Hier war es die politische Wende in einer Garnisonstadt.

Kamenz war Standort der Luftstreitkräfte und Offiziershochschule der NVA. Für einen wie Lothar Kunze war da nur am Rande Platz. Er hat als Berufsschullehrer gearbeitet, vordem als gelernter Dreher. Wahrscheinlich war er der gebildetste Arbeiter, den je eine Drehbank gesehen hat. Nach dem Wink mit dem Zaunpfahl, den sozialistischen Humor betreffend, ist Lothar Kunze zum Studium ans katholische Predigerseminar nach Erfurt gegangen. Die Priesterlaufbahn hat er jedoch verworfen, weil er nicht im Zölibat leben wollte. Die Familie war bettelarm, sechs Geschwister und die Mutter verwitwet. Gelernt hat er, was man etwas Handfestes nannte. Und davon ist etwas übriggeblieben. Lothar Kunze holt ein Modell aus dem Schrank. Mit Gips, Schraubenzieher und seiner alten MULTIMAX, Bohrmaschine hat er es gedrechselt. Eine Kugel, Wasserüberlauf und den sechseckigen Sockel, der den Oberlausitzer Städtebund symbolisiert: Bautzen, Görlitz, Löbau, Zittau, Kamenz und das heute polnische Lauban. Nach diesem Entwurf ist der Brunnen im Rathaus-Innenhof gebaut worden. "Ich bin der zweite katholische Bürgermeister, der einen Brunnen hinterlässt", sagt Lothar Kunze und weist hinaus auf einen alten Schöpfbrunnen auf dem Markt.

Elf Ratsmitglieder vertreten, wie Lothar Kunze, die CDU, neun die PDS, drei die SPD, zwei die FDP und eines die Allianz Haus und Grund. Man habe als Bürgermeister vor allem integrierend zu wirken, in der Bibel stünde ja nicht: Liebe deinen nächsten Christen, sondern deinen Nächsten. Vielleicht hat er der ewigen Journalistenfrage nach der PDS zuvorkommen wollen. Flieger seien beruflich hoch motivierte Leute, sie zählen auch heute zum kulturell aufgeschlossenen Teil der Stadt.

Wenn man spät durch Kamenz geht, hört man nichts als seine eigenen Schritte. Lessings Büste steht vor dem Museum mit den drei verschlungenen Ringen im Portal. Es ist nicht das Geburtshaus; es fiel dem großen Stadtbrand von 1842 zum Opfer. Nur eine Zeichnung bezeugt noch das Haus mit dem Weinspalier, wo Gotthold Ephraim 1729 zur Welt kam, als eines von zwölf Kindern der Pastorenfamilie Lessing. Nie, hat Heinrich Heine gesagt, sei es Lessing gelungen, den Stein (der Kunst) in Brot zu verwandeln. Deshalb hat er Kamenz auch beizeiten zwecks Anstellungssuche verlassen, so dass seine Wirkungsstätten Hamburg und Wolfenbüttel sich wahrscheinlich rascher mit seinem Namen verbinden als der kleine Ort in der Lausitz, die als Region zur Zeit bei der Deutschen Bahn dagegen protestiert, vom Fernverkehr abgehängt zu werden.

Dabei ist nichts überraschender als eine Fahrt mit dem Zug von Dresden über Radeberg, Arnsdorf, Pulsnitz, wo der Zug von Lebkuchen-Lieferwagen überholt wird und die Flüsschen Röder und Schwarze Elster sich derart kurvenreich durchs Gelände schlängeln, dass eine Entenfamilie ihren Ausflug in Reih und Glied nicht hinkriegt. Manche Bahnhöfe wirken, als sei hier soeben der Victor-Klemperer-Film gedreht worden, kulissenhaft und verlassen. Eine Schuppentür hängt aus den Angeln, manchmal sieht man in Höfen einen Alten mit den Hühnern sprechen.

Aber das habe ich womöglich einer der Geschichten aus dem Schreibwettbewerb entnommen. Oft haben die Schüler ihren Abschied von der Gegend vorweggenommen, sehen die niedrigen Stuben, schiefergedeckten Dächer und kauzigen Großväter wie zum letzten Mal. Anders ist nur Kristin: sie ist eben erst hergekommen. Aus Wuppertal, um bei den Großeltern zu leben. Das Treffen mit den Hamburgern hat sie genossen. Hier fehlen dreizehn Jahre, sagt sie. Ich kann beim Nachzählen bis 1989 nicht auf diese Zahl kommen. Später begreife ich, dass Kristin ihre eigene "Wende" hat. 1984 sind die Eltern aus der DDR ausgereist. Die Gründe? Kristin winkt ab. Sie will sich ihr Weltbild nicht von der Vergangenheit vereinnahmen lassen. Die Leute waren doch Spießer, nur politisch angepinselt. Mit den dreizehn fehlenden Jahren meint sie vor allem ihre Lehrer, das tiefsitzend Autoritäre, den Mangel an Lockerheit: dass man mal was zusammen kocht, ein Video dreht oder was auf die Beine stellt. Einer Umfrage der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft in Sachsen zufolge nennen die Eltern nach der Wichtigkeit schulischer Inhalte befragt: Kopfrechnen, Rechtschreibung, Computerbedienung, Englisch, Naturwissenschaften. Von Fächern wie Darstellendes Spiel, meint Kristin, könne man hier nur träumen.

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